Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 196



131 V 196

28. Auszug aus dem Urteil i.S. Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt
gegen K. und Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt

    C 62/04 vom 26. April 2005

Regeste

    Art. 51 Abs. 1 und Art. 58 AVIG: Insolvenzentschädigung.

    Die Aufzählung der Insolvenztatbestände in Art. 51 Abs. 1 und Art. 58
AVIG ist abschliessend. (Erw. 4.1.2)

    Art. 39 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 SchKG: Ordentliche Konkursbetreibung;
örtliche Zuständigkeit.

    Ist ein Schuldner als Aktiengesellschaft im Handelsregister
eingetragen, unterliegt er der ordentlichen Konkursbetreibung am Sitz
der juristischen Person. Daran ändert die Löschung des Domizils der
Aktiengesellschaft im Handelsregister nichts. (Erw. 4.2)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.

    4.1.1  Aus den Akten ergibt sich, dass über die Firma P. AG (bisher)
kein Konkurs eröffnet worden ist. Unter den vorliegenden Umständen
fällt als Grundlage für die von der Beschwerdegegnerin beantragte
Insolvenzentschädigung Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG in Betracht, wonach -
in sachlicher Hinsicht - ein Anspruch zu bejahen ist, wenn "der Konkurs
nur deswegen nicht eröffnet wird, weil sich infolge offensichtlicher
Überschuldung des Arbeitgebers kein Gläubiger bereit findet, die Kosten
vorzuschiessen". Diese Bestimmung ist auf den 1. Januar 1992 in Kraft
getreten. Davor konnten Lohnausfälle nicht gedeckt werden, wenn weder
die versicherte Person noch ein dritter Gläubiger bereit war, nach der
erfolgten Konkursandrohung den Kostenvorschuss für das Konkursverfahren zu
leisten, weil nicht voraussehbar war, dass diese Kosten wieder eingebracht
werden konnten. Unter diesen Umständen wurde der Konkurs nicht eröffnet,
womit auch der Insolvenztatbestand des Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG nicht
erfüllt war. Da aus der Sicht der Arbeitslosenversicherung kein Anlass
bestand, diesen Fall offensichtlicher Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers
anders zu behandeln als den Fall, in welchem der Konkurs tatsächlich
eröffnet werden konnte, wurde Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG geschaffen
(Botschaft zu einer Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes
vom 23. August 1989, BBl 1989 III 377 ff., 400). Diese Norm setzt im Sinne
einer doppelten Kausalität voraus, dass die Nichteröffnung des Konkurses
einzig durch das Fehlen der Bereitschaft der Gläubiger bedingt ist,
die Kosten für das Konkursverfahren vorzuschiessen; der Grund für diese
mangelnde Bereitschaft wiederum liegt in der offensichtlichen Überschuldung
des Arbeitgebers (JEAN-FRITZ STÖCKLI, in: STAEHELIN/BAUER/STAEHELIN
[Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs, SchKG III, Basel 1998, N 20 zu Art. 51 AVIG; URS BURGHERR,
Die Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als
versichertes Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 72). Gefordert ist dabei, dass
das zwangsvollstreckungsrechtliche Verfahren jedenfalls das Stadium der
Konkursandrohung überschritten hat (so BURGHERR, aaO, S. 73; nach STÖCKLI,
aaO, N 20 zu Art. 51 AVIG, ist der Tag des formellen Nichteintretens auf
das Konkursbegehren der massgebende Zeitpunkt; auch der Bundesrat ist in
seiner Botschaft davon ausgegangen, dass das gestellte Konkursbegehren
eine der Voraussetzungen für den Bezug von Insolvenzentschädigung bildet,
wie sein Hinweis auf alt Art. 169 Abs. 2 SchKG zeigt [BBl 1989 III 400]).

