Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 483



Urteilskopf

131 V 483

  62. Auszug aus dem Urteil i.S. K. gegen Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn
  U 266/04 vom 28. September 2005

Regeste

  Art. 61 Ingress und lit. h ATSG; Art. 34 ff., Art. 61 Abs. 2 und 3 VwVG:
Unterschriftserfordernis auf Zwischenverfügungen betreffend unentgeltliche
Verbeiständung.

  Die fehlende Unterschrift des als Einzelrichter entscheidenden Präsidenten
eines kantonalen Versicherungsgerichts auf der Zwischenverfügung, mit
welcher er das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung in einem Streit um
Leistungen der Unfallversicherung ablehnt, stellt einen nicht heilbaren
Formmangel dar. (Erw. 2.2.2)

Sachverhalt

  A.- Der 1954 geborene K. erlitt am 29. Januar 2001 und am 27. Januar 2002
je einen Verkehrsunfall. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) anerkannte die Leistungspflicht. Mit Verfügung vom 23. Januar 2003
stellte die SUVA die Leistungen ab 29. Oktober 2002 (Heilbehandlung) und 18.
November 2002 (Taggeld) ein. Mit einer weiteren Verfügung vom 1. April 2003
sprach die Anstalt K. für die Folgen des Unfalles vom 29. Januar 2001 eine
Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 20 % sowie
eine Integritätsentschädigung von 10 % zu. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 23. Dezember 2003 fest.

  B.- K. liess durch Rechtsanwalt W. beim Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn Beschwerde einreichen und beantragen, der Einspracheentscheid vom
23. Dezember 2003 sei aufzuheben und es seien ihm die gesetzlichen
Leistungen auszurichten; im Weitern sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege
zu gewähren.

  Nach Vernehmlassung der SUVA erliess der Präsident des
Versicherungsgerichts am 3. August 2004 eine Verfügung, mit welcher er u.a.
das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege in Form der Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes im gegenwärtigen Zeitpunkt zufolge
Aussichtslosigkeit der Beschwerde ablehnte (Dispositiv-Ziffer 2).

  C.- K. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
in Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 2 der Verfügung vom 3. August 2004 sei
ihm für das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht die
unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu gewähren. Im Weitern
ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht.

  Das kantonale Versicherungsgericht beantragt die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

  D.- Auf Ersuchen des Instruktionsrichters hat das kantonale
Versicherungsgericht u.a. dazu Stellung genommen, dass die Verfügung

vom 3. August 2004 einzig vom Gerichtsschreiber unterzeichnet ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Bevor auf die materiellen Vorbringen gegen die Verfügung vom 3. August
2004 einzugehen ist, stellt sich die Frage, ob dieses Erkenntnis den
gesetzlichen Formerfordernissen genügt.

  Die Verfügung vom 3. August 2004 ist einzig vom Gerichtsschreiber
unterzeichnet. In seiner Stellungnahme vom 18. August 2005 lässt der
Präsident erklären, der Entscheid sei von ihm erlassen und in seinem Auftrag
vom Gerichtsschreiber unterzeichnet worden.

  2.1  Nach Art. 61 Satz 1 ATSG bestimmt sich das Verfahren vor dem
kantonalen Versicherungsgericht unter Vorbehalt von Artikel 1 Absatz 3 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG) nach kantonalem
Recht. Es hat den in lit. a-i genannten Anforderungen zu genügen. Gemäss
lit. h werden die Entscheide, versehen mit einer Begründung und einer
Rechtsmittelbelehrung sowie mit den Namen der Mitglieder des
Versicherungsgerichts, schriftlich eröffnet.

  Laut Art. 1 Abs. 3 VwVG finden auf das Verfahren letzter kantonaler
Instanzen, die gestützt auf öffentliches Recht des Bundes nicht endgültig
verfügen, lediglich u.a. die Art. 34-38 und 61 Abs. 2 und 3 über die
Eröffnung von Verfügungen Anwendung.

