Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 115



Urteilskopf

132 III 115

  15. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. gegen A. AG
(Berufung)
  4C.215/2005 vom 20. Dezember 2005

Regeste

  Art. 336 und 328 OR; missbräuchliche Kündigung; Fürsorgepflicht des
Arbeitgebers.

  Voraussetzungen, unter denen eine Kündigung missbräuchlich ist (E. 2).

  Wer einem Arbeitnehmer nach 44 klaglosen Dienstjahren, wenige Monate vor
der Pensionierung ohne betriebliche Notwendigkeit und ohne nach einer
sozialverträglicheren Lösung gesucht zu haben, kündigt, verletzt seine
Fürsorgepflicht und handelt missbräuchlich (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 115

  X. (Kläger) ist Heizungsmonteur. Er arbeitete seit 1958 ununterbrochen bei
der A. AG (Beklagte). Er hatte die Absicht, Ende Mai 2003 bei Erreichen von
45 Dienstjahren in Pension zu gehen, 4 Monate vor dem Eintritt ins
AHV-Alter. Kurz vor dem Ende seines

44. Dienstjahres wurde ihm mit Schreiben vom 25. April 2002 per 31. Juli
2002 unter sofortiger Freistellung gekündigt. Auf Verlangen des Klägers
begründete die Beklagte die Kündigung mit Schreiben vom 22. Mai 2002 wie
folgt:

   "Wie wir Ihnen bereits mündlich mitgeteilt haben, ist Ihre ständige
    negative Einstellung neuen Projekten gegenüber nicht nur für Ihre
    Vorgesetzten, sondern auch für die anderen Mitarbeiter sehr
    demotivierend. Als Beispiel unter anderen sei hier das neue Vorgehen bei
    der Erfassung der produktiven Stunden ab Regierapport erwähnt.

    Der, aufgrund der mit Ihrem Vorgesetzten vereinbarten Ziele für das
    Jahr 2001, erreichte persönliche Bonus von 6.2 % spricht nicht für
    eine sehr gute Ausführung Ihrer Arbeit.

    Die praktische Anwendung der Jahresarbeitszeitregelung gemäss Art. 5
    der Arbeitsvertraglichen Bestimmungen für die Gesellschaften der A. in
    der Schweiz (Art. 25.1 und folgende des GAV im Schweizerischen
    Heizungs-, Klima-, Lüftungs-, Spenglerei- und
    Sanitärinstallationsgewerbe) wird von Ihnen auch bestritten."

  Der Kläger akzeptierte die Kündigung nicht und verlangte von der Beklagten
unter anderem eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung (Art. 336
und 336a OR). Während das erstinstanzliche Gericht die Missbräuchlichkeit im
Sinne von Art. 336 Abs. 1 lit. a OR für gegeben erachtete, war der
Appellationshof des Obergerichts des Kantons Bern der Auffassung,
ausschlaggebend für die Kündigung sei das schlechte Verhältnis zwischen dem
Kläger und einem Vorgesetzten gewesen. Der Kläger habe demgegenüber nicht
nachweisen können, dass sein Alter Grund der Kündigung gewesen sei. Daher
liege keine missbräuchliche Kündigung vor.

  Die gegen dieses Urteil vom Kläger erhobene Berufung heisst das
Bundesgericht gut und spricht ihm eine Entschädigung von sechs Monatslöhnen
zu.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.

  2.1  Für die Rechtmässigkeit einer Kündigung bedarf es grundsätzlich
keiner besonderen Gründe, da das schweizerische Arbeitsrecht vom Prinzip der
Kündigungsfreiheit ausgeht (BGE 131 III 535 E. 4.1 S. 538; 127 III 86 E. 2a
S. 88; 125 III 70 E. 2a S. 72). Missbräuchlich ist die Kündigung nur, wenn
sie aus bestimmten unzulässigen Gründen ausgesprochen wird, welche in Art.
336 OR umschrieben werden, wobei diese Aufzählung nicht abschliessend ist.

