Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 358



Urteilskopf

131 V 358

  49. Auszug aus dem Urteil i.S. Helsana Versicherungen AG gegen B. und
Kantonsgericht Basel-Landschaft
  U 383/04 vom 17. August 2005

Regeste

  Art. 26 Abs. 2 ATSG: Verzugszinsanspruch bei Leistungsnachzahlungen.

  Auf Leistungen, auf die der Anspruch vor mindestens 24 Monaten entstanden
ist, werden für die Zeit frühestens ab 1. Januar 2003 Verzugszinsen
geschuldet. (Erw. 2.2)

Sachverhalt ab Seite 358

  A.- Mit Verfügung vom 8. Dezember 2003 und Einspracheentscheid vom 9.
Januar 2004 lehnte es die Helsana Versicherungen AG ab, ihrem Versicherten
B. auf den gemäss Verfügung vom 11. November 2003 für die Zeit ab 1. März
1992 bis 31. Januar 1999 zugesprochenen Taggeldern und den seit 1. Februar
1999 aufgelaufenen Rentenbetreffnissen, welche alle am 14. November 2003 zur
Auszahlung gelangten, die geltend gemachten und mit Fr. 16'963.75
bezifferten Verzugszinsen zu gewähren.

  B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht
Basel-Landschaft mit Entscheid vom 19. Mai 2004 gut, indem es den
angefochtenen Einspracheentscheid aufhob und die Helsana anwies, über den
dem Beschwerdeführer zustehenden Verzugszins im Sinne der Erwägungen, d.h.
nach Erstellung einer Verzugszinsberechnung, neu zu verfügen.

  C.- Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um
Aufhebung des kantonalen Entscheids und Bestätigung ihres
Einspracheentscheids vom 9. Januar 2004. (...)
  B. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
soweit darauf einzutreten ist. Das Bundesamt für Gesundheit trägt ebenfalls
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.

  1.1  Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Nach
Art. 26 Abs. 1 ATSG sind für fällige Beitragsforderungen und
Beitragsrückerstattungsansprüche Verzugs- und Vergütungszinsen zu leisten
(Satz 1); der Bundesrat kann für geringe Beträge und kurzfristige Ausstände
Ausnahmen vorsehen (Satz 2). Sofern die versicherte Person ihrer
Mitwirkungspflicht vollumgänglich nachgekommen ist, werden die
Sozialversicherungen laut Abs. 2 derselben Bestimmung für ihre Leistungen
nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens
aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung verzugszinspflichtig.

  1.2  Nach der bis zum In-Kraft-Treten des ATSG geltenden Rechtsprechung
wurden im Bereich der Sozialversicherung grundsätzlich keine Verzugszinsen
geschuldet, sofern sie nicht ausdrücklich gesetzlich vorgesehen waren. Nur
ausnahmsweise hat das Eidgenössische Versicherungsgericht Verzugszinsen
zugesprochen, wenn "besondere Umstände" vorlagen. Solche Umstände erachtete
das Gericht als gegeben bei widerrechtlichen oder trölerischen
Machenschaften der Verwaltungsorgane. Die Verzugszinspflicht setzte im
Übrigen neben der Rechtswidrigkeit auch ein schuldhaftes Verhalten der
Verwaltung voraus. Dabei hat es das Gericht abgelehnt, die
Verzugszinspflicht generell für bestimmte Gruppen von Fällen (etwa
gerichtlich festgestellte Rechtsverzögerungen) zu bejahen. Wegleitend dafür
war die Überlegung, dass die Auferlegung von Verzugszinsen im
Sozialversicherungsrecht nur ausnahmsweise und in Einzelfällen
gerechtfertigt ist, bei denen das Rechtsempfinden in besonderer Weise
berührt wird (vgl. BGE 130 V 334 Erw. 6.1, 127 V 446 Erw. 4, 119 V 81 Erw.
3a, je mit Hinweisen).

  1.3  Art. 82 Abs. 1 ATSG sieht unter anderem vor, dass materielle
Bestimmungen dieses Gesetzes auf die bei seinem In-Kraft-Treten laufenden
Leistungen und festgesetzten Forderungen nicht anwendbar sind (Satz 1). Wie
das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 130 V 329 erkannt hat, kann
aus dieser Bestimmung nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass für die
Anwendbarkeit materieller Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im
Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens (1. Januar 2003) noch nicht

festgesetzter Leistungen der Verfügungszeitpunkt massgebend ist; abgesehen
von den in Abs. 1 Satz 2 der Übergangsbestimmung spezifisch normierten
Tatbeständen hat man sich nach den übergangsrechtlichen Grundsätzen zu
richten, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen die
Rechtssätze anwendbar erklären, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen
führenden Sachverhalts galten (BGE 130 V 332 f. Erw. 2.2 und 2.3).

Erwägung 2

  2.  Der rechtlich massgebende Sachverhalt, von welchem ein allfälliger
Anspruch auf Verzugszinsen auf den am 14. November 2003 ausbezahlten
Taggeld- und Renten-Nachzahlungen abhängt, hat sich teilweise vor und
teilweise nach dem In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht. Für den Zeitraum
bis 31. Dezember 2002 erfolgt die Prüfung der materiellen
Anspruchsvoraussetzungen daher nach den in Erw. 1.2 hievor dargelegten
Grundsätzen (vgl. dazu insbesondere BGE 119 V 81 Erw. 3a). Für die Zeit
danach (ab 1. Januar bis 14. November 2003) stützt sich die Beurteilung
hingegen auf die Bestimmung von Art. 26 Abs. 2 ATSG (vgl. BGE 130 V 334 Erw.
6 Ingress).

