Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 417



Urteilskopf

131 V 417

  55. Urteil i.S. Bundesamt für Gesundheit gegen SWICA Krankenversicherung
AG, betreffend B., und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
  K 29/05 vom 30. August 2005

Regeste

  Art. 50 Abs. 1 und 3 ATSG: Tragweite der gesetzlichen
Vergleichsmöglichkeit im Beschwerdeverfahren vor dem kantonalen
Sozialversicherungsgericht.

  Vergleichsweise Einigungen zwischen Versicherten und Versicherungsträgern
sind im Beschwerdeverfahren nicht nur bei reinen Streitigkeiten über
sozialversicherungsrechtliche Leistungen zulässig, sondern auch im Falle von
Streitigkeiten über gegenseitige Ansprüche (Sozialversicherungsleistungen
und -beiträge). (Erw. 1-4)

Sachverhalt

  A.- B. war mit seiner Familie bei der SWICA Krankenversicherung AG
(nachfolgend SWICA) einerseits obligatorisch krankenpflege-, anderseits
freiwillig taggeldversichert, wobei er nach KVG ein Taggeld von Fr. 166.-
und nach VVG ein solches von Fr. 34.-, beide je zahlbar ab dem 61. Tag der
Arbeitsunfähigkeit, vereinbart hatte. Im Zusammenhang mit einem
Krankheitsfall ab Oktober 2001 entstanden zwischen ihm und seinem
Krankenversicherer Meinungsverschiedenheiten über Höhe und Dauer der den
Taggeldzahlungen zu Grunde zu legenden Arbeitsunfähigkeiten, weshalb er sich
am 4. Juli 2003 klageweise an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich wandte mit dem Rechtsbegehren auf Zusprechung von Taggeldern nach KVG
und VVG. Diese Auseinandersetzung nahm B. zum Anlass, seinerseits die für
die verschiedenen Versicherungsarten geschuldeten Prämien nicht mehr zu
bezahlen, weshalb die SWICA ihn am 13. Mai 2003 für den Betrag von Fr.
3407.20 (ausstehende KVG-Prämien) betrieb. Mit Verfügung vom 6. Juni 2003
und Einspracheentscheid vom 29. Juli 2003 hob die SWICA den Rechtsvorschlag
im Umfange von Fr. 2308.75 auf, wogegen B. am 27. August 2003 (ebenfalls)
beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde erhob.

  B.- Im Rahmen einer Referentenaudienz mit Vergleichsverhandlung vom 20.
Januar 2005 schlossen die Parteien einen Vergleich, der alle offenen Punkte
(Taggeldansprüche gegenüber den beiden Versicherungen; Kostenvergütungen aus
der obligatorischen Krankenpflegeversicherung; ausstehende Prämien)
ausräumte. Gestützt

auf diesen Vergleich schrieb das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich den Prozess als durch Vergleich erledigt ab (Verfügung vom 20. Januar
2005).

  C.- Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Antrag, es sei die Verfügung vom 20. Januar 2005 aufzuheben "und im
Sinne der nachstehenden Überlegungen neu zu entscheiden". Auf die einzelnen
Vorbringen wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

  Das kantonale Gericht äussert sich in ablehnendem Sinne zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. B. beanstandet in seiner Vernehmlassung
bestimmte Punkte bezüglich der Formulierung des Vergleichs sowie der
Durchführung der Vergleichsverhandlung, während die SWICA auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Wie das kantonale Gericht am Ende seiner Vernehmlassung zutreffend
bemerkt, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig, soweit sie die
vergleichsweise Regelung der im Rahmen der Zusatzversicherung nach VVG
strittig gewesenen Punkte beanstandet. Diesbezüglich gründet der
angefochtene vorinstanzliche Entscheid nicht auf
Bundessozialversicherungsrecht, weshalb insofern auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eingetreten werden kann (Art. 128 OG).

Erwägung 2

  2.  Materiell zu prüfen bleibt allein, ob das kantonale Gericht dadurch
Bundesrecht verletzt hat, dass es gestützt auf die vergleichsweise Einigung
der Parteien hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Streitpunkte
(im Wesentlichen: Höhe und Dauer der Taggeldzahlungen; zur Verrechnung
gebrachte Beitragsausstände) das vor ihm anhängig gemachte
Beschwerdeverfahren als durch Vergleich erledigt abschrieb.

