Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 264



Urteilskopf

132 III 264

  31. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y.
Versicherung (Berufung)
  5C.168/2005 vom 23. Januar 2006

Regeste

  Vertragsänderung und Neuabschluss beim Versicherungsvertrag.

  Das Ausfüllen einer neuen Gesundheitsdeklaration deutet auf den Abschluss
eines neuen Versicherungsvertrages (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 264

  A.- Im Jahr 1992 schloss X., Jahrgang 1961, mit der Y. Versicherung eine
gemischte Lebensversicherung (Erlebens- und Todesfall) mit
Erwerbsausfallrente ab. Im detaillierten Fragenkatalog zum
Gesundheitszustand gab X. u.a. an "Rheumaschub 1-2 x jährl. sonst i.O. Dr.
Z." sowie "Kaiserschnitt 1982 Geburt Tochter Alles i.O.".

  Im Jahr 1995 wurden unter Beibehaltung der versicherten Ereignisse die
Versicherungssummen erhöht. 1996 wurde die Versicherung bei gleichbleibenden
Summen auf das Ereignis des Unfalltodes ausgeweitet. In diesem Zusammenhang
füllte X. wiederum einen Fragenkatalog aus, wobei sich die Fragen zum
Gesundheitszustand auf die letzten zehn Jahre beschränkten. Im Rahmen der
erweiterten Versicherungsdeckung wurden 1998 wiederum die
Versicherungssummen erhöht. Die Versicherungsverträge wurden stets unter der
gleichen Nummer geführt.

  B.- Nachdem X. invalid geworden war, trat die Y. Versicherung am 10.
Oktober 2003 vom Vertrag zurück, indem sie sich auf Art. 6

VVG (SR 221.229.1) berief und geltend machte, X. habe 1992 im Fragenkatalog
nicht erwähnt, dass sie im Alter von 16 Jahren während sechs Monaten
hospitalisiert gewesen sei. Es handelt sich dabei um einen längeren
Aufenthalt (die genaue Dauer blieb im kantonalen Verfahren umstritten) aus
dem Jahr 1977 wegen Wachstumsstörungen bzw. "dicken Knien".

  C.- Mit Klage vom 7. Juli 2004 stellte X. die Begehren, der von der Y.
Versicherung erklärte Rücktritt sei für ungültig und diese für pflichtig zu
erklären, ihr die geschuldeten Leistungen auszurichten.

  Mit Urteil vom 25. April 2005 wies das Handelsgericht des Kantons Aargau
die Klage ab.

  D.- Gegen dieses Urteil hat X. am 27. Juni 2005 Berufung eingereicht mit
dem Begehren um Gutheissung der Klage. In ihrer Antwort vom 23. September
2005 hat die Y. Versicherung auf Abweisung der Berufung geschlossen.

  Das Bundesgericht heisst die Berufung gut und hebt das angefochtene Urteil
auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Zwischen den Parteien ist strittig, ob in den Jahren 1995, 1996 und
1998 jeweils ein neuer Versicherungsvertrag abgeschlossen (Klägerin) oder
lediglich der ursprüngliche vom 20. Februar 1992 modifiziert worden ist
(Beklagte). Letzterenfalls wäre der zeitlich nicht limitierte Fragenkatalog
vom 19. Februar 1992, auf dessen Basis die Beklagte mit Bezug auf den
verschwiegenen Spitalaufenthalt im Jahr 1977 eine Anzeigepflichtverletzung
behauptet hat, nach wie vor verbindlich.

  2.1  Die Abgrenzung zwischen Abschluss eines neuen Versicherungsvertrages
und blosser Änderung des bestehenden Vertrages kann im Einzelfall schwierig
sein. Um einen Neuabschluss handelt es sich regelmässig, wenn der
Vertragsgegenstand wesentliche Änderungen erfahren hat, namentlich wenn die
versicherten Risiken ausgedehnt worden sind (vgl. STOESSEL, in: Basler
Kommentar, Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, N. 12 zu Art. 2 VVG;
CARRÉ, Loi fédérale sur le contrat d'assurance, Lausanne 2000, S. 117).
Desgleichen deutet die Änderung der Laufzeit der Versicherung auf einen
neuen Vertrag hin (PRÖLSS/MARTIN, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl.,
München 2004, N. 7 zu § 3 deutsches VVG; vgl. auch MAURER, Schweizerisches
Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., Bern

1995, S. 228). Als blosse Vertragsänderungen werden demgegenüber die
Herabsetzung der Versicherungssumme, aber auch die Einschränkung der
versicherten Risiken angesehen, namentlich der Wechsel von einer Voll- zur
Teilkaskoversicherung (BGE 120 II 133 E. 4b S. 135; STOESSEL, a.a.O., N. 14
zu Art. 2 VVG; CARRÉ, a.a.O., S. 117).

