Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 I 476



Urteilskopf

131 I 476

  48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde)
  6P.22/2005 vom 12. Oktober 2005

Regeste

  Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK; Art. 32 Abs. 2 BV; Art.
5 Abs. 4 und 5, Art. 7 Abs. 2, Art. 10b Abs. 1 und 3 OHG; § 107 Abs. 2
StPO/AG; Anspruch auf Befragung des minderjährigen Opferzeugen;
Zeugnisverweigerung.

  Der Anspruch, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, ist dann
absolut, wenn das Zeugnis für den Schuldspruch ausschlaggebend ist (E. 2.2).

  Dieser Anspruch wird verletzt, wenn der Zeuge über vier Jahre nach der
ersten Befragung jegliche ergänzende Aussage verweigert und das Gericht
gleichwohl auf die erste, beweismässig entscheidende Aussage abstellt (E.
2.3.4).

Sachverhalt ab Seite 476

  X. arbeitete im Behindertenheim Y. in Hausen bei Brugg als Pfleger in
einer der Abteilungen und auf einer anderen Abteilung zusätzlich als
Nachtwache. Es wird ihm vorgeworfen, während seines Dienstes als Nachtwache
am 10. September 2000 den Heimbewohner A., geboren am 13. Oktober 1982 und
auf der geistigen Entwicklungsstufe eines Primarschülers in der fünften
Klasse, zwischen 23.00 und 23.30 Uhr in dessen Einzelzimmer aufgesucht, ihm
zwischen

die Beine gegriffen, seinen nackten Penis geküsst und in den Mund genommen
zu haben.

  Mit Urteil vom 16. März 2004 sprach das Bezirksgericht Brugg X. der
sexuellen Handlungen mit Abhängigen gemäss Art. 188 Ziff. 1 StGB schuldig
und verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von acht Monaten.
Eine von X. dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons
Aargau am 9. Dezember 2004 ab.

  X. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, es sei das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. Dezember 2004 wegen Verletzung
verfassungsmässiger Rechte und von Verfahrensgarantien aufzuheben.

  Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Der Beschwerdeführer rügt zunächst, das Obergericht des Kantons Aargau
habe Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK sowie Art. 32 Abs. 2 BV
verletzt, indem es die erste Einvernahme des angeblichen Opfers zum Beweis
zugelassen habe. Die Begründung im angefochtenen Urteil, weshalb die erste
Aussage verwertbar sein solle, sei willkürlich und verletze den Grundsatz
der Unschuldsvermutung (Art. 9 und Art. 32 Abs. 1 BV).

  2.1  Das Recht, Belastungszeugen zu befragen, untersteht dem kantonalen
Verfahrensrecht und muss nach dessen Bestimmungen formgerecht und
rechtzeitig geltend gemacht werden.

  2.1.1  Im vorliegenden Fall reichte die Trägerin des Behindertenwohnheims
Y. am 15. September 2000 Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer ein. Am
gleichen Tag ordnete das Bezirksamt Brugg eine Hausdurchsuchung am Wohnort
des Beschwerdeführers an, welche am selben Nachmittag durchgeführt wurde.
Direkt im Anschluss an die Hausdurchsuchung befragte die Kantonspolizei
Aargau den Beschwerdeführer erstmals zu den in der Strafanzeige erhobenen
Vorwürfen. Am 19. September 2000 erteilte das Bezirksamt Brugg dem leitenden
Arzt Pädiatrie am Kantonsspital Baden, Dr. med. B., den Auftrag, A. als
Opfer zu befragen und dessen Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Die Befragung
erfolgte am 2. Oktober 2000 im Kantonsspital Baden in Begleitung der Mutter
von A. und des Gruppenleiters des Wohnheims Y.

