Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 325



Urteilskopf

131 V 325

  44. Auszug aus dem Urteil i.S. M. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
  U 308/03 vom 26. August 2005

Regeste

  Art. 38, Art. 60 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2 ATSG; Art. 106 UVG; Art. 104 MVG:
Fristenstillstand bei negativer kantonaler Regelung.

  Keine Anwendung des Fristenstillstandes gemäss ATSG auf mehrmonatige
Beschwerdefristen, wenn die kantonale Regelung dies (noch) nicht vorsieht.
Insofern umfasst die Übergangsbestimmung des Art. 82 Abs. 2 ATSG auch
negative kantonale Regelungen. (Erw. 4.2 f.)

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 325

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.
  [2.1-2.3: Rechtliche Grundlagen; vgl. BGE 131 V 316 Erw. 3.1-3.3]

  2.4  Im Kanton Zürich wird das Verfahren in sozialversicherungsrechtlichen
Streitigkeiten durch das Gesetz über das Sozialversicherungsgericht vom 7.
März 1993 (GSVGer; LS 212.81) geregelt. Dieses bestimmt in § 13 in der bis
Ende 2004 geltenden Fassung, dass "die gesetzlichen und richterlichen
Fristen, die nach Tagen bestimmt sind", stillstehen
a. vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern;
b. vom 15. Juli bis und mit dem 15. August;
c. vom 18. Dezember bis und mit dem 1. Januar.

  Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich räumte - in einem
früheren Entscheid - zwar ein, es lasse sich aufgrund des Wortlautes dieser
Bestimmung die Auffassung vertreten, die Vorschrift umfasse sämtliche
Fristen und bezwecke eine Abgrenzung lediglich gegenüber den Terminen (d.h.
der auf ein bestimmtes Datum festgesetzten richterlichen Fristen). Auch
treffe es zu, dass der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang (Einführung
des Art. 22a VwVG) und das Postulat einer Vereinheitlichung des
sozialversicherungsrechtlichen Verfahrens für eine generelle Anwendbarkeit
der Bestimmung des § 13 GSVGer sprächen. Das kantonale Gericht erkannte
jedoch, dass diese Norm nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck sowie den
Besonderheiten des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens nach UVG (längere
Beschwerdefrist, vorausgehendes Einspracheverfahren) auf die nach Monaten
bestimmte Frist des Art. 106 Abs. 1 UVG (in der bis Ende 2002 gültigen
Fassung) nicht anwendbar sei. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat
diese Beurteilung weder als willkürlich befunden noch darin einen Verstoss
gegen Bundesrecht erblickt, nachdem seinerzeit gegen den kantonalen
Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben worden war (SVR 1998 UV Nr.
10 S. 27 Erw. 2c).
  (...)

Erwägung 4

  4.

  4.1  Das UVG in der bis Ende 2002 geltenden Fassung kannte im Gegensatz zu
Art. 96 AHVG (in Kraft bis Ende 2002), welcher die Art. 20 bis 24 VwVG
anwendbar erklärte, keine Vorschrift, wonach die Bestimmungen über die
Fristen gemäss VwVG auch im kantonalen Beschwerdeverfahren gemäss Art. 108
UVG anwendbar seien. Insbesondere fand die mit der Revision des OG

vom 4. Oktober 1991 auf den 15. Februar 1992 in Kraft getretene Bestimmung
des Art. 22a VwVG über den Fristenstillstand im Verwaltungsverfahren auf das
erstinstanzliche Beschwerdeverfahren nach UVG keine Anwendung (RKUV 1994 Nr.
U 194 S. 208). Anderseits schloss das UVG die Anwendung kantonalrechtlicher
Fristenstillstandsbestimmungen im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren
nicht aus (BGE 116 V 265). Es war somit bisher den Kantonen anheimgestellt,
ob sie für das Beschwerdeverfahren nach Art. 108 UVG Gerichtsferien vorsehen
wollten oder nicht (SVR 1998 UV 10 S. 26 Erw. 2a).