  Umstritten ist die Einordnung der sog. Nachversicherung: Sie fällt kraft
ausdrücklicher Gesetzesbestimmung (Art. 2 Abs. 3 VVG) nicht unter Art. 2
VVG; vielmehr kommt hier Art. 1 VVG zur Anwendung (STOESSEL, a.a.O., N. 16
zu Art. 2 VVG). Während ein Teil der Lehre deshalb einen neuen Vertrag
annimmt (ROELLI, Kommentar zum VVG, Bd. I, Bern 1914, S. 44), geht ein
anderer Teil dennoch von einer blossen Vertragsänderung aus mit der
Begründung, der Parteiwille sei nicht auf einen Neuabschluss gerichtet
(ROELLI/KELLER/ TÄNNLER, Kommentar zum VVG, Bd. I, Bern 1968, S. 58). Wie es
sich mit den beiden Nachversicherungen aus den Jahren 1995 und 1998 verhält,
kann vorliegend offen gelassen werden, weil die Klage ohnehin aus einem
anderen Grund gutzuheissen ist (nachfolgend E. 2.2).

  2.2  Im Unterschied zu den Jahren 1995 und 1998 wurden 1996 nicht die
Versicherungssummen erhöht, sondern die versicherten Risiken erweitert,
indem am 6. Februar 1996 der Unfalltod als versichertes Ereignis
miteingeschlossen wurde. In diesem Zusammenhang musste die Klägerin eine
neue Gesundheitsdeklaration ausfüllen. Nun gehört aber die Anzeigepflicht
nach der Marginalie zu Art. 4 Abs. 1 VVG zu den Obliegenheiten des
Versicherungsnehmers im Vorfeld des Vertragsabschlusses (vgl. auch NEF, in:
Basler Kommentar, Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, Basel 2001, N.
7 zu Art. 4 VVG); nach Ziff. 4.1 der ins Recht gelegten AGB der Beklagten
beschränkt sich die Befreiung von der Gesundheitsdeklaration denn auch
ausdrücklich auf die Nachversicherung. Sodann sind aus den Akten keine
Anhaltspunkte ersichtlich, wonach die Gefahrendeklaration sich nicht auf den
Versicherungsvertrag als solchen bezogen, sondern auf das neue Risiko des
Unfalltodes beschränkt hätte, im Gegenteil, machte doch die Beklagte die
Gültigkeit des Vertrages in der von ihr vorformulierten Risikodeklaration
explizit von der Richtigkeit und Vollständigkeit der klägerischen Angaben
abhängig. Dabei verwies sie auf Art. 6 VVG, der seinerseits von der
Anzeigepflichtverletzung beim Abschluss des Vertrages spricht.

  Nach dem Vertrauensprinzip, das vom Bundesgericht im Berufungsverfahren
als Rechtsfrage frei überprüft wird (BGE 130 III 686 E. 4.3.1 S. 689),
können diese Erklärungen der Beklagten nicht anders denn als
Willensäusserung zum Abschluss eines neuen Vertrages interpretiert werden.
In objektiver Hinsicht spiegelt sich dieser Abschlusswille schliesslich in
der Versicherungspolice vom 6. Februar 1996, die nach der Erklärung der
Beklagten den bisherigen Versicherungsvertrag (nicht: die bisherige
Versicherungspolice) ersetze.

  Kein anderes Resultat ergäbe sich im Übrigen, wenn man die aktenkundigen
Erklärungen der Beklagten nicht nach dem Vertrauensprinzip als
Willensäusserung zum Neuabschluss interpretieren, sondern die Auffassung
vertreten würde, dass sich diese in guten Treuen verschieden, d.h. auch als
Willenskundgabe zur blossen Vertragsänderung verstehen lassen: Diesfalls
würde der Grundsatz in dubio contra stipulatorem greifen und die Beklagte
müsste sich die für sie ungünstige Auslegungsvariante entgegenhalten lassen
(BGE 122 III 118 E. 2a S. 121; 124 III 155 E. 1b S. 158 f.); sie hätte es
denn auch in der Hand gehabt, ihren angeblichen Willen zur blossen
Vertragsänderung durch entsprechende Formulierungen gegen aussen
unzweideutig zu bekunden.

  2.3  Haben die Parteien nach dem Gesagten am 6. Februar 1996 einen neuen
Versicherungsvertrag geschlossen, so ist die Risikodeklaration aus dem Jahr
1992 hierfür nicht von Belang; relevant ist allein diejenige vom 29. Januar
1996, bei welcher die Beklagte lediglich für die letzten zehn Jahre Auskunft
verlangte. Entsprechend kann es der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen,
wenn sie die Hospitalisation im Jahr 1977 nicht erwähnt hat.