  2.2  Nach dem einschlägigen solothurnischen Recht wird für jeden Prozess,
auch vor dem kantonalen Versicherungsgericht, ein Aktenheft und über jede
Verhandlung ein Protokoll geführt, das u.a. die richterlichen Entscheidungen
enthält. Die Verhandlungsprotokolle sind in ein zusammenhängendes
Sitzungsprotokoll einzutragen, wobei eine Kopie dem Aktenheft beizugeben
ist. Die Protokolle sind vom Vorsitzenden und vom Gerichtsschreiber zu
unterzeichnen, Abschriften und Auszüge vom Gerichtsschreiber allein (vgl. §
1 Abs. 3 der Verordnung vom 22. September 1987 über das Verfahren vor dem
Versicherungsgericht und [...] [BGS 125.922], § 40 Abs. 1 lit. c und § 58
des Gesetzes vom 15. November 1970 über den Rechtsschutz in
Verwaltungssachen [BGS 124.11], § 65 des Gesetzes vom 13. März 1977 über die
Gerichtsorganisation [BGS 125.12] und §§ 62, 65 lit. e, 67 und 68 Abs. 2 der
Zivilprozessordnung vom 11. September 1966 [BGS 221.1]).

  In den kantonalen Verfahrensakten des vorliegenden Falles befinden sich
kein Aktenheft und keine Kopie des Protokolles, welches die angefochtene
Verfügung vom 3. August 2004 enthält. Diese Unterlagen waren auch nicht der
Stellungnahme vom 18. August 2005 beigelegt. Die Verfügung vom 3. August
2004 hat daher als nicht vom Gerichtspräsidenten unterzeichnet zu gelten.

  2.3  Art. 34 ff. VwVG und Art. 61 Abs. 2 und 3 VwVG schreiben lediglich
Schriftlichkeit vor, nicht aber, dass Verfügungen und Beschwerdeentscheide
zu unterzeichnen sind.

  2.3.1  In der Lehre ist umstritten, ob das Erfordernis der Schriftlichkeit
eine Verpflichtung zur Unterzeichnung von Verwaltungsakten durch die
verfügende Behörde enthalte und bejahendenfalls, welche Rechtsfolgen
(Anfechtbarkeit, Nichtigkeit) an einen diesbezüglichen Mangel geknüpft sind
(IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I:
Allgemeiner Teil, 6. Aufl., Basel 1986, Nr. 84 B III; PIERRE MOOR, Droit
administratif, Bd. II: Les actes administratifs et leur contrôle, 2. Aufl.,
Bern 2002, S. 297 und 319 Nrn. 2.2.8.1 und 2.3.2.4; KÖLZ/HÄNER,
Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl.,
Zürich 1998, S. 126 Rz 348).

  Gemäss BGE 106 Ib 179 Erw. 2a "sont nuls les actes administratifs qui ne
respectent pas les dispositions relatives à la forme écrite, à la signature
de l'acte ou à la mention de son auteur". Mit Bezug auf das dritte
Erfordernis verneinte das Bundesgericht im konkreten Fall einen
Eröffnungsfehler, weil "la loi fédérale sur la procédure administrative du
20 décembre 1968, applicable en l'espèce, ne contient aucune disposition
imposant aux instances administratives de mentionner nommément les membres
de l'autorité qui ont contribué à prendre une décision" (vgl. auch BGE 97 IV
207 Erw. 1).

  2.3.2  Zwischenverfügungen kantonaler Versicherungsgerichte über die
Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege nach Art. 45 Abs. 2 lit. h
VwVG und Art. 65 VwVG können indessen nicht Verwaltungsakten gleichgestellt
werden. Dagegen spricht schon, dass sie im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren durch eine gerichtliche Behörde erlassen werden, hinsichtlich
welcher ein Anspruch auf Bekanntgabe der personellen Besetzung besteht (BGE
114 V 61). Die Unterschrift des Einzelrichters oder - beim Kollegialgericht
- des zur Unterzeichnung befugten Gerichtsmitgliedes

bezeugt in authentischer Weise die tatsächliche Mitwirkung der rubrizierten
Richterperson(en) am gefällten Entscheid.

