Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 425



Urteilskopf

131 V 425

  56. Urteil i.S. Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes gegen R.
und Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
  H 53/05 vom 27. September 2005

Regeste

  Art. 52 Abs. 3 AHVG und alt Art. 82 Abs. 1 AHVV (in Kraft bis 31. Dezember
2002): Verwirkung/Verjährung von Schadenersatzansprüchen; anwendbares Recht.

  Auf Schadenersatzansprüche, die am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt
waren, gelangen die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen
Verjährungsregeln des Art. 52 Abs. 3 AHVG zur Anwendung. (Erw. 5.1 und 5.2)
  Frage offen gelassen, ob die unter altem Recht abgelaufene Zeit an die
zweijährige Verjährungsfrist des Art. 52 Abs. 3 AHVG anzurechnen ist. (Erw.
5.2)

Sachverhalt

  A.- Die Firma K. GmbH war der Ausgleichskasse des Basler
Volkswirtschaftsbundes als abrechnungspflichtige Arbeitgeberin
angeschlossen. R. war als einzelzeichnungsberechtigter Gesellschafter und
Geschäftsführer der Firma K. GmbH im Handelsregister des Kantons Basel-Stadt
eingetragen. Am ... wurde über die Firma K. GmbH der Konkurs eröffnet und am
... mangels Aktiven wieder eingestellt.

  Das Betreibungsamt Basel-Stadt hatte der Ausgleichskasse des Basler
Volkswirtschaftsbundes am 31. Oktober 2002 einen und am 22. Januar 2003 zwei
Verlustscheine infolge Pfändung für ausstehende Beiträge einschliesslich
Folgekosten ausgestellt.

  Mit Verfügung vom 4. März 2004 verpflichtete die Ausgleichskasse R. zur
Bezahlung von Schadenersatz für entgangene bundes- und kantonalrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 9855.45. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 26. April 2004 fest.

  B.- Die von R. hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 25. Januar 2005 gut
und hob den Einspracheentscheid vom 26. April 2004 auf.

  C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Verfügung vom
4. März 2004 wiederherzustellen.

  R. schliesst auf Abweisung und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten
werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Es
ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht
einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene
Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 124 V
146 Erw. 1 mit Hinweis).

Erwägung 2

  2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die Ausgleichskasse die
Schadenersatzforderung mit der Verfügung vom 4. März 2004 rechtzeitig
geltend gemacht hat.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Gemäss Art. 82 Abs. 1 AHVV in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung verjährt die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innert
Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass einer
Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber mit Ablauf
von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens. Nach der Rechtsprechung handelt
es sich dabei - entgegen dem Wortlaut - um Verwirkungsfristen (BGE 128 V 12
Erw. 5a, 17 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

  Die diese Norm ablösende, auf 1. Januar 2003 (mit der Einführung des
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts
[ATSG] vom 6. Oktober 2000) in Kraft getretene Bestimmung des Art. 52 Abs. 3
AHVG sieht vor, dass der Schadenersatzanspruch zwei Jahre, nachdem die
zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat, und jedenfalls
fünf Jahre nach Eintritt des Schadens verjährt (Satz 1). Diese Fristen
können unterbrochen werden (Satz 2). Der Arbeitgeber kann auf die Einrede
der Verjährung verzichten (Satz 3). Dabei handelt es sich, wie das
Eidgenössische Versicherungsgericht unlängst unter Hinweis auf den
Gesetzeswortlaut und die Materialien (FF 1994 V 964 sv. = BBl 1994 V 983 f.;
FF 1999 4422 = BBl 1999 4763) entschieden hat, um Verjährungsfristen (in SJ
2005 I S. 272 publiziertes Urteil F. vom 30. November 2004, H 96/03, Erw.
5.1).

  Kenntnis des Schadens ist in der Regel von dem Zeitpunkt an gegeben, in
welchem die Ausgleichskasse unter Beachtung der ihr zumutbaren
Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten nicht
mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine
Schadenersatzpflicht begründen können (BGE 119 V 92 Erw. 3). Bei Betreibung
auf Pfändung besteht Kenntnis des Schadens mit der Zustellung des
definitiven Pfändungsverlustscheines (BGE 113 V 257 f.; ZAK 1991 S. 127 Erw.
II/2a).

  3.2  Weder das AHVG noch das ATSG enthalten eine spezielle
Übergangsbestimmung betreffend die Anwendbarkeit der Verwirkungsfrist nach
alt Art. 82 Abs. 1 AHVV und der Verjährungsfrist nach Art. 52 Abs. 3 AHVG.