Sie konkretisiert vielmehr das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot und
gestaltet dieses mit für den Arbeitsvertrag geeigneten Rechtsfolgen aus. Es
sind deshalb - neben den in Art. 336 OR aufgeführten - weitere Tatbestände
ohne weiteres denkbar und vom Bundesgericht auch schon mehrfach anerkannt
worden (BGE 131 III 535 E. 4.2 S. 538; 125 III 70 E. 2a S. 72 mit
Hinweisen). Der Vorwurf der Missbräuchlichkeit setzt indessen voraus, dass
die geltend gemachten Gründe eine Schwere aufweisen, die mit jener der in
Art. 336 OR ausdrücklich aufgeführten vergleichbar ist (BGE 131 III 535 E.
4.2 S. 538 mit Hinweis; 123 III 246 E. 3b S. 251).

  2.2  Der Missbrauch einer Kündigung kann sich nicht nur aus den
Kündigungsmotiven, sondern auch aus der Art und Weise ergeben, wie die
kündigende Partei ihr Recht ausübt. Selbst wenn eine Partei die Kündigung
rechtmässig erklärt, muss sie das Gebot schonender Rechtsausübung beachten.
Sie darf insbesondere kein falsches und verdecktes Spiel treiben, das Treu
und Glauben krass widerspricht (BGE 131 III 535 E. 4.2 S. 538 f.; 125 III 70
E. 2b S. 73; 118 II 157 E. 4b/bb S. 166 f.). Ein krass vertragswidriges
Verhalten, namentlich eine schwere Persönlichkeitsverletzung im Umfeld einer
Kündigung, kann diese als missbräuchlich erscheinen lassen. Zu beachten ist
nämlich, dass der Arbeitgeber gemäss Art. 328 OR verpflichtet ist, die
Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen. Er hat
sich jedes durch den Arbeitsvertrag nicht gerechtfertigten Eingriffs in die
Persönlichkeitsrechte zu enthalten und diese auch gegen Eingriffe
Vorgesetzter, Mitarbeiter oder Dritter zu schützen. Diese Fürsorgepflichten
bilden das Korrelat der Treuepflicht des Arbeitnehmers (Art. 321a OR;
REHBINDER, Berner Kommentar, N. 1 f. zu Art. 328 OR; VISCHER, Der
Arbeitsvertrag, Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII/4, 3. Aufl., S. 168).
Daraus hat das Bundesgericht abgeleitet, dass eine Kündigung nicht
missbräuchlich ist, wenn wegen des schwierigen Charakters eines
Arbeitnehmers eine konfliktgeladene Situation am Arbeitsplatz entstanden
ist, die sich schädlich auf die gemeinsame Arbeit auswirkt, und wenn der
Arbeitgeber zuvor sämtliche ihm zumutbaren Vorkehren getroffen hat, um den
Konflikt zu entschärfen. Hat sich der Arbeitgeber nicht oder ungenügend um
die Lösung des Konflikts bemüht, ist er seiner Fürsorgepflicht nicht
hinreichend nachgekommen, weshalb sich die Kündigung als missbräuchlich
erweist (BGE 125 III 70 E. 2c S. 74; Urteile des Bundesgerichts 4C.189/2003
vom 23. September 2003, E. 5.1 und 5.2 mit Hinweisen;

4C.253/2001 vom 18. Dezember 2001, E. 2 und 3, wo eine späte Ermahnung an
nur eine der am Konflikt beteiligten Personen als ungenügende Massnahme
erachtet wurde).

  2.3  Demgegenüber genügt ein bloss unanständiges, einem geordneten
Geschäftsverkehr unwürdiges Verhalten des Arbeitgebers nicht, um die
Kündigung als missbräuchlich erscheinen zu lassen. Es ist nicht Aufgabe der
Rechtsordnung, bloss unanständiges Verhalten zu sanktionieren (BGE 131 III
535 E. 4.2 S. 539; Urteil 4C.234/2001 vom 10. Dezember 2001, E. 3 nicht
publ. in BGE 128 III 129, aber publ. in SJ 2002 I S. 389 ff.).

