Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 I 85



131 I 85

12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. Hugo-Lötscher und Mitb. gegen Staatsrat des Kantons Wallis
(Staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.309/2004 vom 27. Oktober 2004

Regeste

    Rechtsgleiches Verhältniswahlrecht; überkommene Einteilung des Kantons
für die Wahl des Grossen Rates in die historischen, in ihrer Grösse stark
voneinander abweichenden, teils sehr kleinen Bezirke und Halb-Bezirke. Art.
8 Abs. 1, Art. 34, Art. 39 Abs. 1 BV; § 84 KV/VS.

    Bundesrechtliche Anforderungen an das politische System der Kantone
(E. 2.2). Das Wahlsystem für den Walliser Grossen Rat entspricht diesen
Anforderungen (E. 2.3 und 2.4). Es ist zudem in der Kantonsverfassung
selber festgelegt und daher für das Bundesgericht nicht überprüfbar
(E. 2.4), wobei seine innere Rechtfertigung nicht in Frage steht (E. 2.5).

Sachverhalt

    Im Amtsblatt vom 23. April 2004 veröffentlichte der Staatsrat des
Kantons Wallis seinen Beschluss vom 7. April 2004, "welcher die Zahl
der von jedem Bezirk für die Legislaturperiode 2005-2009 zu wählenden
Abgeordneten festsetzt". Danach werden die 130 Abgeordneten-Sitze wie folgt
auf die 14 Bezirke und Halb-Bezirke verteilt (in Klammern die Verteilung
für die laufende Legislaturperiode):

      Goms                   2      (3) Östlich Raron          2      (2)

      Brig                  12     (12) Visp                  13     (13)

      Westlich Raron         4      (4) Leuk                   6      (6)

      Siders                18     (18) Ering                  5      (5)

      Sitten                17     (17) Gundis                10     (10)

      Martinach             15     (15) Entremont              6      (6)

      St-Maurice             5      (5) Monthey               15     (14)

    Nach diesem Beschluss, der mit seiner Veröffentlichung am 23. April
2004 in Kraft trat, wird in der kommenden Legislaturperiode das Goms
einen Sitz verlieren und Monthey einen gewinnen.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. Mai 2004 wegen Verletzung
des Stimmrechts beantragen Susanne Hugo-Lötscher, Rolf Eggel, German
Eyer, Marc Kalbermatter, Charles-Marie Michellod, Peter Bachmann, Ingrid
Schmid Birri, Reinhold Berchtold, Germaine Zenhäusern und Willi Amherd,
diesen Staatsratsbeschluss aufzuheben und die Akten zur Neubehandlung
und Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an den Staatsrat zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Die Beschwerdeführer machen unter Berufung auf BGE 129 I
185 geltend, die vom Staatsrat im angefochtenen Beschluss vorgenommene
Verteilung der Abgeordneten-Sitze auf die Bezirke und Halb-Bezirke bewirke,
dass in den kleinen Bezirken keine echte Proporz-Wahl zustande komme. Das
habe sich 2001 gezeigt, als die SP im Goms mit 18.5 %, in Östlich Raron
mit 11.4 % und in Westlich Raron mit 12.7 % der Parteistimmen keinen Sitz
erhalten habe. Durch derart hohe Quoren in den kleinen Wahlkreisen würden
nicht nur unbedeutende Splittergruppen, sondern auch Minderheitsparteien
mit einem gefestigten Rückhalt in der Bevölkerung, von einer Vertretung
im Grossen Rat ausgeschlossen. Die geltende Bezirkseinteilung gewährleiste
daher nicht, dass in allen Wahlkreisen bedeutende Minderheiten in gleicher
Weise die Chance auf eine Vertretung im Grossen Rat hätten. Dies sei mit
einem rechtsgleichen Wahlverfahren nicht vereinbar.

