Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 V 164



131 V 164

23. Auszug aus dem Urteil i.S. F. gegen IV-Stelle des Kantons Aargau und
Versicherungsgericht des Kantons Aargau

    I 297/03 vom 3. Mai 2005

Regeste

    Art. 5 VwVG; Art. 97 Abs. 1 und Art. 128 OG; Art. 28 Abs. 2 (in
der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung), Art. 29 Abs. 1
lit. b IVG; Art. 88a Abs. 2 IVV: Durch mehrere Verfügungen geregeltes
Rechtsverhältnis: Anfechtungs- und Streitgegenstand.

    Es ist in anfechtungs- und streitgegenständlicher Hinsicht irrelevant,
ob eine rückwirkende Zusprechung einer abgestuften und/oder befristeten
Invalidenrente in einer oder in mehreren Verfügungen gleichen Datums
eröffnet wird. Es gelten die Grundsätze gemäss BGE 125 V 413. (Erw. 2.2
und 2.3)

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind
grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen und zu beurteilen,
zu denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich -
in Form einer Verfügung - Stellung genommen hat. Insoweit bestimmt die
Verfügung den beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand.
Umgekehrt fehlt es an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer
Sachurteilsvoraussetzung, wenn und insoweit keine Verfügung ergangen ist
(BGE 125 V 414 Erw. 1a mit Hinweisen). Streitgegenstand im System der
nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ist das Rechtsverhältnis, welches
- im Rahmen des durch die Verfügung bestimmten Anfechtungsgegenstandes
- den auf Grund der Beschwerdebegehren effektiv angefochtenen
Verfügungsgegenstand bildet. Anfechtungs- und Streitgegenstand sind
danach identisch, wenn die Verwaltungsverfügung insgesamt angefochten
wird; bezieht sich demgegenüber die Beschwerde nur auf einzelne der
durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisse, gehören die nicht
beanstandeten - verfügungsweise festgelegten - Rechtsverhältnisse zwar
wohl zum Anfechtungs-, nicht aber zum Streitgegenstand (BGE 125 V 414
Erw. 1b in Verbindung mit Erw. 2a).

    2.2  Wird gleichzeitig eine Rente zugesprochen und diese
revisionsweise, in sinngemässer Anwendung von Art. 41 IVG und Art. 88a IVV,
herauf- oder herabgesetzt oder aufgehoben, liegt ein zwar komplexes,
im Wesentlichen jedoch einzig durch die Höhe der Leistung und die
Anspruchsperioden definiertes Rechtsverhältnis vor. Der Umstand
allein, dass Umfang und allenfalls Dauer des Rentenanspruchs über
den verfügungsweise geregelten Zeitraum hinweg variieren, ist unter
anfechtungs- und streitgegenständlichem Gesichtspunkt belanglos. Wird nur
die Abstufung oder die Befristung der Leistungen angefochten, wird damit
die gerichtliche Überprüfungsbefugnis nicht in dem Sinne eingeschränkt,
dass unbestritten gebliebene Bezugszeiten von der Beurteilung
ausgeklammert bleiben (BGE 125 V 417 Erw. 2d mit Hinweisen). Die Frage,
ob diese Grundsätze auch gelten, wenn die ursprüngliche und die zeitlich
direkt anschliessende (höhere oder tiefere) Rente in zwei separaten
Verfügungen gleichen Datums zugesprochen werden, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Urteil P. vom 24. September 1999 (I 364/98)
verneint. In dem in gleicher Sache ergangenen Urteil P. vom 22. August
2001 (I 11/00; AHI 2001 S. 277) hat das Gericht hingegen offen gelassen,
ob daran festgehalten werden kann. Im Urteil L. vom 28. August 2000
(I 486/99) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die Frage bejaht.

    2.3  Nach BGE 125 V 413 liegt materiell ein einziges Rechtsverhältnis
vor, wenn eine Leistung rückwirkend zugesprochen, diese aber gleichzeitig
befristet, herauf- oder herabgesetzt wird. Daran ist - entgegen dem
erwähnten Urteil I 364/98 - in allen Verfügungslagen festzuhalten:

    2.3.1  Die Zusprechung und (rückwirkende) Revision der Rente sind
Gegenstand ein und derselben Verfügung. Darauf beruht BGE 125 V 413. Es
dürfte sich um den Regelfall handeln. Die gerichtliche Überprüfung ist
nach dem Gesagten nicht eingeschränkt.

    2.3.2  Zusprechung der Leistung und deren Anpassung an inzwischen
eingetretene veränderte Verhältnisse werden (z.B. aus technischen Gründen)
in zwei oder mehreren separaten Verfügungen gleichen Datums angeordnet.
Dieser Sachverhalt war gegeben in den Urteilen P. (I 364/98, I 11/00)
und liegt auch hier vor. Für die gerichtliche Überprüfbarkeit kann es
keinen Unterschied machen, ob die IV-Stelle eine oder mehrere Verfügungen
redigiert und eröffnet. Denn am Verfügungsinhalt ändert sich nichts.

    2.3.3  Schliesslich stellt sich die Frage, wie es sich mit der
gerichtlichen Prüfungsbefugnis verhält, wenn die leistungszusprechende
Verfügung und eine allfällige zweite oder weitere Verfügung über deren
rückwirkende Abänderung zufolge Anpassung an eingetretene veränderte
Verhältnisse zeitlich auseinander liegen. Dazu gilt es festzustellen, dass
ein zeitlich gestaffelter Verfügungserlass, soweit er die rückwirkende
Festlegung des Invaliditätsgrades betrifft, aus den in BGE 125 V 413
dargelegten materiellrechtlichen Gründen unzulässig ist. Eine rückwirkend
vorgenommene befristete und/oder abgestufte Rentenzusprechung hat vielmehr
aus einem einheitlichen Beschluss der IV-Stelle heraus zu erfolgen und ist
demzufolge zeitgleich verfügungsweise zu eröffnen (Rz 3000 f. in Verbindung
mit Rz 3008 des vom Bundesamt für Sozialversicherung herausgegebenen
Kreisschreibens über das Verfahren in der IV [KSVI]; vgl. auch Rz 3040
KSVI ["Beschluss betreffend Invalidität/Hilflosigkeit"]). Nur eine solche
Betrachtungsweise ist mit dem Grundsatz vereinbar, dass die Abklärungs-,
Beurteilungs-, Beschlusses- und Verfügungspflicht der IV-Stelle stets
den gesamten Zeitraum bis zum Verfügungserlass umfasst (BGE 129 V 223
Erw. 4.1 in fine). Antizipierte Invaliditätsschätzungen mit in die Zukunft
gerichteten Rentenherabsetzungen und/oder -befristungen sind im Bereiche
der Invalidenversicherung ohnehin unzulässig (BGE 97 V 58).

    2.3.4  In diesem Sinne ist die im Urteil P. vom 22. August 2001
(I 11/00; AHI 2001 S. 279 Erw. 1b) offen gelassene Frage im Sinne des
erwähnten Urteils L. (I 486/99) dahin gehend zu beantworten, dass es
in anfechtungs- und streitgegenständlicher Hinsicht irrelevant ist, ob
eine rückwirkende Zusprechung einer abgestuften und/oder befristeten
Invalidenrente in einer oder in mehreren Verfügungen gleichen Datums
eröffnet wird. Es gelten die Grundsätze gemäss BGE 125 V 413.