  2.1  Nach dem auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Art. 50 ATSG (im
Bereich der sozialen Krankenversicherung anwendbar gemäss Art. 1 Abs. 1 KVG)
können Streitigkeiten über sozialversicherungsrechtliche Leistungen durch
Vergleich erledigt werden (Abs. 1). Laut Abs. 2 hat der Versicherungsträger
den Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung zu eröffnen. Die Abs. 1
und 2

gelten sinngemäss im Einsprache- und in den Beschwerdeverfahren (Abs. 3 der
genannten Gesetzesnorm). Im Rahmen dieser Bestimmung, welche nur auf das
letztinstanzliche Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
nicht anwendbar ist (Art. 62 Abs. 1 ATSG; Urteil L. vom 15. Juni 2005, U
50/03), hat dieses seine frühere gefestigte Rechtsprechung zur Zulässigkeit
von Vergleichen, zu deren gerichtlicher Genehmigung und zu den Wirkungen der
Verfahrensabschreibung bestätigt (RKUV 2004 Nr. U 513 S. 286; RDAT 2003 II
Nr. 59 S. 238).

  2.2  Art. 50 ATSG bildet somit die gesetzliche Grundlage zur Beendigung
sozialversicherungsrechtlicher Verfahren durch Vergleich, sei es im
Verfügungs-, Einsprache- oder im Verfahren vor dem kantonalen
Sozialversicherungsgericht gemäss Art. 57 ATSG. Zu beurteilen bleibt die
Frage nach der Tragweite der durch den Gesetzgeber eingeräumten
Vergleichsmöglichkeiten.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Soweit das BAG beanstandet, die Vorinstanz habe es unterlassen, den
abgeschlossenen Vergleich im Rahmen der ihr zustehenden Kognition auf seine
Übereinstimmung mit der Sach- und Rechtslage zu überprüfen und
dementsprechend zu genehmigen, wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
überspitzt formalistisch argumentiert. Aus den Akten geht hervor, dass der
in der Abschreibungsverfügung verurkundete Vergleich mit Hilfe der
Referentin in der auf den 20. Januar 2005 anberaumten Verhandlung zu Stande
gekommen ist. Es handelt sich der Sache nach um einen gerichtlichen
Vergleich, weil er unter der Verfahrensleitung der zuständigen Richterin
abgeschlossen wurde. In dieser Situation noch eine davon verselbstständigte
gerichtliche Überprüfung und Genehmigung zu verlangen, ergibt keinen Sinn.
Es besteht kein Anlass - auch nicht unter Berücksichtigung der vom
Versicherten in seiner Vernehmlassung erhobenen Kritik -, an der
Übereinstimmung der getroffenen Lösung mit der einschlägigen Sach- und
massgeblichen Rechtslage zu zweifeln.

  3.2  Damit bleibt zum Hauptargument des BAG Stellung zu nehmen, der
Vergleich hätte so nicht ergehen dürfen, weil er sich nicht nur auf
sozialversicherungsrechtliche Leistungen bezieht, sondern sich auch auf die
vom Versicherten veranlassten Prämienausstände erstreckt. In der Tat bilden
auch die Prämien Gegenstand der vergleichsweise getroffenen Einigung, woran
nichts

