Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 480



Urteilskopf

132 III 480

  54. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Verein Wohngruppe
Baselland gegen Migros Bank AG sowie Kantonsgericht Basel-Landschaft
(Staatsrechtliche Beschwerde)
  5P.260/2005 vom 28. März 2006

Regeste

  Provisorische Rechtsöffnung beim Kontokorrentkredit (Art. 82 Abs. 1
SchKG).

  Eine Schuldanerkennung kann sich aus mehreren Urkunden ergeben, wobei die
unterzeichnete auf die betragsbestimmenden direkten Bezug nehmen muss (E.
4.1). Die im Kontokorrentvertrag genannte Limite bedeutet keine
Schuldanerkennung (E. 4.2), ebenso wenig der Vertrag in Verbindung mit
Kontoauszügen (E. 4.3).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 480

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Beruht die Forderung auf einer durch öffentliche Urkunde
festgestellten oder durch Unterschrift bekräftigten Schuldanerkennung, so
kann der Gläubiger die provisorische Rechtsöffnung verlangen (Art. 82 Abs. 1
SchKG).

  4.1  Eine Schuldanerkennung im Sinn von Art. 82 Abs. 1 SchKG liegt vor,
wenn daraus der vorbehalts- und bedingungslose Wille

des Betriebenen hervorgeht, dem Betreibenden eine bestimmte oder leicht
bestimmbare Geldsumme zu zahlen (BGE 122 III 125 E. 2 S. 126). Dabei kann
sich die Schuldanerkennung auch aus einer Gesamtheit von Urkunden ergeben,
sofern die notwendigen Elemente daraus hervorgehen (BGE 106 III 97 E. 3 S.
99; 114 III 71 E. 2 S. 73). Dies bedeutet, dass die unterzeichnete Urkunde
auf die Schriftstücke, welche die Schuld betragsmässig ausweisen, klar und
unmittelbar Bezug nehmen bzw. verweisen muss (vgl. auch PANCHAUD/CAPREZ, Die
Rechtsöffnung, Zürich 1980, § 6, namentlich Ziff. 6 und 13; STAEHELIN, in:
Basler Kommentar, N. 15 zu Art. 82 SchKG).

  4.2  Für den Bankkredit im Besonderen gilt, dass ein Darlehensvertrag über
eine bestimmte Summe grundsätzlich als Rechtsöffnungstitel für die
Rückzahlung des Darlehens taugt, solange der Schuldner die Auszahlung nicht
bestreitet (STAEHELIN, a.a.O., N. 122 zu Art. 82 SchKG; PANCHAUD/CAPREZ,
a.a.O., § 77).

  Beim Kontokorrentvertrag wird demgegenüber nicht ein fester Vorschuss
gewährt; vielmehr werden hier gegenseitige Forderungen über eine
Kontokorrentrechnung abgewickelt und in periodischen Abständen verrechnet,
wobei der Saldo bis zur Verrechnung gestundet bleibt (vgl. BGE 100 III 79 E.
3 S. 83; KLEINER, Bankkonto - Giro- und Kontokorrentvertrag, in:
Innominatkontrakte, Zürich 1988, S. 275 f.). Der schwankende Saldo ist somit
das Wesensmerkmal des Kontokorrentverhältnisses, weshalb der Schuldner mit
der Unterzeichnung des Kontokorrentvertrages nach einhelliger Lehre und
Rechtsprechung keinen Schuldbetrag anerkennt (BGE 106 III 97 E. 4 S. 99 f.;
114 III 71 E. 2 S. 75; 122 III 125 E. 2c S. 128; STAEHELIN, a.a.O., N. 123
zu Art. 82 SchKG).

  Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung lässt sich nach der zitierten
Literatur und Rechtsprechung insbesondere auch aus der im
Kontokorrentvertrag genannten Limite keine Schuldanerkennung in der
betreffenden Höhe ableiten: Der Kontokorrentvertrag gehört zum Typus des
revolvierenden Kredits, bei welchem die Bank dem Kreditnehmer während einer
vertraglich vereinbarten Dauer bis zu einer bestimmten Limite immer wieder
von neuem Geld zur Verfügung stellt, wobei es grundsätzlich dem Kreditnehmer
überlassen ist, ob und in welchem Umfang er die Kreditlimite beanspruchen
will (EMCH/RENZ/ARPAGAUS, Das Schweizerische Bankgeschäft, 6. Aufl., Zürich
2004, N. 765). Steht es jedoch im Belieben des Bankkunden, ob und in welchem
Umfang er Kredit beansprucht, hat er mit

der Unterzeichnung des Kontokorrentvertrages weder eine bestimmte noch eine
bestimmbare Schuld anerkannt.