    4.1.2  Ob es genügt, dass die beteiligten Gläubiger im Anschluss
an die Konkursandrohung wegen offensichtlicher Überschuldung des
Arbeitgebers darauf verzichten, ein Konkursbegehren zu stellen, oder ob
Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG tatsächlich ein gestelltes Konkursbegehren
voraussetzt, braucht im vorliegenden Fall nicht beantwortet zu werden,
weil das Zwangsvollstreckungsverfahren zweifellos nicht einmal bis
zur Konkursandrohung gediehen ist. Es ist aber durchaus sinnvoll, aus
insolvenzentschädigungsrechtlichem Gesichtswinkel ein fortgeschrittenes
Zwangsvollstreckungsverfahren vorauszusetzen, weil bekanntlich
viele Schuldner erst unter dem Druck der unmittelbar bevorstehenden
Konkurseröffnung ihren Zahlungspflichten nachkommen. Da die Regelung
der Insolvenzentschädigung gemäss Art. 51 ff. AVIG nach den im SchKG
definierten zwangsvollstreckungsrechtlichen Stadien ausgerichtet ist,
muss sich auch die Auslegung der einzelnen Anspruchsvoraussetzungen
an die SchKG-rechtlich definierten Vorgaben halten. Es kann unter
arbeitslosenversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht Sache
der versicherten Person sein, darüber zu entscheiden, ob weitere
Vorkehren zur Realisierung der Lohnansprüche erfolgsversprechend
sind oder nicht (Urteil H. vom 3. Dezember 2003, C 148/03). Die
"grosszügigere" Auslegung des Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG durch
das kantonale Gericht, wonach in bestimmten Fällen unabhängig vom
Stand des zwangsvollstreckungsrechtlichen Verfahrens Anspruch auf
Insolvenzentschädigung besteht, falls nur schon die Überschuldung
des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin offensichtlich ist, kommt im
Ergebnis einer Erweiterung der Insolvenztatbestände gleich. Der - mit
Blick auf die abschliessende Nennung der zu einer Insolvenzentschädigung
Anlass gebenden Tatbestände im Gesetz (Art. 51 Abs. 1 und Art. 58 AVIG;
GERHARDS, Grundriss des neuen Arbeitslosenversicherungsrechts, Bern
1996, S. 175 Rz 78; THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz
508; BURGHERR, aaO, S. 68) - unzulässigen Interpretation der Vorinstanz
kann nicht gefolgt werden. Selbst wenn ihr beigepflichtet werden könnte,
wäre ihre Argumentation im vorliegenden Fall gar nicht relevant, weil -
wie sich im Folgenden zeigt - für die Beschwerdegegnerin durchaus die
Möglichkeit bestanden hat, das Konkursverfahren gegen ihre ehemalige
Arbeitgeberin durchzuführen.

    4.2

    4.2.1  Schuldner unterliegen gemäss Art. 39 Abs. 1 SchKG unter
anderem dann der ordentlichen Konkursbetreibung (Art. 159 bis 176
SchKG), wenn sie als Aktiengesellschaft im Handelsregister eingetragen
sind. In zeitlicher Hinsicht wird darauf abgestellt, ob sie zur Zeit der
Einreichung des Fortsetzungsbegehrens im Handelsregister eingetragen waren
(DOMENICO ACOCELLA, in: STAEHELIN/Bauer/ Staehelin [Hrsg.], aaO SchKG I,
Basel 1998, N 11 zu Art. 39). Die Personen, welche im Handelsregister
eingetragen waren, unterliegen, nachdem die Streichung durch das
Schweizerische Handelsamtsblatt (SHAB) bekannt gemacht worden ist, noch
während sechs Monaten der Konkursbetreibung (Art. 40 Abs. 1 SchKG). Diese
Bestimmung ist auf juristische Personen, die erst durch die Eintragung
im Handelsregister entstehen, wie dies für die Aktiengesellschaft, die
Kommanditaktiengesellschaft, die GmbH und die Genossenschaft zutrifft,
nicht anwendbar. Mangels eines betreibungsfähigen Rechtssubjektes kann
daher nach der Löschung des Eintrags die Anhebung oder die Fortsetzung der
Betreibung einer solchen juristischen Person nicht mehr erfolgen (ACOCELLA,
aaO, N 4 zu Art. 40 SchKG, mit Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung).

    4.2.2  Zum absolut notwendigen Statuteninhalt einer
Aktiengesellschaft gehört nach Art. 626 OR unter anderem der Sitz der
Gesellschaft. Eine Sitzverlegung ist somit nur mittels Statutenänderung
möglich. Betreibungsort der Aktiengesellschaft ist gemäss Art. 46
Abs. 2 SchKG zwingend und ausschliesslich der im Handelsregister
eingetragene Sitz. Am Betreibungsort ist auch der Konkurs zu eröffnen
(FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, §
55 Rz 45 f.). Befindet sich eine Aktiengesellschaft in Liquidation, behält
sie ihren Sitz bei (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, aaO, § 55 Rz 159). Hat
die Gesellschaft am Ort des statutarischen Sitzes kein Geschäftslokal,
muss ins Handelsregister eingetragen werden, bei wem sich am Ort des
Sitzes das Domizil befindet (Art. 43 Abs. 1 HRegV).