  Mit Schreiben vom 30. September 2002 an die zuständige
Untersuchungsrichterin beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers
unter anderem, Dr. med. B. mit der Sachdarstellung des Beschuldigten zu
konfrontieren und ihm die sich daraus ergebende Erklärung für die Aussagen
des A. vorzuhalten. In der Begründung der Anträge führte der Verteidiger
aus, Dr. med. B. könnte A. damit konfrontieren. In der Folge konnte der
Verteidiger des Beschwerdeführers Dr. med. B. einen Fragenkatalog
unterbreiten lassen, den dieser am 21. Februar 2003 beantwortete. Im
Anschluss daran stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers am 11. März
2003 den Antrag auf eine zweite Einvernahme des Belastungszeugen mit der
Möglichkeit, Ergänzungsfragen an ihn zu stellen. Mit Antwortschreiben vom
13. März 2003 teilte die zuständige Untersuchungsrichterin dem Verteidiger
des Beschwerdeführers mit, eine Ausdehnung des Beweisverfahrens dränge sich
in diesem Verfahrensstadium nicht auf. Es werde dem Gericht überlassen, die
Aussagen zu gewichten und über ein Glaubwürdigkeitsgutachten zu befinden. Am
14. August 2003 stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers den Antrag,
"es sei zu prüfen, ob die bisherige(n) Aussage(n) von Herrn A. bei Herrn Dr.
B. und die Berichte von Herrn Dr. B. in einer rechtsstaatlich korrekten Form
geführt wurden oder ob diese unter Wahrung der Verteidigungsrechte des
Angeklagten zu wiederholen bzw. mit einem Beweisverwertungsverbot zu
belegen" seien. Anlässlich der ersten Verhandlung vor dem Bezirksgericht
Brugg am 16. Dezember 2003 erneuerte der Verteidiger des Beschwerdeführers
diesen Antrag und führte aus, die Aussage des Belastungszeugen sei wegen
Verletzung der Verteidigungsrechte - keine Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu
stellen - nicht verwertbar. Auf diesen Antrag ging das Bezirksgericht Brugg
im Urteil vom 16. März 2004 mit keinem Wort ein. In seiner Berufung an das
Obergericht des Kantons Aargau beantragte der Verteidiger des
Beschwerdeführers, es sei A. allenfalls erneut einzuvernehmen, unter Wahrung
der Verteidigungsrechte. In der Folge ordnete das Obergericht eine
videodokumentierte zweite Befragung des Belastungszeugen durch Dr. med. B.
an. Die Einvernahme erfolgte am 4. November 2004 im Beisein des Verteidigers
des Beschwerdeführers auf der Grundlage eines Fragenkatalogs des
Verteidigers.

  In seinem Befragungsbericht schildert Dr. med. B., dass A. nach Angaben
des Heimleiters über die neue Einvernahme äusserst unwillig

und verärgert reagiert habe. Anfänglich habe er jegliche Kooperation
verweigert und angegeben, "die Sache sei für ihn abgeschlossen".
Schliesslich habe er aber doch in die Befragung eingewilligt. Bei der
Einvernahme habe er im Rahmen seiner geistigen Möglichkeiten orientiert
gewirkt. Er sei in der Lage gewesen, auf einfache Fragen nach längerer
Überlegung klar aber mit wenigen Worten Auskunft zu geben. Als das Thema auf
Sexualität und dann insbesondere auf den Angeklagten und Sexualität im
Zusammenhang mit diesem gekommen sei, habe der Zeuge stereotyp geantwortet,
er wisse nicht mehr oder könne sich nicht mehr erinnern. Trotz verschiedener
Versuche habe der Zeuge keinerlei Angaben inhaltlicher Art zu irgendwelchen
Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Angeklagten gemacht. Anfänglich habe der
Zeuge sogar verneint, den Angeklagten zu kennen, dann auf eine spätere Frage
hin jedoch angegeben, dieser sei nett gewesen. Es sei auffallend gewesen,
dass der Zeuge bei "unverfänglichen" Fragen vor einer Antwort immer lange
überlegt habe, bei sämtlichen Fragen zu Sexualität oder unerwünschten
Berührungen jedoch keinen Augenblick überlegt, sondern formelhaft mit dem
Satz geantwortet habe, er wisse es nicht mehr. Diese Abwehrhaltung habe
während der ganzen Befragung bestanden. Gegen Ende sei der Zeuge zunehmend
unwillig geworden und habe etwas verärgert gewirkt. Insgesamt habe er den
Eindruck vermittelt, als ob das Thema für ihn abgeschlossen sei und er
darüber nicht mehr reden wolle.

  2.1.2  Das Obergericht des Kantons Aargau nimmt an, mit der zweiten
Befragung des Belastungszeugen am 4. November 2004 sei das
Konfrontationsrecht des Beschwerdeführers gewahrt worden. Die erste Aussage
sei verwertbar, selbst wenn man annehmen wollte, das Aussageverhalten des
Zeugen anlässlich der zweiten Befragung habe dem Angeklagten verunmöglicht,
die Glaubwürdigkeit der (ersten) Aussagen zu prüfen und deren Beweiswert auf
die Probe bzw. in Frage zu stellen. Dem Aussageverhalten des Zeugen, dem
Bericht von Dr. med. B. und den Beobachtungen seiner Betreuungsperson im
Behindertenwohnheim könne eindeutig entnommen werden, dass der Zeuge sich an
den Vorfall und die erste Befragung erinnern könne, sich daran aber nicht
mehr erinnern wolle. Seine formelhaften und für seine Verhältnisse
auffallend raschen Antworten zeigten auf, dass er sich auf diese Weise der
ihm unangenehmen zweiten Befragung habe entziehen wollen. Sein
Aussageverhalten sei entweder als Aussageverweigerung oder als
Aussagewiderruf