  In der Wegleitung des BSV über den Bezug der Beiträge (WBB) in der AHV, IV
und EO, welche indessen als Verwaltungsweisung für das Gericht keine
Bindungswirkung entfaltet (vgl. BGE 130 V 172 Erw. 4.3.1, 232 Erw. 2.1, 129
V 204 Erw. 3.2, 127 V 61

Erw. 3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a), wird in Rz 7057.1 zum
Übergangsrecht vorgesehen, dass die Verjährungsregeln nach Art. 52 Abs. 3
AHVG nur für Schadenersatzansprüche gelten, die am 1. Januar 2003 (gemäss
alt Art. 82 AHVV) nicht bereits verjährt (recte: verwirkt) waren.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Die Vorinstanz begründet die Anwendung der altrechtlichen Bestimmung
des Art. 82 Abs. 1 AHVV damit, dass sich das leistungsspezifische Risiko bei
Schadenersatzforderungen gemäss Art. 52 AHVG mit dem Tag verwirkliche, an
welchem der Schaden eingetreten sei. Vorliegend bilde somit Anknüpfungspunkt
für das anwendbare Recht der Tag der Zustellung des ersten
Pfändungsverlustscheins (d.h. der 31. Oktober 2002). Damit stehe auch die zu
Art. 82 Abs. 1 ATSG ergangene Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 329 im
Einklang, welche - von den in dieser Bestimmung spezifisch normierten
Tatbeständen abgesehen - von den allgemeinen Regeln ausgehe, welche im
Bereich des Übergangsrechts entwickelt worden seien. Danach seien in
zeitlicher Hinsicht - auch bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlage -
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze relevant, die in Geltung gestanden
hätten bei der Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhaltes,
welcher sich vorliegend mit dem Zeitpunkt des "Risikoeintrittes" decke.
Mangels Übereinstimmung mit diesen übergangsrechtlichen Grundsätzen könne Rz
7057.1 WBB nicht berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall habe die
Ausgleichskasse am 31. Oktober 2002 - als der Pfändungsverlustschein
zugestellt wurde - Kenntnis von der Uneinbringlichkeit der
Beitragsforderungen gegenüber der Firma K. GmbH und damit vom Schaden
gehabt, weshalb sich die Festsetzungsfrist nach der zu diesem Zeitpunkt
massgebenden, altrechtlichen Bestimmung des Art. 82 Abs. 1 AHVV richte. Zu
stossenden Ergebnissen würde es führen, wenn auf den Zeitpunkt der Verfügung
abgestellt würde, weil es damit ins Belieben der Ausgleichskasse gestellt
wäre, mit ihrer Verfügung zuzuwarten, bis das neue Recht in Kraft getreten
ist, um alsdann dieses anzuwenden. Die Anwendung des bis 31. Dezember 2002
in Kraft gewesenen Art. 82 Abs. 1 AHVV führe zum Ergebnis, dass die
Schadenersatzforderung verwirkt sei.

  4.2  Die Ausgleichskasse wirft der Vorinstanz vor, dass sie sich mit dem
Übergangsrecht zu den Verjährungsbestimmungen nicht auseinander gesetzt habe
und stattdessen auf die damit in keinem

Zusammenhang stehende Rechtsprechung zu den (mit dem Tag des
In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfang anwendbaren)
Verfahrensvorschriften einerseits und zum anwendbaren Recht bei
Dauerrechtsverhältnissen andererseits gestützt habe. Nach der Rechtsprechung
seien verwaltungsrechtliche Verjährungsbestimmungen in neuer Fassung auch
auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, welche vor deren In-Kraft-Treten bereits
bestanden haben. Es sei allgemein anerkannt und ergebe sich aus dem Zweck
der Verjährung, dass eine Ordnung, welche eine Verjährung neu einführe oder
ändere, auch auf Ansprüche anwendbar sei, die vor dem In-Kraft-Treten der
neuen Regelung entstanden und fällig geworden seien. Immerhin erfordere der
Schutz der bestehenden Rechte, dass in solchen Fällen die neue
Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt zu laufen beginne, in dem sie
eingeführt werde, also nicht vor dem In-Kraft-Treten des neuen Rechts.

Erwägung 5

  5.

  5.1  Fehlt im Gesetz eine Übergangsbestimmung, hat das Gericht zu prüfen,
welche Übergangsordnung zu treffen ist, wobei es aufgrund allgemeiner
übergangsrechtlicher Grundsätze entscheidet (BGE 104 Ib 89 Erw. 2b;
MEYER/ARNOLD, Intertemporales Recht, Eine Bestandesaufnahme anhand der
Rechtsprechung der beiden öffentlich-rechtlichen Abteilungen des
Bundesgerichts und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, in: ZSR 2005
S. 115 ff., insbes. S. 127 ff.). Welche Übergangsordnung im Bereich der
Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG sachgerecht ist, hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil F. vom 30. November 2004, H
96/03 (Erw. 5.2.1), offen gelassen. Für die Anwendung des neuen Rechts (Art.
52 Abs. 3 AHVG) spricht danach, dass die Schadenersatzforderung als
Dauerschuldverhältnis zu betrachten ist, während für die Anwendung des alten
Rechts (alt Art. 82 AHVV) die enge Verbundenheit zwischen den dem
materiellen Recht angehörenden Instituten der Verjährung oder Verwirkung und
der Schadenersatzforderung angeführt werden kann.