    4.2.3  Die Firma P. AG hat ihren Sitz in der Stadt B. Als Adresse
der Firma war im Handelsregister zunächst "Strasse X., Stadt B.", und
seit 2001 "c/o Firma S., Strasse X., Stadt B." eingetragen gewesen. Am
... wurden das Domizil der Gesellschaft und das letzte Mitglied des
Verwaltungsrates, am ... wurde die Revisionsstelle im Handelsregister
gelöscht. Eine Sitzverlegung ist offensichtlich nicht vorgenommen worden.
Auf die Aufforderung des Handelsregisteramtes im Sinne von Art. 89 Abs. 1
HRegV hin haben die Beschwerdegegnerin und allenfalls weitere Personen
ihr begründetes Interesse an der Aufrechterhaltung der Eintragung der
Firma P. AG im Handelsregister rechtzeitig innert der 30-tägigen Frist
seit Erscheinen der Publikation im SHAB angemeldet. Das begründete
Interesse an der Aufrechterhaltung der Eintragung der Gesellschaft im
Sinne von Art. 89 Abs. 1 HRegV bestand für die Versicherte zweifellos
in der Perpetuierung der Möglichkeit, das Zwangsvollstreckungsverfahren
gegen die ehemalige Arbeitgeberin fortzuführen. Da die Löschung der
Aktiengesellschaft im Handelsregister erfolgreich verhindert wurde, hätte
es der Versicherten entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts offen
gestanden, beim Betreibungsamt das Fortsetzungsbegehren zu stellen. Dies
wäre ihr mit Blick auf Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer
im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine
Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bis die Kasse ihm mitteilt,
dass sie an seiner Stelle in das Verfahren eingetreten ist, auch zumutbar
gewesen. Die Firma P. AG unterliegt als nach wie vor im Handelsregister
eingetragene Aktiengesellschaft gemäss Art. 39 Abs. 1 SchKG weiterhin
der ordentlichen Konkursbetreibung (Erw. 4.2.1 hiervor). Daran ändert
nichts, dass das Domizil der Gesellschaft am ... im Handelsregister
gelöscht worden ist. Hätte - nach der Argumentation des kantonalen
Gerichts - das fehlende Domizil einer Aktiengesellschaft zur Folge, dass
das Zwangsvollstreckungsverfahren gegen sie nicht mehr angehoben oder
weitergeführt werden könnte, so würde es ihr offen stehen, sich durch
Löschung ihrer Adresse im Handelsregister ganz einfach einer drohenden
Konkurseröffnung zu entziehen, was mit dem Gläubigerschutz nicht vereinbar
wäre. Falls die Beschwerdegegnerin, wie sie im Verfahren vor dem kantonalen
Gericht hat vorbringen lassen, vom Betreibungsamt Basel-Stadt tatsächlich
die Auskunft erhalten hat, die Betreibung könne mangels Domizils nicht
mehr fortgesetzt werden, ist sie falsch beraten worden. Das Betreibungsamt
hätte das Fortsetzungsbegehren der Versicherten, allenfalls nach vorgängig
erfolgter Einrichtung eines Zustelldomizils bei der Vormundschaftsbehörde
oder nach Errichtung einer Beistandschaft für die ehemalige Arbeitgeberin
gemäss Art. 393 Ziff. 4 ZGB (FORSTMOser/Meier-Hayoz/Nobel, aaO, § 20 Rz
43), entgegennehmen müssen.

Erwägung 5

    5.

    5.1  Zusammenfassend ergibt sich, dass es der Beschwerdegegnerin
möglich und zumutbar gewesen wäre, die Eröffnung des Konkurses über ihre
ehemalige Arbeitgeberin zu erwirken. Mit der Konkurseröffnung hätten
die Anspruchsvoraussetzungen zum Bezug von Insolvenzentschädigung gemäss
Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG vorgelegen. Sodann hätte die Versicherte auch
Anrecht auf Insolvenzentschädigung gehabt, wenn der Konkurs nach der
Konkursandrohung oder zumindest nach gestelltem Konkursbegehren (vgl. die
Kontroverse um den massgebenden Zeitpunkt, auf welche in Erw. 4.1 hiervor
hingewiesen wird) nur deshalb nicht eröffnet worden wäre, weil sich auf
Grund offensichtlicher Überschuldung der Aktiengesellschaft kein Gläubiger
bereit gefunden hätte, die Kosten vorzuschiessen (Art. 51 Abs. 1 lit. b
AVIG).

    5.2  Die Beschwerdegegnerin verfügte damit (und verfügt unter Umständen
auch heute noch) über die Möglichkeit, die Anspruchsvoraussetzungen
für die Ausrichtung von Insolvenzentschädigung gemäss Art. 51 Abs. 1
AVIG zu erfüllen. Da sie davon bis zum massgebenden Zeitpunkt des
Verfügungserlasses (21. Oktober 2002; BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen)
nicht Gebrauch gemacht hat und niemand Vorteile aus seiner eigenen
Rechtsunkenntnis ableiten kann (BGE 126 V 313 Erw. 2b mit Hinweisen)
lässt sich die Verneinung des Insolvenzentschädigungsanspruchs durch
die Arbeitslosenkasse nicht beanstanden. Ansprüche aus Treu und
Glauben im Hinblick auf eine allfällige unzutreffende Auskunft des
Betreibungsamtes Basel-Stadt im Zusammenhang mit der Weiterführung
des Zwangsvollstreckungsverfahrens vermögen im vorliegenden Streit um
Insolvenzentschädigung keine Auswirkungen zu zeitigen.