ändert, dass der Versicherte seine Beitragspflicht im Grunde nie bestritten,
sondern die Prämien nur im Hinblick auf die ausstehenden Taggeldzahlungen
zurückbehalten hatte. Die Regelung der offenen Prämienforderungen des
Krankenversicherers ist Bestandteil des Vergleichs.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Der Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 ATSG ist - entgegen anders lautenden
Stimmen in der Doktrin (vgl. TURTÈ BAER, Die Streiterledigung durch
Vergleich im Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG, in: SZS 2002 S. 430
ff., S. 446) - klar, soweit er die Vergleichszulässigkeit auf
"sozialversicherungsrechtliche Leistungen" ("prestations des assurances
sociales") beschränkt. Daran ändert nichts, dass die italienische Fassung
dieser Bestimmung zu weit ausgefallen ist, indem dort ganz allgemein von
Streitigkeiten "nell'ambito delle assicurazioni sociali" die Rede ist. Wie
sich den nachfolgenden Ausführungen (unter Erw. 4.2) entnehmen lässt,
handelt es sich bei dieser Abweichung von den beiden andern Sprachfassungen
um ein offenkundiges redaktionelles Versehen. Unter
sozialversicherungsrechtlichen Leistungen ist die Gesamtheit der Geld- oder
Sachleistungen (Art. 14 f. ATSG) zu verstehen, welche ein
Versicherungsträger nach Massgabe der im Gebiet der jeweiligen
Sozialversicherung geltenden Gesetzes- und Verordnungsvorschriften bei
Eintritt eines Versicherungsfalles zu erbringen hat (BGE 122 V 136 Erw. 1,
120 V 448 Erw. 2a/bb). Die Praxis zu Art. 132/134 OG kann im Rahmen von Art.
50 Abs. 1 ATSG weitergeführt werden, weil keinerlei Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass der Gesetzgeber vom Begriff der
sozialversicherungsrechtlichen Leistungen gemäss ständiger Rechtsprechung
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts abrücken wollte.

  4.2  Die Bedeutung der erst im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens in Abs.
1 von Art. 50 ATSG aufgenommenen Beschränkung auf
sozialversicherungsrechtliche Leistungen geht aus den Materialien, wie sie
bei UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N 1 und 8 zu Art. 50 und BAER (a.a.O., S.
444 unten f.) nachgezeichnet werden, mit aller Deutlichkeit hervor: Es
sollten die Durchführungsorgane, insbesondere die Ausgleichskassen, von
Druckversuchen freigehalten werden, welche sich im Beitragsbereich aus der
Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit der ihnen angeschlossenen Arbeitgeber
ergeben könnten (Amtl. Bull. 1999 N 1244-1246). Sowohl die
Vergleichsmöglichkeit für Sozialversicherungsleistungen als

auch der Ausschluss von Vergleichen für Sozialversicherungsbeiträge stehen
nach dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 ATSG, der auf Grund der Materialien dem
Rechtssinne entspricht, fest. Nicht zu beantworten ist hier die durch den
Gesetzeswortlaut nicht vorab entschiedene Frage, wie es sich mit
Anordnungen, Verpflichtungen oder sonstigen Rechtsverhältnissen verhält,
welche weder den sozialversicherungsrechtlichen Leistungen noch den
sozialversicherungsrechtlichen Beiträgen zuzuweisen sind: Kollektive
Beiträge aus dem jeweiligen Versicherungsfonds an Institutionen (in der
AHV/IV/AlV), die Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber den Arbeitgebern,
anderen Durchführungsorganen oder deren Gründerverbänden usw.

  4.3  Damit hängt die Bundesrechtsmässigkeit der vorinstanzlichen
Verfahrensabschreibung zufolge gerichtlichen Vergleichs davon ab, ob Abs. 3
von Art. 50 ATSG, welcher für das Einsprache- und das Beschwerdeverfahren
eine "sinngemässe" Geltung der Abs. 1 und 2 dieser Gesetzesbestimmung
vorschreibt, an der (in den Erw. 4.1 und 4.2 hievor) dargelegten
Beschränkung der Vergleichsmöglichkeit auf sozialversicherungsrechtliche
Leistungen gemäss Abs. 1 etwas ändert.

  4.3.1  Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente, namentlich von Sinn und Zweck sowie der dem Text zu
Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im
Kontext zukommt (BGE 130 II 71 Erw. 4.2, 130 V 232 Erw. 2.2, 295 Erw. 5.3.1,
428 Erw. 3.2, 475 Erw. 6.5.1, 484 Erw. 5.2, je mit Hinweisen).