  2.1  Was die Zeit bis 31. Dezember 2002 anbelangt, war die Beschwerde
führende Versicherungsgesellschaft zunächst der Ansicht, dem Versicherten
keine Leistungen zu schulden, was schliesslich sogar zur gerichtlichen
Beurteilung gelangte. Obschon das damalige Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft (heute: Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht) mit Entscheid vom 19. August 1998 und
anschliessend das Eidgenössische Versicherungsgericht - letztinstanzlich -
mit Urteil vom 18. Mai 2001 (U 107/99) die Betrachtungsweise des
Unfallversicherers verwarfen und zum Schluss gelangten, dass dem
Versicherten ein Anspruch auf Taggeld- und Rentenleistungen zustehe, kann
nicht gesagt werden, dass die Auffassung des Versicherers nicht vertretbar
und die durchgeführten Gerichtsverfahren daher für ihn von vornherein
aussichtslos gewesen wären, sodass das Beharren auf seinem Standpunkt als
trölerisches oder gar widerrechtliches Verhalten qualifiziert werden müsste.
Nach Erlass des letztinstanzlichen Urteils am 18. Mai 2001 dauerte es auch
nicht unangemessen lange, bis die noch notwendigen Abklärungen durchgeführt
und die geschuldeten Leistungen ermittelt worden waren und schliesslich am
11. November 2003 darüber auch verfügt wurde. Nach der bis 31. Dezember 2002
massgebend gewesenen Rechtsprechung (Erw. 1.2 hievor) waren die Voraus-

setzungen für die Zusprechung von Verzugszinsen demnach nicht erfüllt.

  2.2  Zutreffend ist die vorinstanzliche Feststellung, dass ab 1. Januar
2003 auf Grund des auf diesen Zeitpunkt in Kraft gesetzten Art. 26 Abs. 2
ATSG Verzugszinsen geschuldet sind. Entgegen der Argumentation der
Beschwerde führenden Versicherungsgesellschaft beginnen diese nicht erst
nach Ablauf von 24 Monaten seit dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar
2003 zu laufen. Vielmehr ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass die
Verzugszinspflicht ab 1. Januar 2003 für alle Leistungen gilt, sofern die
Voraussetzungen gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG erfüllt sind. Art. 26 Abs. 2 ATSG
knüpft für die Bestimmung des Beginns des Verzugszinsanspruchs an den
Zeitpunkt der Entstehung des Leistungsanspruchs an (vgl. UELI KIESER,
ATSG-Kommentar, N 18 zu Art. 26). Damit wollte der Gesetzgeber erreichen,
dass Versicherte während der teils sehr langen Dauer, welche mitunter für
die Abklärung des Leistungsanspruchs benötigt wird und unter Umständen bis
zu dessen rechtskräftigen Festsetzung in einem oder mehreren gerichtlichen
Verfahren verstreicht, zumindest in Form eines Verzugszinses - nach Ablauf
von 24 Monaten - einen gewissen Schadensausgleich erhalten (BBl 1991 II 258,
1999 4579 f.; vgl. dazu KIESER, a.a.O., N 1, 16 und 19 zu Art. 26). Auch
sollte damit der gegenüber der früheren Gerichtspraxis verschiedentlich
geäusserten Kritik begegnet werden (BBl 1999 4579; vgl. KIESER, a.a.O., N 4
f. zu Art. 26).

  Entsprechend der mit Art. 26 Abs. 2 ATSG verfolgten Zielsetzung sind
Verzugszinsen demnach ab 1. Januar 2003 auf sämtlichen Leistungen
geschuldet, auf welche am 1. Januar 2003 bereits seit mindestens 24 Monaten
ein Anspruch besteht (vgl. KIESER, a.a.O., N 19 f. zu Art. 26). Es betrifft
dies im vorliegenden Fall einerseits sämtliche Taggelder (abzüglich
allfälliger Akontozahlungen) sowie andererseits die für die Zeit bis 31.
Dezember 2000 geschuldeten Rentenbetreffnisse. Da der Versicherte seit 1999
Anspruch auf eine monatlich im Voraus zahlbare Invalidenrente hat, sind auch
die jeweiligen Rentenbetreffnisse für die Zeit nach dem 31. Dezember 2000 ab
dem Zeitpunkt zu verzinsen, in welchem die seit Anspruchsbeginn verstrichene
Zeitspanne 24 Monate erreicht hat (vgl. KIESER, a.a.O., N 20 zu Art. 26).
Eine Rückwirkung des Gesetzes - wie von der Beschwerdeführerin befürchtet -
ist damit nicht verbunden, wird eine solche doch bereits dadurch aus-

geschlossen, dass für die Zeit vor dem 1. Januar 2003 kein Verzugszins
geschuldet ist (KIESER, a.a.O., N 26 zu Art. 26; vgl. auch Satz 2 von Rz
10512 der vom Bundesamt für Sozialversicherung herausgegebenen Wegleitung
über die Renten [RWL, in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung]).