  2.4  Allgemein kann Rechtsmissbrauch nach Art. 2 ZGB bei krassem
Missverhältnis der Interessen vorliegen, namentlich wenn bereits die
auszulegende gesetzliche Norm auf eine gewisse Interessenproportionalität
abzielt (MERZ, Berner Kommentar, N. 371 zu Art. 2 ZGB). So verhält es sich
bei Art. 336 OR, geht es doch bei der rechtsmissbräuchlichen Kündigung des
Einzelarbeitsvertrages um eine gesetzliche Beschränkung der
Vertragsfreiheit, um das Interesse der Gegenpartei an der Aufrechterhaltung
des Arbeitsvertrages zu wahren. Im Vordergrund steht der Sozialschutz des
Arbeitnehmers vor ungerechtfertigter Auflösung des Arbeitsverhältnisses
(STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 2 und 4 zu Art. 336 OR). Die Ausübung des
an und für sich bestehenden Rechts zur Kündigung wird eingeschränkt, wenn
diese zu einem sozial stossenden Missverhältnis der Interessen führen würde
(vgl. BAUMANN, Zürcher Kommentar, N. 302 zu Art. 2 ZGB). Die Frage, ob eine
arbeitgeberseitige Kündigung nach Art. 336 OR verpönt ist, lässt sich auch
unter dem Blickwinkel zweckwidriger Rechtsausübung beantworten. So kann etwa
eine aus blosser persönlicher Annehmlichkeit ausgesprochene Kündigung
ebenfalls missbräuchlich sein (BGE 131 III 535 E. 4.2 S. 540 mit Hinweisen).

  2.5  Schliesslich setzt die Beantwortung der Frage, ob eine Kündigung
missbräuchlich ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles
voraus (BGE 131 III 535 E. 4.2 S. 540; Urteil des Bundesgerichts 4C.174/2004
vom 5. August 2004, E. 2.5).

Erwägung 3

  3.  Nach Ansicht des Klägers erfolgte die Kündigung missbräuchlich. Der
Kläger sei für die innerbetriebliche Kritik an den teilweise dem
Arbeitsrecht widersprechenden Massnahmen zur Produktivitätssteigerung
eingestanden. Er habe sich deshalb gegen den vorgesetzten Serviceleiter
gestellt, welcher schliesslich die Kündigung

veranlasst habe. Es liege deshalb eine Rachekündigung im Sinne von Art. 336
Abs. 1 lit. d OR vor. Ausserdem sei die Beklagte bei der Kündigung auf eine
persönlichkeitsverletzende Weise vorgegangen, was die Kündigung ebenfalls
als missbräuchlich ausweise. Ferner habe es die Vorinstanz
bundesrechtswidrig unterlassen, die Umstände der Kündigung gesamthaft zu
würdigen. Die durch das Verhalten des Klägers in keiner Weise
gerechtfertigte Kündigung mit sofortiger Freistellung nach lebenslanger
Treue gegenüber derselben Arbeitgeberin mit gravierenden Folgen für den
Kläger rufe nach einer maximalen Entschädigung von sechs Monatslöhnen bzw.
Fr. 35'171.- nebst Zins.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Den Ausschlag für die Kündigung gab nach dem angefochtenen Urteil zum
einen das schlechte Verhältnis des Klägers zum übergeordneten, dem Kläger
aber nicht direkt vorgesetzten Serviceleiter, der schliesslich die Kündigung
des Klägers veranlasste, und zum anderen die kritische Haltung, welche der
Kläger gegenüber Massnahmen zur Produktivitätssteigerung einnahm.

  4.1.1  Die Vorinstanz hielt im Einzelnen in tatsächlicher Hinsicht, mithin
für das Bundesgericht verbindlich (Art. 63 Abs. 2 OG), fest, der Kläger habe
sich - ebenso wie andere Mitarbeiter - gewissen Neuerungen gegenüber
kritisch geäussert. Das Hinterfragen von Neuerungen über längere Zeit sei
den Vorgesetzten teilweise lästig gewesen. Zur Hauptsache sei es darum
gegangen, dass die Geschäftsleitung im Bestreben, die unproduktiven
Arbeitsstunden zu minimieren, von den Mitarbeitern verlangt habe, Hand dazu
zu bieten, bei fehlender Auslastung nicht zu arbeiten und bei Hochbetrieb
Überstunden zu leisten. Der Kläger habe diese Vorgaben nicht immer umsetzen
können und auch unproduktive Stunden rapportiert, ohne aber je ausdrückliche
Weisungen verletzt zu haben. Nach dem erstinstanzlichen Urteil, auf welches
die Vorinstanz integral verweist, soweit sie nicht zu anderen eigenen
Schlüssen gelangt, bildete die Thematik der unproduktiven Stunden auch nach
dem Austritt des Klägers Streitpunkt im Betrieb und bereitete sämtlichen
Mitarbeitern Probleme. Nach Auffassung der Vorinstanz ist fraglich, ob sich
die angestrebte Rationalisierungsmassnahme hätte durchsetzen lassen, da das
Arbeitsvertrags- und das Arbeitsrecht derartige Regelungen nur in engen
Grenzen zulasse, weshalb die kritische Haltung des Klägers bis zu einem
gewissen Grade verständlich sei.