  4.3.2  Der Wortlaut von Abs. 3 des Art. 50 ATSG ist insofern unklar, als
sich die Frage nicht eindeutig beantworten lässt, worauf sich die Wendung
"gelten sinngemäss" ("s'appliquent par analogie", "sono applicabili per
analogia") bezieht. Das BAG stellt sich stillschweigend auf den Standpunkt,
die (bloss) analogieweise, d.h. einen gewissen Spielraum belassende
Heranziehung der Abs. 1 und 2 von Art. 50 ATSG gelte ausschliesslich für die
Modalitäten der gesetzlichen Vergleichsmöglichkeit, wogegen der Ausschluss
von Vergleichen für Sozialversicherungsbeiträge auch im Rahmen von Abs. 3
strikte zu beachten sei. Demgegenüber äussert die Vorinstanz

in ihrer Vernehmlassung die Ansicht, der Begriff "sinngemäss" beziehe sich
auch auf den Inhalt der Vergleichsmöglichkeit gemäss Art. 50 Abs. 1 ATSG.
Unter dem Blickwinkel einer rein grammatikalischen Auslegung wären beide
Auffassungen vertretbar. Von der Gesetzessystematik her lässt sich für die
hier interessierende Frage ebenfalls keine eindeutige Antwort ableiten. Mit
Blick auf die grundlegenden Unterschiede zwischen Einsprache- und
Beschwerdeverfahren ist lediglich klar, dass Abs. 3 von Art. 50 ATSG die
sinngemässe Geltung der vorangehenden Absätze einerseits im Einsprache- und
anderseits im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren je für sich
allein betrachtet vorschreibt, ohne dass die Art und Weise oder die
Tragweite der analogieweisen Heranziehung in den beiden Verfahrensarten
übereinzustimmen braucht. Die historische Auslegung von Art. 50 Abs. 1 ATSG
hat gezeigt (Erw. 4.2 hievor), dass die Beschränkung der
Vergleichszulässigkeit auf Sozialversicherungsleistungen und der damit
einhergehende ausdrückliche Ausschluss von Vergleichen hinsichtlich
Sozialversicherungsbeiträgen auf die Durchführungsstellen ausgerichtet ist,
welche der Gesetzgeber vor Druckversuchen schützen wollte. Diese
gesetzgeberische Regelungsabsicht stösst beim Beschwerdeverfahren im Sinne
von Art. 50 Abs. 3 ATSG ins Leere, weil die Gerichte von vornherein keinen
solchen Interventionsrisiken ausgesetzt sind. Abgesehen von der dargelegten
- im Verwaltungsjustizverfahren gerade ausgeschlossenen - Missbrauchsgefahr
werden in den Materialien keinerlei Gründe für eine Einschränkung der
Zulässigkeit von Vergleichen nach deren Gegenstand angeführt (vgl. auch
KIESER, a.a.O., N 10 zu Art. 50). Schliesslich liefert die teleologische
Betrachtungsweise hinsichtlich der hier zu beantwortenden Auslegungsfrage
Klarheit: Es entspricht nämlich dem ureigenen Wesen des gerichtlichen
Vergleichs, die in Abs. 3 von Art. 50 ATSG gewählte Wendung "gelten
sinngemäss" auch auf den materiellrechtlichen Inhalt der in Abs. 1
eingeräumten Vergleichsmöglichkeit zu beziehen und deren Anwendungsbereich
für das kantonale Sozialversicherungsgericht insofern über reine
Leistungsstreitigkeiten hinaus zu erweitern, als vergleichsweise Einigungen
zwischen Versicherten und Versicherungsträgern über gegenseitige Ansprüche
(Sozialversicherungsleistungen und -beiträge) im Beschwerdeverfahren
ebenfalls als

zulässig erachtet werden. Mit Sinn und Zweck dieses dem kantonalen Gericht
nunmehr ausdrücklich in die Hand gegebenen gesetzlichen
Prozesserledigungsmittels wäre es nicht vereinbar, wenn in Fällen wie dem
vorliegenden die Möglichkeit eines gerichtlichen Vergleichs von vornherein
entfiele, weil die Streitigkeit zwischen den Beteiligten nicht nur
Versicherungsleistungen, sondern zusätzlich auch Beiträge an die in Frage
stehende Sozialversicherung beschlägt. Ausgeschlossen ist eine
vergleichsweise Einigung im kantonalen Beschwerdeverfahren, wenn sich der
Streit ausschliesslich um Sozialversicherungsbeiträge dreht.