Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 353



Urteilskopf

131 V 353

  48. Auszug aus dem Urteil i.S. M. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
  U 91/05 vom 22. Juli 2005

Regeste

  Art. 37 Abs. 2, Art. 118 Abs. 4 UVG; Art. 21 Abs. 1, Art. 82 Abs. 1 ATSG:
Leistungskürzung; Übergangsrecht.

  Unter Art. 37 Abs. 2 UVG in der bis 31. Dezember 1998 gültig gewesenen
Fassung erfolgte Kürzungen von Leistungen der Unfallversicherung,
insbesondere Invalidenrenten, bleiben auch nach In-Kraft-Treten des ATSG
bestehen. Art. 118 Abs. 4 UVG geht Art. 82 Abs. 1 Satz 2 ATSG vor. (Erw. 2)

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Es kann sich somit einzig fragen, ob die seit Rentenbeginn am 1. März
1997 bis zum den Prüfungszeitraum begrenzenden Einspracheentscheid vom 20.
September 2004 (BGE 116 V 248 Erw. 1a und SVR 2005 AHV Nr. 9 S. 31 Erw.
1.1.3) erfolgten Gesetzesänderungen auf die am 9. September 1993 verfügte
Kürzung der Versicherungsleistungen einen Einfluss haben. Die Vorinstanz hat
dies im Wesentlichen unter Hinweis auf die einschlägigen Vorschriften (Art.
37 Abs. 2 UVG in den Fassungen bis 31. Dezember 1998, vom 1. Januar 1999 bis
31. Dezember 2002 und ab 1. Januar 2003, sowie Art. 118 Abs. 4 UVG, in Kraft
seit 1. Januar 1999, Art. 21 Abs. 1 ATSG und Art. 82 Abs. 1 Satz 2 ATSG)
verneint.

  2.1
  2.1.1  Art. 37 Abs. 2 Satz 1 UVG in der bis 31. Dezember 1998 gültig
gewesenen Fassung lautete wie folgt: "Hat der Versicherte den Unfall
grobfahrlässig herbeigeführt, so werden die Geldleistungen gekürzt". Nach
der Rechtsprechung konnte die Kürzung Gegenstand eines gesonderten, der
Rechtskraft fähigen Entscheids sein, wobei der einmal festgesetzte
Kürzungssatz in einem späteren Rentenverfahren grundsätzlich nicht mehr
anfechtbar war (nicht veröffentlichtes Urteil C. vom 19. November 1998 [U
67/98] Erw. 1b mit Hinweis auf EVGE 1961 S. 111).

  2.1.2  Art. 37 Abs. 2 UVG wurde mit Bundesgesetz vom 9. Oktober 1998
geändert. Der erste Satz dieser Bestimmung lautete danach neu: "Hat der
Versicherte den Unfall grobfahrlässig herbeigeführt, so werden in der
Versicherung der Nichtberufsunfälle die Taggelder gekürzt, die während den
ersten zwei Jahren nach dem Unfall ausgerichtet werden." Die auf eine
parlamentarische Initiative zurückgehende Milderung der Kürzungsregelung bei
Grobfahrlässigkeit in Bezug auf Unfallkategorie (Nichtberufsunfälle), zu
kürzende Leistungen (Taggeld) und in zeitlicher Hinsicht (zwei Jahre)
erfolgte u.a. deshalb, weil die dauernde und umfassende Leistungskürzung als
zu hart empfunden wurde. Anderseits sollte aus Gründen der Prävention nicht
von jeglicher Sanktion abgesehen werden (vgl. BBl 1997 III 619 ff. und Amtl.
Bull. 1997 N 1967 f.).

  Im Rahmen der parlamentarischen Beratung wurde auf Vorschlag des
Ständerates als Zweitrat in Art. 118 UVG ("Übergangsbestimmungen") ein neuer
Absatz 4 eingefügt des Inhalts: "Versicherungsleistungen

für Nichtberufsunfälle, die sich vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 9.
Oktober 1998 ereignet haben, werden nach dem bisherigen Recht gewährt. Die
Geldleistungen werden jedoch nach dem neuen Recht ausgerichtet, sofern der
Anspruch nach Inkrafttreten der Änderung vom 9. Oktober 1998 entsteht"
(Amtl. Bull. 1998 S 789). Bei der Erläuterung dieser Ergänzung im
Nationalrat führte der Sprecher der Kommission für soziale Sicherheit und
Gesundheit u.a. aus, "dass der Beschluss des Ständerates keine volle,
sondern nur eine Teilrückwirkung vorsieht. Das Anliegen des Initianten ging
ursprünglich dahin, die Rückwirkung auch auf die vor Inkrafttreten der
Änderung gesprochenen Geldleistungen auszudehnen. Die finanziellen
Konsequenzen einer vollständigen Rückwirkung werden von den Versicherern auf
rund 150 Millionen Franken veranschlagt, was zusätzliches Deckungskapital in
der gleichen Höhe verlangen würde. Einerseits wegen der grossen finanziellen
Konsequenzen (...) hat die Kommission von einem weiter gehenden Vorschlag
abgesehen" (Amtl. Bull. 1998 N 1843). Die Vorlage war im Übrigen
unbestritten.

  Gestützt auf Art. 118 Abs. 4 UVG blieb die Kürzung von 10 % auf der ab 1.
Januar 1997 laufenden Invalidenrente des Beschwerdeführers auch nach
In-Kraft-Treten des revidierten Art. 37 Abs. 2 UVG am 1. Januar 1999
bestehen.