  4.2  (vgl. BGE 131 V 323 Erw. 5.2)

  4.3  Die Argumente der Versicherten, welche für die Anwendung des ATSG und
seiner Bestimmungen zum Fristenstillstand plädiert, dringen nicht durch.
Art. 82 Abs. 2 ATSG räumt dem kantonalen Gesetzgeber für die Anpassung an
das ATSG eine Übergangsfrist von fünf Jahren ein, kantonale Bestimmungen,
die mit Bundesrecht (insbesondere mit Art. 60 und 61 ATSG) nicht vereinbar
sind, anzupassen (vgl. Erw. 4.2 hievor). Mit dieser einzigen
verfahrensrechtlichen Übergangsbestimmung hat sich der Gesetzgeber für eine
kantonal unterschiedliche Verfahrensordnung während längerer Zeit
entschieden. Er hat damit insbesondere auch in Kauf genommen, dass der
Fristenstillstand in der Sozialversicherungsrechtspflege je nach kantonaler
Verfahrensordnung unterschiedlich ausfällt. Es geht nicht darum, dass die
Kantone damit befugt wären, über das In-Kraft-Treten des Bundesrechts zu
bestimmen, denn spätestens am 1. Januar 2008 müssen die kantonalen
Regelungen an das ATSG angepasst worden sein; der Bundesgesetzgeber hat die
intertemporalrechtliche Weichenstellung in Art. 82 Abs. 2 ATSG vorgenommen.
Das ATSG ist zwar darauf angelegt, dass formelle Bestimmungen (z.B. für das
Verwaltungsverfahren) grundsätzlich sofort in Kraft treten, jedoch besteht
eine Ausnahme in Art. 82 Abs. 2 ATSG, welche für das Rechtspflegeverfahren
zwingend ist, auch wenn damit während der Übergangszeit das angestrebte Ziel
der Rechtseinheit (noch) nicht erreicht wird. Die Argumentation mit "Sinn
und Zweck" des ATSG ist in diesem Zusammenhang untauglich, weil dieses
Auslegungselement im intertemporalrechtlichen Kontext nicht mit der
Wünschbarkeit einer einheitlichen Regelung der Fristberechnung inkl.
Fristenstillstand gleichgesetzt werden darf (vgl. BGE 116 V 270 Erw. 5a).

  Wenn die Beschwerdeführerin schliesslich geltend macht, nach § 13 GSVGer
seien die Fristen den Parteien in der Rechtsmittelbelehrung anzuzeigen, ist
darauf hinzuweisen, dass diese kantonale Regelung die SUVA als
eidgenössische Institution nicht bindet, da sie im Rahmen des
Verwaltungsverfahrens - zu welchem auch der Erlass des Einspracheentscheides
gehört - nicht dem kantonalen Recht unterworfen ist. Ob dies bei einer
kantonalen Behörde - wie z.B. der IV-Stelle - anders ist, braucht hier nicht
entschieden zu werden.

  4.4  § 13 Abs. 3 GSVGer in der bis Ende 2004 geltenden Fassung unterwirft
lediglich die nach Tagen bestimmte Frist dem Fristenstillstand. Daraus hat
sich eine konstante zürcherische und vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht geschützte Praxis entwickelt, wonach Monatsfristen wie
diejenige von drei Monaten gemäss Art. 106 Abs. 1 UVG in der bis Ende 2002
gültigen Fassung dem Regime des Fristenstillstandes nicht unterworfen sind
(SVR 1998 UV Nr. 10 S. 27 Erw. 2c). Diese negative Regelung hat längstens
bis Ende 2007 resp. bis zur vorher erfolgten Einführung des
Fristenstillstands für Monatsfristen Bestand (vgl. Erw. 4.2 f. hievor).
Deshalb ist die vorinstanzliche Beschwerde offensichtlich verspätet
eingereicht worden und das kantonale Gericht zu Recht darauf nicht
eingetreten.