zu interpretieren. Ein Widerruf sei vom Obergericht frei zu würdigen. Im
Falle einer Aussageverweigerung wäre die Verwertbarkeit der ersten Aussage
ausnahmsweise zu bejahen, weil sie nicht das einzige Beweismittel sei.
Vielmehr liege der Bericht des vom Bezirksgericht als Zeugen einvernommenen
Wohngruppenleiters vor, welchem der Belastungszeuge erstmals über den
Vorfall erzählt habe. Abgesehen davon sei bedeutsam, dass der
Belastungszeuge geistig behindert sei und deshalb von einem medizinischen
Sachverständigen habe befragt werden müssen. Schliesslich sei die
aktenkundige Reaktion des Beschwerdeführers auf die Konfrontation mit den
Vorwürfen ein gewichtiges Indiz dafür, dass sich der Vorfall wie vom Zeugen
geschildert abgespielt habe.

  2.1.3  Das Obergericht des Kantons Aargau geht implizit davon aus, dass
der bereits im Untersuchungsverfahren gestellte Beweisantrag auf eine
Konfrontation mit dem Belastungszeugen bzw. auf eine erneute Befragung unter
Gewährung des Rechts, Ergänzungsfragen an ihn zu stellen, nach kantonalem
Prozessrecht rechtzeitig gestellt wurde und die Ergänzungsfragen erheblich
waren. Davon ist nachfolgend auszugehen.

  2.2  Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des
Angeschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer
Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK.
Entsprechend sind Beschwerden wie die hier zu beurteilende unter dem
Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen. Mit der Garantie von Art. 6 Ziff.
3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen
von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal
angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wurde, das Zeugnis in
Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen. Dieser Anspruch wird
als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch
Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet. Ziel der genannten Normen ist die Wahrung
der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens (BGE 129 I
151 E. 3.1 mit ausführlichen Hinweisen).

  Der Begriff des Zeugen ist entsprechend der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte autonom und ohne formelle
Bindung an das nationale Recht auszulegen. Als Aussagen von Zeugen gelten
all jene, die formell zugelassen sind, dem Gericht zur Kenntnis kommen und
von ihm verwendet werden können.

Auch in der Voruntersuchung gemachte Aussagen vor Polizeiorganen werden als
Zeugenaussagen betrachtet (BGE 125 I 129 E. 6a S. 132 mit Hinweisen).

  Aussagen von Zeugen und Auskunftspersonen dürfen in der Regel nur nach
erfolgter Konfrontation zum Nachteil eines Angeschuldigten verwertet werden.
Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt insofern
grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Er erfährt in der Praxis aber eine
gewisse Relativierung. Er gilt uneingeschränkt nur, wenn dem streitigen
Zeugnis alleinige oder ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses also den
einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt (BGE 129 I 151 E. 3.1 mit
Hinweisen). Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, ist erforderlich,
dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die
Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte muss
namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und
den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage
stellen zu können (BGE 129 I 151 E. 4.2 mit Hinweisen). Das kann entweder
zum Zeitpunkt erfolgen, zu dem der Belastungszeuge seine Aussage macht, oder
auch in einem späteren Verfahrensstadium (BGE 125 I 129 E. 6b S. 132 f. mit
Hinweisen).

  Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) kann auf eine Konfrontation des Angeklagten mit dem Belastungszeugen
oder auf die Einräumung der Gelegenheit zu ergänzender Befragung des Zeugen
unter besonderen Umständen verzichtet werden (ausführlich BGE 124 I 274 E.
5b S. 285 mit Hinweisen). So hat der Gerichtshof die fehlende Befragung
unbeanstandet gelassen, wenn der Zeuge berechtigterweise das Zeugnis
verweigerte (Urteil des EGMR i.S. Asch gegen Österreich vom 26. April 1991,
Serie A, Bd. 203 = EuGRZ 1992 S. 474; anders aber Urteil des EGMR i.S.
Unterpertinger gegen Österreich vom 28. August 1986, Serie A, Bd. 110 =
EuGRZ 1987 S. 147), der Zeuge trotz angemessener Nachforschungen
unauffindbar blieb (Urteil des EGMR i.S. Artner gegen Österreich vom 28.
August 1992, Serie A, Bd. 242 A = EuGRZ 1992 S. 476; Urteil des EGMR i.S.
Doorson gegen Niederlande vom 26. März 1996, Recueil CourEDH 1996-II S. 446,
Ziff. 79) oder verstorben war (Urteil des EGMR i.S. Ferrantelli gegen
Italien vom 7. August 1996, Recueil CourEDH 1996-III S. 937, Ziff. 52 f.).
Es ist in solchen Fällen gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK
erforderlich,