  2.3.3  Die für das Bundesgericht und das Eidgenössische
Versicherungsgericht massgeblichen Erlasse, das Bundesgesetz vom 16.
Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) und das
Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess (BZP; vgl.
Art. 40 OG), sehen nicht ausdrücklich vor, dass die Entscheide vom
Präsidenten oder einem stellvertretenden Mitrichter zu unterzeichnen wären
(vgl. Art. 37 OG und Art. 70 BZP). Nach ständiger Praxis werden jedoch die
vollständigen Urteilsausfertigungen vom Präsidenten und vom
Gerichtsschreiber unterzeichnet (JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la
loi fédérale d'organisation judiciaire, Bern 1992, S. 318 N 2.1 zu Art. 37;
RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungsrecht des
Bundes, Basel 1996, S. 302 Rz 1591). In gleicher Weise sind Entscheide
letzter kantonaler Instanzen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 VwVG wenigstens vom
Gerichtspräsidenten oder vom Einzelrichter zu unterzeichnen. Dabei handelt
es sich nach dem Gesagten nicht bloss um eine Ordnungsvorschrift. Die
Unterschrift des Präsidenten oder des Einzelrichters stellt namentlich im
Interesse der Rechtssicherheit ein Gültigkeitserfordernis dar. Mit der
handschriftlichen Unterzeichnung des Erkenntnisses wird die formelle
Richtigkeit der Ausfertigung und deren Übereinstimmung mit dem vom Gericht
gefassten Entscheid bestätigt (HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen
Gerichtsverfassungsgesetz [GVG], Zürich 2002, S. 517 N 1 und 2 zu § 156).
Die Unterschrift muss bezeugen, dass der Erlass dem tatsächlichen Willen des
Unterzeichnenden entspricht (nicht veröffentlichtes Urteil des
Bundesgerichts vom 28. Juni 1990 in Sachen E. gegen H. [4P.25/1990]). Das
Urteil ist die verbindliche Stellungnahme zu den Behauptungen und Begehren
der Parteien in den Rechtsschriften (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2.
Aufl., S. 321).

  2.3.4  Zwischenverfügungen über die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege nach Art. 45 Abs. 2 lit. h VwVG und Art. 65 VwVG schliessen
zwar das gerichtliche Verfahren nicht ab. Diesem formalen Aspekt kann
indessen aufgrund der selbstständigen Anfechtbarkeit und des nicht wieder
gutzumachenden Nachteils des Entscheides für die Frage der Unterschrift des
Gerichtspräsidenten oder des nach kantonalem Recht zuständigen

Einzelrichters von Bundesrechts wegen keine Bedeutung zukommen. Dies gilt
zumindest, wenn die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege mit der
Aussichtslosigkeit des Prozesses begründet wird. Hier wird vorab, wenn auch
nicht endgültig, über die Sache entschieden. Es verhält sich insofern anders
als im Urteil vom 10. Oktober 2003 in Sachen SPA gegen E. (2P.244/2003), wo
das Bundesgericht im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde es unter dem
Gesichtswinkel des Willkürverbotes als zulässig erachtete, dass eine in Form
einer Verfügung ergangene Anordnung einer Genfer Instruktionsrichterin
(Aufforderung zur Erteilung einer bestimmten Auskunft unter Strafandrohung)
in ihrem Auftrag durch die Gerichtsschreiberin unterzeichnet worden war. Der
insoweit einschlägige Art. 46 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. September 1985
über das Verwaltungsverfahren (LPA/GE) schrieb vor, dass "les décisions
doivent être désignées comme telles, motivées et signées [...]".

  2.3.5  Ob die fehlende Unterschrift des Gerichtspräsidenten oder des
zuständigen Einzelrichters Nichtigkeit bedeutet oder bloss einen
Anfechtungsgrund darstellt, kann offen bleiben. Jedenfalls vermag die
Unterschrift des Gerichtsschreibers "dépourvu de tout pouvoir
juridictionnel" (FRANÇOIS BOHNET, Code de procédure civile neuchâteloise
[CPCN], commenté, 2. Aufl., Basel 2005, S. 140 N 2 zu Art. 82) diesen Mangel
nicht zu heilen.

  2.4  Die angefochtene Verfügung vom 3. August 2004 ist somit aus formellen
Gründen aufzuheben, ohne dass zur materiell streitigen Frage Stellung zu
nehmen ist.

  Das kantonale Gericht wird somit über den Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung für das hängige Beschwerdeverfahren nochmals zu entscheiden
haben. Dabei steht es der Vorinstanz frei, entweder erneut einen
Zwischenentscheid zu erlassen oder im Endentscheid darüber zu befinden.