    2.2  Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems
weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV verpflichtet sie lediglich, die
Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen (repräsentativen
oder demokratischen) Formen zu sichern. Diesen verfassungsrechtlichen
Anforderungen genügen grundsätzlich sowohl das Mehrheits- als auch
das Verhältniswahlverfahren (BGE 129 I 185 E. 3.1; ZBl 95/1994 S. 479
E. 2). Die Bundesverfassung verlangt nicht, dass die Kantone ihr
Parlament nach einem reinen Verhältniswahlrecht wählen. Schranke
für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens bilden allerdings die
Wahl- und Abstimmungsfreiheit von Art. 34 BV und das die politische
Gleichberechtigung garantierende Rechtsgleichheitsgebot von Art. 8 Abs. 1
BV. Da jede Abweichung vom Proporz zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung
von Wählerstimmen führt, lassen diese Garantien die Aufnahme proporzfremder
Elemente ins Wahlverfahren nur zu, wenn dafür ausreichende sachliche
Gründe bestehen (ZBl 95/1994 S. 479 E. 2b). Eine auf der überkommenen
Gebietsorganisation beruhende Einteilung in verschieden grosse Wahlkreise
hält vor der Wahlrechtsgleichheit nur stand, wenn die kleinen Wahlkreise,
sei es aus historischen, föderalistischen, kulturellen, sprachlichen,
ethnischen oder religiösen Gründen, Einheiten mit einem gewissen
Zusammengehörigkeitsgefühl bilden. Je stärker ein Wahlkreis eine eigene
Identität hat, einen "Sonderfall" darstellt, umso eher rechtfertigt
es sich, ihm - auf Kosten des Proporzes - einen Vertretungsanspruch im
Parlament einzuräumen (Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 129 I
185 E. 3.1).

    2.3  Die Verfassung des Kantons Wallis bestimmt für die Besetzung
des Grossen Rates die Anzahl der Abgeordneten und deren Ersatzmänner (je
130, Art. 84 Abs. 1 KV), legt die Bezirke und die beiden Halb-Bezirke
als Wahlkreise fest und regelt das Verfahren, nach welchem die Sitze
auf diese verteilt werden (Art. 84 Abs. 2 und 3 KV). Sie auferlegt dem
Staatsrat, die Sitzverteilung nach jeder Volkszählung neu festzusetzen
(Art. 84 Abs. 4 KV) und schreibt insbesondere auch vor, dass die Wahlen
"bezirks- und halbbezirksweise nach dem Proportional-Wahlverfahren"
zu erfolgen haben (Art. 84 Abs. 6 KV).

    Die Kantonsverfassung garantiert somit, wie der Staatsrat in der
Vernehmlassung unwidersprochen ausführt, die proportionale Vertretung
der Parteien nur innerhalb des Wahlkreises und nicht eine proportionale
Vertretung der politischen Kräfte "in der Gesamtheit des Parlaments";
sie schreibe lediglich einen "Bezirksproporz" vor. Da die Kantone nach
konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts frei sind, für die Wahl
ihrer Parlamente das Proporz- oder das Majorzwahlverfahren vorzusehen, ist
grundsätzlich auch nicht zu beanstanden, dass die Verfassung des Kantons
Wallis das Proportional-Wahlverfahren auf den einzelnen Wahlkreis und nicht
wahlkreisübergreifend auf das ganze Kantonsgebiet bezieht (vgl. dazu auch
die Debatte im Ständerat zur Gewährleistung der Verfassung des Kantons
Graubünden, die für die Wahl des Grossen Rates das Majorzverfahren
vorsieht: AB 2004 S S. 260 ff.).

    Darin liegt ein grundlegender Unterschied zum Zürcher Fall, auf den
sich die Beschwerdeführer berufen (BGE 129 I 185), wie auch zum Berner
(ZBl 95/1994 S. 479) und zum in der gleichen Sitzung behandelten Aargauer
Fall (1P.406/2004), schreiben doch die Verfassungen dieser Kantone -
anders als diejenige des Kantons Wallis - das Verhältniswahlrecht
wahlkreisübergreifend vor und garantieren damit den proportionalen
Vertretungsanspruch der Parteien in Bezug auf den ganzen Kanton. Die Rüge,
der angefochtene Beschluss, mit welchem der Staatsrat bloss seiner ihm von
Art. 84 Abs. 4 KV auferlegten Verpflichtung zum mathematischen Nachvollzug
der Verteilung der Parlamentssitze auf die Bezirke und Halb-Bezirke nach
der Volkszählung vom 4. Dezember 2000 nachkam, verletze ihr Stimmrecht,
ist daher unbegründet.