  2.1.3  Mit dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetz vom 6.
Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ist Art. 37 Abs. 2 UVG ein weiteres Mal geändert worden. Satz 1 dieser
Bestimmung lautet nunmehr neu: "In Abweichung von Artikel 21 Absatz 1 ATSG
werden in der Versicherung der Nichtberufsunfälle die Taggelder, die während
den ersten zwei Jahren nach dem Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn
der Versicherte den Unfall grobfahrlässig herbeigeführt hat." Nach Art. 21
Abs. 1 ATSG können die Geldleistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt
oder in schweren Fällen verweigert werden, wenn die versicherte Person den
Versicherungsfall vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines
Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert hat. Der
Einschub "In Abweichung von Artikel 21 Absatz 1 ATSG" hat am materiellen
Gehalt von Art. 37 Abs. 2 Satz 1 UVG nichts geändert (Urteil K. vom 2.
Februar 2005 [U 233/04] Erw. 1).

  Im Bericht "Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht" der
Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit

vom 26. März 1999 (BBl 1999 4523 ff.) wurde bei den Ausführungen zu Art. 27
ATSG, dem heutigen Art. 21 ATSG, auf die Änderung vom 9. Oktober 1998
betreffend die "Grobfahrlässigkeitskürzungen bei Nichtberufsunfall"
hingewiesen. Die Kommission schlug unter Hinweis auf Art. 37 Abs. 2 UVG vor,
"dass im Grundsatz nur noch Kürzungen bei Vorsatz zugelassen, im UVG aber
gewisse Ausnahmen statuiert werden müssen, um dort die heutige Regelung
(...) weiterhin gelten zu lassen" resp. "in Artikel 37 Absatz 2 von der
Lösung gemäss parlamentarischer Initiative auszugehen und diese als
Abweichung von Art. 27 ATSG auszugestalten" (BBl 1999 4566 ff.). Im
Ständerat führte der Kommissionssprecher zu Art. 27 ATSG aus, die vom
Nationalrat beschlossene Regelung stelle einen breit abgestützten Kompromiss
dar. Es könne an dieser Stelle wieder einmal darauf aufmerksam gemacht
werden, dass mit dem Allgemeinen Teil grundsätzlich keine materiellen
Änderungen der geltenden gesetzlichen Regelungen vorgenommen werden sollen.
Im Bereich der Leistungskürzungen seien in letzter Zeit bereits einige
Verbesserungen für die Versicherten geschaffen worden u.a. durch die
aufgrund der parlamentarischen Initiative Suter erarbeiteten Beschlüsse, die
ebenfalls eine breit abgestützte Kompromisslösung darstellten. Im Hinblick
auf die nach langem Ringen erzielten Kompromisse müssten weiter gehende
Anträge abgelehnt werden (Amtl. Bull. 2000 S 179).

  2.2  Die Übergangsbestimmungen des Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts halten in Art. 82 Abs. 1 ATSG Folgendes fest:
"Materielle Bestimmungen dieses Gesetzes sind auf die bei seinem
Inkrafttreten laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen nicht
anwendbar. Wegen Selbstverschulden gekürzte oder verweigerte Invaliden- oder
Hinterlassenenrenten werden jedoch auf Antrag überprüft und gegebenenfalls
frühestens vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an auf Grund von Artikel 21
Absatz 1 und 2 neu festgesetzt."
  Eine inhaltlich gleich lautende Regelung enthielt bereits Art. 90 Abs. 2
des ATSG-Entwurfs der Kommission des Ständerates vom 27. September 1990 (BBl
1991 II 211). Der Bundesrat hielt in seiner Stellungnahme vom 17. April 1991
hiezu fest, die mildere Wertung des Selbstverschuldens könne bei der
Festsetzung neuer und Überprüfung laufender Renten hier und da nicht zu
unterschätzende finanzielle Folgen haben. So rechne die SUVA beispielsweise
mit einem Mehraufwand von etwa 15 Millionen Franken pro Jahr

und einer eventuellen Prämienanhebung (BBl 1991 II 916). Im weiteren
Gesetzgebungsverfahren erfuhr Art. 90 Abs. 2 resp. der heutige Art. 82 Abs.
1 ATSG keine für die vorliegenden Belange bedeutsame Änderung mehr (vgl.
UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N 1 zu Art. 82).

  2.3  In Art. 118 Abs. 4 UVG fehlt ein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass
Art. 82 Abs. 1 Satz 2 ATSG nicht anwendbar ist. Daraus lässt sich indessen
nicht - im Umkehrschluss aus Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 UVG - folgern,
gestützt auf Art. 37 Abs. 2 UVG in der bis 31. Dezember 1998 gültig
gewesenen Fassung wegen Grobfahrlässigkeit gekürzte Invalidenrenten der
Unfallversicherung gelangten auf Antrag ab 1. Januar 2003 voll zur
Ausrichtung. Die Materialien zum Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts zeigen, dass die Kürzungsordnung im Bereich der
Unfallversicherung nicht geändert werden sollte (Erw. 2.1.3). Diese
Feststellung trifft wegen des engen Konnexes mit Art. 37 Abs. 2 UVG auch auf
Art. 118 Abs. 4 UVG zu. Es kommt dazu, dass die unbeschränkt rückwirkende
Anwendung dieser am 9. Oktober 1998 von den Räten beschlossenen
Übergangsbestimmung diskussionslos wegen der finanziellen Konsequenzen
abgelehnt worden war (Erw. 2.1.2). Deshalb und in Anbetracht der kurzen
Zeitspanne bis zur Verabschiedung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts am 6. Oktober 2000 hätte der Gesetzgeber
unzweifelhaft Art. 118 Abs. 4 UVG aufgehoben, wenn er Art. 82 Abs. 1 Satz 2
ATSG ohne Einschränkung auch im Bereich der Unfallversicherung angewendet
haben wollte.
  Art. 118 Abs. 4 UVG ist somit auch unter der Herrschaft des ATSG weiterhin
anwendbar.