  5.2  Nach Rechtsprechung (BGE 102 V 207 Erw. 2; BGE 111 II 193, 107 Ib 203
f. Erw. 7b/aa) und Lehre (RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 15 B III d;
ATTILIO GADOLA, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, in: AJP
1995 S. 58) sind die Verjährungs- oder Verwirkungsbestimmungen des neuen
Rechts auf altrechtliche Ansprüche anwendbar, sofern diese vor dem
In-Kraft-Treten des

neuen Rechts entstanden und fällig, aber vor diesem Zeitpunkt noch nicht
verjährt oder verwirkt sind. Mit diesem Grundsatz stimmt Rz 7057.1 WBB,
welche die neuen Verjährungsregeln des Art. 52 Abs. 3 AHVG für diejenigen
Schadenersatzansprüche für anwendbar erklärt, die am 1. Januar 2003 (gemäss
alt Art. 82 AHVV) noch nicht verjährt (recte: verwirkt) waren, überein.

  Rechtsprechungsgemäss erfordert der Schutz der bestehenden Rechte, dass in
den Fällen, in welchen das bisherige Recht keine Verjährung oder Verwirkung
vorgesehen hat, die Verjährungs- oder Verwirkungsfrist für Ansprüche, die
unter dem alten Recht entstanden sind, erst mit dem In-Kraft-Treten des
neuen Rechts zu laufen beginnt (BGE 102 V 208 Erw. 2, 87 I 413 Erw. 1, 82 I
57 f.; vgl. auch PAUL MUTZNER, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch
[Berner Kommentar], Schlusstitel: Anwendungs- und Einführungsbestimmungen,
Art. 1-50, 2. Aufl., Bern 1926, N 7 zu Art. 49 SchlTZGB [S. 261]; GADOLA,
a.a.O., S. 58). Ob dies auch gilt, wenn - wie im Falle von alt Art. 82 Abs.
1 AHVV und Art. 52 Abs. 3 AHVG - eine Verwirkungsfrist durch eine
Verjährungsfrist ersetzt wird, kann hier offen gelassen werden (vgl. dazu
Urteil F. vom 30. November 2004, H 96/03, Erw. 5.2.1), wie sich aus der
folgenden Erwägung ergibt.

  5.3  Es steht fest und ist unbestritten, dass die Ausgleichskasse mit der
Zustellung des definitiven Pfändungsverlustscheines am 31. Oktober 2002
Kenntnis vom Schaden erlangt hat (vgl. BGE 113 V 257 f.; ZAK 1991 S. 127
Erw. II/ 2a). Bei dieser Sachlage war der Schadenersatzanspruch bei
In-Kraft-Treten des neuen Rechts am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt,
weshalb nach den (in Erw. 5.2 hievor) dargestellten übergangsrechtlichen
Grundsätzen die Verjährungsregeln des Art. 52 Abs. 3 AHVG Anwendung finden.
Unabhängig davon, ob die unter altem Recht abgelaufene Zeit an die
zweijährige Verjährungsfrist anzurechnen ist (Beginn des Fristenlaufs am 31.
Oktober 2002) oder die zweijährige Frist erst mit In-Kraft-Treten des neuen
Rechts zu laufen begann (Beginn des Fristenlaufs am 1. Januar 2003), ist die
Schadenersatzforderung mit der Verfügung vom 4. März 2004 rechtzeitig
geltend gemacht worden.

  5.4  Zum selben Ergebnis würde es führen, wenn mit Blick auf die
materiellrechtliche Natur der Verjährung die Bestimmung des Art. 82 Abs. 1
Satz 1 ATSG auf die Ablösung des alt Art. 82 AHVV durch Art. 52 Abs. 3 AHVG
angewendet würde (vgl. aber

Urteil F. vom 30. November 2004, H 96/03, Erw. 5.2.1). Nach dieser Norm sind
materielle Bestimmungen dieses Gesetzes auf die bei seinem In-Kraft-Treten
laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen nicht anwendbar. Durch
Umkehrschluss aus Art. 82 Abs. 1 Satz 1 ATSG ergäbe sich ebenfalls die
Anwendung des neuen Rechts auf die erst nach dem 1. Januar 2003 festgesetzte
Schadenersatzforderung der Beschwerdeführerin.

  5.5  Da das kantonale Gericht zum gegenteiligen Ergebnis (Anwendbarkeit
von alt Art. 82 Abs. 1 AHVV und damit verspätete Geltendmachung der
Schadenersatzforderung) gelangt ist, hat es über die materiellen
Voraussetzungen der Haftung gemäss Art. 52 AHVG noch nicht entschieden. Die
Sache geht daher an die Vorinstanz zurück, damit diese über die Beschwerde
gegen den Einspracheentscheid der Kasse vom 26. April 2004, soweit er die
Schadenersatzforderung für entgangene bundesrechtliche Beiträge betrifft,
entscheide.

Erwägung 6

  6.  (Kosten)