    2.4  Überdies bestimmt die Verfassung des Kantons Wallis die
grundsätzlichen Modalitäten des Wahlverfahrens wie die Zahl und die
Verteilung der Abgeordneten-Sitze sowie die Wahlkreise selber. Insbesondere
wird auch die umstrittene bezirks- und halbbezirksweise Geltung des
Proportional-Wahlverfahrens in Art. 84 Abs. 6 KV vorgeschrieben, welcher
vom Bundesgericht nach der geltenden Rechtsprechung grundsätzlich auch
nicht vorfrageweise überprüft wird (BGE 121 I 138 E. 5c; 116 Ia 359 E. 4;
111 Ia 239; 104 Ia 219).

    Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer in der Beschwerdeergänzung
trifft es nicht zu, dass sich das übergeordnete Recht nach der Genehmigung
des zuletzt 1985 revidierten Art. 84 KV zu ihren Gunsten geändert hätte,
was nach der zitierten Rechtsprechung dessen vorfrageweise Überprüfung
auf seine Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht durch das Bundesgericht
ausnahmsweise zuliesse: Die neue Bundesverfassung vom 18. April 1999 stellt
prinzipiell eine blosse Nachführung der Verfassung vom 29. Mai 1874 dar und
hat insbesondere bei der Regelung der Wahl- und Abstimmungsfreiheit keine
inhaltlichen, über eine Nachführung hinausgehenden Änderungen mit sich
gebracht (vgl. Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November
1996, BBl 1997 I 191 zu Art. 30 BV). Ob an dieser in der Lehre stark
kritisierten Rechtsprechung (vgl. dazu WALTER KÄLIN, Das Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994, S. 146 ff.) festgehalten werden
kann oder ob sie aufgegeben oder wenigstens für die Fälle gelockert
werden müsste, in denen sich die tatsächlichen Verhältnisse seit der
Gewährleistung der umstrittenen Verfassungsbestimmungen durch die
Bundesversammlung erheblich geändert haben, kann hier offen bleiben.

    2.5  Die Gliederung des Kantons Wallis beruht zudem auf der
historischen, bereits im Mittelalter bestehenden Aufteilung des Gebiets
in Zenden ("dizains"), welchen ein Meier oder Kastlan (major, châtelain)
vorstand und die weitgehend autonom waren. 1798 und 1802 kamen zu
den sieben alten fünf Unterwalliser Zenden dazu. Unter französischer
Herrschaft wurde Raron zweigeteilt und das "département du Simplon" in
dreizehn Kantone aufgeteilt. Die Verfassung von 1815 teilte den Kanton
wiederum in dreizehn Zenden auf. Mit der Verfassung von 1848 wurde der
Begriff Zenden durch Bezirk (bzw. district) ersetzt (RACHEL SIGGEN-BRUTTIN,
"Dizains", in: Dictionnaire historique de la Suisse, publ. électronique,
version du 1.3.2004, www.dhs.ch). Die Walliser Bezirke waren somit
seit jeher Einheiten mit erheblicher Autonomie und entsprechendem
Zusammengehörigkeitsgefühl; auch die Beschwerdeführer behaupten (zu Recht)
nicht, dass die Bezirke zu sinnentleerten, im sozialen und politischen
Leben bedeutungslos gewordenen formalen Einheiten verkommen seien. Das
Bundesgericht hat denn auch in den Entscheiden, in denen es sich mit
Grossratswahlen im Kanton Wallis zu beschäftigen hatte, nie daran Anstoss
genommen, dass die Bezirke bevölkerungsmässig stark voneinander abweichen
und teilweise sehr klein sind, sodass die natürlichen Quoren entsprechend
sehr unterschiedlich und teilweise sehr hoch sind (BGE 107 Ia 217;
103 Ia 603). Der Vertretungsanspruch der Bezirke ist daher ausgewiesen,
weshalb es mit Art. 34 BV vereinbar ist, ihn in den kleinen Bezirken
auch zu Lasten des Parteienproporzes durchzusetzen.