  4.1.2  Was das schlechte Verhältnis des Klägers zum Serviceleiter
anbelangt, hob die Vorinstanz hervor, dass auch andere Arbeiter mit der Art
dieses Vorgesetzten Mühe bekundet hätten.

  4.1.3  Im Übrigen hielt die Vorinstanz fest, es seien weder unkollegiales
noch demotivierendes Verhalten des Klägers nachgewiesen. Dieser habe
grundsätzlich gute Leistungen erbracht. Seinen im Vergleich zu jüngeren
Arbeitnehmern langsameren Arbeitsrhythmus habe er teilweise durch grössere
Erfahrung wettgemacht. Die im letzten Arbeitsjahr geleistete
unterdurchschnittliche Anzahl produktiver Stunden sei für die Kündigung
nicht kausal gewesen. Wirtschaftliche Gründe, wie sie die Beklagte im
Verfahren behauptet habe, seien nicht dargetan.

  4.2  Die Vorinstanz hielt zusammenfassend fest, es sei zwar moralisch
verwerflich, einem 63-jährigen Angestellten im 44. Dienstjahr unter
sofortiger Freistellung 14 Monate vor der ordentlichen Pensionierung ohne
vorherige Anhörung zu kündigen, ohne unter Einbezug des Personaldienstes
nach einem einvernehmlichen Ausweg gesucht zu haben. Mangels klaren Grundes
schloss die Vorinstanz jedoch nicht auf die Missbräuchlichkeit der
Kündigung.

Erwägung 5

  5.  Mit dieser Einschätzung verkennt die Vorinstanz die Rechtslage.

  5.1  Die Vorinstanz übersah, dass die Beklagte ihre Fürsorgepflicht nach
Art. 328 Abs. 1 OR verletzt hat, wenn sie den Kläger auf Betreiben des
Serviceleiters ohne weiteres entliess, weil sich der Kläger mit diesem nicht
verstand. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, dass sich die
Beklagte vorgängig auch nur ansatzweise darum bemüht hätte, das Verhältnis
unter den genannten Personen zu entspannen. Die Feststellung der Vorinstanz,
dem Kläger sei ohne jede Vorwarnung gekündigt worden, kann nur bedeuten,
dass in dieser Hinsicht gar nichts unternommen wurde. Ein Lösungsversuch
wäre indessen umso mehr angezeigt gewesen, als auch andere Arbeitnehmer mit
dem Verhalten des betreffenden Serviceleiters Schwierigkeiten bekundeten. Da
dieser dem Kläger nicht unmittelbar vorgesetzt war, erscheint darüber hinaus
die Vermutung berechtigt, dass geeignete Massnahmen eine Lösung hätten
bewirken können. Bereits in dieser Hinsicht erweist sich die Kündigung daher
als klar missbräuchlich (vgl. E. 2.2 hiervor).

  5.2  Was sodann die Massnahmen zur Steigerung der Produktivität anbelangt,
führte die Vorinstanz aus, die Rechtmässigkeit der damit verbundenen
Anforderungen an die Mitarbeiter sei fraglich. Wenn