  4.3  Schliesslich hat das Bundesgericht in den erwähnten drei publizierten
Entscheiden unmissverständlich festgehalten (ebenso die Lehre: STAEHELIN,
a.a.O., N. 123 zu Art. 82 SchKG; STÜCHELI, Die Rechtsöffnung, Diss. Zürich
2000, S. 375 f.), dass sich eine Schuldanerkennung auch nicht aus der
Vereinbarung ergibt, wonach der von der Bank mitgeteilte Saldo jeweils als
anerkannt gilt, wenn nicht innert Frist Einwände erhoben werden. Der
gegenteiligen Meinung des Kantonsgerichts stehen aus rechtlicher Sicht zwei
Elemente entgegen:
  Zunächst können Kontoauszüge nicht Teil einer zur Rechtsöffnung
berechtigenden "zusammengesetzten Urkunde" sein, setzt diese doch nach dem
in E. 4.1 Gesagten voraus, dass das unterzeichnete Dokument auf die
Schriftstücke, welche die Schuld betragsmässig ausweisen, klar und
unmittelbar Bezug nimmt bzw. verweist. Eine Bezugnahme kann jedoch nur dann
konkret sein, wenn der Inhalt der verwiesenen Dokumente dem Erklärenden
bekannt und von der unterzeichneten Willensäusserung gedeckt ist. Es wäre im
Übrigen mit dem Begriff der "durch Unterschrift bekräftigten
Schuldanerkennung" unvereinbar, wenn es die Bank als Gläubigerin in der Hand
hätte, mit den von ihr einseitig ausgestellten Kontoauszügen, die
zivilprozessual nicht über eine blosse Parteibehauptung hinausgehen, den
Inhalt der "zusammengesetzten Urkunde" und damit des Rechtsöffnungstitels
frei zu gestalten.

  Sodann ist die in den AGB enthaltene Fiktion einer Saldoanerkennung, wenn
die Kontoauszüge nicht innert Frist bestritten werden, im
Rechtsöffnungsverfahren bedeutungslos: Blosses Stillschweigen kann nicht zu
einer Schuldanerkennung im Sinn einer "zusammengesetzten Urkunde" führen,
weil für die Rechtsöffnung - wie mehrmals betont - entscheidend ist, dass
die Anerkennung schriftlich erfolgt und insbesondere auch die anerkannte
Summe vom Schrifterfordernis gedeckt ist.

Erwägung 5

  5.  Die vorinstanzlichen Erwägungen sind mit dem Gesetzeswortlaut von Art.
82 Abs. 1 SchKG unvereinbar und stehen in Widerspruch zur einhelligen Lehre
und Rechtsprechung. Das angefochtene Urteil hält deshalb schon im Grundsatz
nicht vor dem Willkürverbot stand, erweist sich aber auch im Ergebnis als
willkürlich, weil die (nicht auf rechtlichen, sondern ausschliesslich auf
wirtschaftlichen

Überlegungen fussende) Begründung des Kantonsgerichts für seine abweichende
Rechtsprechung nicht stichhaltig ist:
  Der Behauptung, das Kontokorrentgeschäft der Banken würde stark behindert,
bzw. dem sinngemässen Bedenken, keine Bank wäre mehr bereit, in dieser Form
Kredit zu gewähren, wenn sie für den ausstehenden Saldo den ordentlichen
Rechtsweg beschreiten müsste, ist entgegenzuhalten, dass das
Rechtsöffnungsverfahren im europäischen Rechtsraum ein Unikum darstellt und
in allen umliegenden Ländern die Zwangsvollstreckung von Geldforderungen ein
vorgängiges materielles Erkenntnisverfahren voraussetzt (vgl. SCHWANDER, Zu
den verschiedenen Funktionen der Rechtsöffnung, in: Schuldbetreibung und
Konkurs im Wandel, Basel 2000, S. 379 oben).

  Im Übrigen hätte es der Bank freigestanden, sich vom Beschwerdeführer eine
Richtigbefundsanzeige unterzeichnen zu lassen und gestützt hierauf - die in
diesem Zusammenhang bislang nicht höchstrichterlich entschiedenen Fragen
betreffend Saldierung bzw. Weiterführung des Kontokorrentverhältnisses
können angesichts der vorstehenden Resultate offen bleiben - Rechtsöffnung
zu verlangen (STAEHELIN, a.a.O., N. 123 zu Art. 82 SchKG; PANCHAUD/CAPREZ,
a.a.O., § 84); diese Möglichkeit ist den Geschäftsbanken angesichts der
jahrzehntelangen einheitlichen Praxis der schweizerischen Gerichte im
Kontokorrentbereich denn auch bestens bekannt.