aber bereits der Appellationshof die Zulässigkeit der eingeführten
Massnahmen in Frage stellt, muss auch dem Kläger - insoweit übrigens im
Einklang mit anderen Arbeitnehmern - zugestanden werden, an der neuen
Regelung der Stundenerfassung Anstoss zu nehmen. Es erscheint sogar
zweifelhaft, ob der Kläger verpflichtet gewesen wäre, entsprechende
Weisungen zu befolgen, denn dazu ist vorausgesetzt, dass diese rechtmässig
sind (vgl. REHBINDER, a.a.O., N. 36 zu Art. 321d OR; MARIE-LOUISE STAMM, Das
Weisungsrecht des Arbeitgebers und seine Schranken, Diss. Basel 1977, S. 116
ff.), also weder Verpflichtungen enthalten, die den vertraglichen Rahmen
sprengen (SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 14 zu Art. 321d OR;
REHBINDER, a.a.O., N. 38 zu Art. 321d OR; WYLER, Droit du travail, S. 97 f.;
MARIE-LOUISE STAMM, a.a.O., S. 67 f.), noch die Persönlichkeitsrechte des
Arbeitnehmers verletzen (Urteil des Bundesgerichts 4C.357/2002 vom 4. April
2003, E. 4.1; SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, a.a.O., N. 18 f. zu Art. 321d OR;
STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl. 1992, N. 3
zu Art. 321d OR). Dem Kläger, der sich den die Produktivitätssteigerung
bezweckenden Weisungen zwar unterzog, aber dagegen remonstrierte, ist
jedenfalls zugute zu halten, dass er sich in guten Treuen auf Ansprüche aus
dem Arbeitsverhältnis berief. Soweit die Kündigung deswegen erfolgte,
erfüllt sie den Missbrauchstatbestand der Rachekündigung im Sinne von Art.
336 lit. d OR (Jahrbuch des schweizerischen Arbeitsrechts [JAR] 1992 S. 239
f.; STAEHELIN, a.a.O., N. 24 zu Art. 336 OR; vgl. auch die weiteren
Beispiele bei REHBINDER/PORTMANN, Basler Kommentar, 3. Aufl., N. 14 zu Art.
336 OR).

  5.3  Hinzu kommt, dass gegenüber einem Arbeitnehmer, der sein gesamtes
Arbeitsleben (vorliegend 44 Jahre) im Wesentlichen klaglos für eine einzige
Arbeitgeberin tätig war, eine erhöhte Fürsorgepflicht gilt. Dazu gehört die
Sorge dafür, einem wenige Monate vor der ordentlichen Pensionierung
stehenden Arbeitnehmer zu ermöglichen, seine Arbeitstätigkeit ohne
finanzielle Einbussen zu beenden, sofern nicht gewichtige Gründe nach einer
anderen Beendigung des Arbeitsverhältnisses rufen.

  5.4  Darüber hinaus hat die Beklagte das Gebot schonender Rechtsausübung
krass verletzt, indem sie den Kläger, ohne jegliches Vorgespräch und ohne
auch nur den Versuch einer sozial verträglicheren Lösung zu unternehmen,
unter sofortiger Freistellung entliess. Die Vorinstanz verkannte, dass die
jahrzehntelange Treue des Klägers

für denselben Betrieb auch die Fürsorgepflicht der Beklagten erhöhte. Sollte
sich eine Kündigung wenige Monate vor der ohnehin geplanten Pensionierung im
45. Anstellungsjahr tatsächlich als unumgänglich erweisen, wäre die Beklagte
in erhöhtem Masse zu schonendem Vorgehen bei der Kündigung gehalten gewesen.
Auch diese aus Art. 2 ZGB abgeleitete Pflicht hat die Beklagte missachtet
(E. 2.2 hiervor).

  5.5  Schliesslich ist auch die Rechtsmissbräuchlichkeit der Kündigung
aufgrund des krassen Missverhältnisses der auf dem Spiele stehenden
Interessen offenkundig (E. 2.4 hiervor). Dem eminenten Interesse an der
Aufrechterhaltung des Arbeitsvertrages des Klägers, dem es angesichts seines
Alters kaum gelingen dürfte, eine andere Anstellung zu finden, und der mit
Einbussen bei den Einkommensersatzleistungen zu rechnen haben wird, steht
nach dem Gesagten kein schützenswertes Interesse der Beklagten gegenüber.

  5.6  Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beklagte mit der
ausgesprochenen Kündigung als solcher wie auch mit der Art und Weise massiv
gegen gesetzliche Fürsorge- und Treuepflichten verstossen hat. Vor diesem
Hintergrund bleibt die Frage, welche Rolle das Alter des Klägers bei der
Kündigung spielte, ohne Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens. So oder
anders ist angesichts der Anzahl und des Gewichts der Pflichtverstösse der
Beklagten wie auch der einschneidenden Wirkungen der Kündigung für den
Kläger eine maximale Entschädigung von sechs Monatslöhnen am Platze (Art.
336a Abs. 1 und 2 OR), damit sie sowohl ihrem Straf- als auch
Genugtuungszweck gerecht wird (BGE 123 III 391 E. 3b/cc und 3c S. 393 f.).
Das Eventualbegehren des Klägers auf Zusprechung einer Genugtuung wird damit
gegenstandslos.