dass der Beschuldigte dazu hinreichend Stellung nehmen kann, die Aussagen
sorgfältig geprüft werden und ein Schuldspruch nicht allein darauf
abgestützt wird (BGE 124 I 274 E. 5b S. 286). In diesem Sinne hat der
Gerichtshof in einem neueren Entscheid eine Konventionsverletzung in
folgendem Fall verneint: Der Sachrichter hatte auf eine im Rahmen eines
Gerichtsverfahrens im Ausland gemachte Zeugenaussage abgestellt, obschon der
Zeuge unauffindbar geworden war. Der Gerichtshof verneinte eine
Konventionsverletzung, weil die Aussage durch weitere Beweise gestützt wurde
und den Gerichtsbehörden keine mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden konnte
(Zulassungsentscheid des EGMR i.S. Calabrò gegen Italien vom 21. März 2002,
Recueil CourEDH 2002-V S. 249; vgl. auch in Bezug auf ähnliche
Konstellationen Urteile des EGMR i.S. Asch gegen Österreich, a.a.O., Ziff.
25 bis 31, und i.S. Artner gegen Österreich, a.a.O., Ziff. 19 bis 24).
Demgegenüber hat der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention (Art. 6
Ziff. 1 und 3 lit. d EMRK) in einem Fall bejaht, in dem Polizeibeamte den
Angeklagten in schriftlich festgehaltenen Aussagen (die zweite auf dem
Rechtshilfeweg) belasteten. Für das Gericht war entscheidend, dass der
Angeklagte mit den Belastungszeugen nicht konfrontiert worden war, den
Zeugen keine Ergänzungsfragen hatte stellen lassen können, und das Gericht
sich keinen persönlichen Eindruck von den Zeugen hatte machen können. Es
hielt fest, dass der Angeklagte anlässlich der ersten Zeugenaussagen nicht
durch einen Anwalt vertreten gewesen war und die Sachrichter nicht alles
unternommen hatten, um die vom Angeklagten beantragte Konfrontation mit den
Belastungszeugen vor dem urteilenden Gericht zu ermöglichen (Urteil des EGMR
i.S. Günes gegen Türkei vom 19. Juni 2003, Ziff. 88 bis 96). In ähnlichen
Fällen hat der Gerichtshof ebenfalls eine Konventionsverletzung bejaht, weil
die Gerichtsbehörden dem Angeklagten keine Möglichkeit gegeben hatten, den
Belastungszeugen Fragen bzw. Ergänzungsfragen im Rahmen von rechtshilfeweise
durchgeführten Befragungen zu stellen (Urteil des EGMR i.S. A. gegen Italien
vom 14. Dezember 1999, Recueil CourEDH 1999-IX S. 59) oder im
Untersuchungsverfahren (Urteile des EGMR i.S. Sadak gegen Türkei vom 17.
Juli 2001, Recueil CourEDH 2001-VIII S. 241, Ziff. 66 bis 68, und i.S. Saïdi
gegen Frankreich vom 20. September 1993, Serie A, Bd. 261 C, Ziff. 41 bis
44) stellen zu lassen, obschon die Zeugenaussagen für den Schuldspruch
ausschlaggebend waren.

  Ebenso wie der EGMR hat es das Bundesgericht zugelassen, auf eine
belastende Aussage eines Zeugen, der in der Zwischenzeit stirbt oder
einvernahmeunfähig wird und daher nicht mehr befragt werden kann,
abzustellen (BGE 105 Ia 396 S. 397; 124 I 274 E. 5b S. 285 f.). In einem
nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheid hat das
Bundesgericht aber eine Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens in
einem Fall bejaht, in welchem der Angeklagte gestützt auf die Aussagen von
Belastungszeugen verurteilt worden war, obschon er mit den Zeugen nie
konfrontiert worden war, weil diese die Schweiz zwischenzeitlich verlassen
hatten und nicht mehr aufgefunden werden konnten. Für das Bundesgericht war
entscheidend, dass eine Konfrontation der Belastungszeugen mit dem
Angeklagten im Untersuchungsverfahren möglich gewesen wäre, in einem
Zeitpunkt, in welchem sich sowohl der Angeklagte als auch die Zeugen in
Untersuchungshaft befanden (Urteil 1P.302/1996 vom 24. September 1996). Mit
ganz ähnlicher Begründung hat das Bundesgericht eine Verletzung des
Anspruchs, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, im Entscheid 129 I 151
bejaht. Der wegen sexueller Handlungen mit einem Kind Verurteilte hatte dem
Kind keine Ergänzungsfragen stellen können. Für das Bundesgericht war
massgebend, dass die Zeugenaussage für die Verurteilung ausschlaggebend war
und die kantonalen Behörden den Umstand selbst zu vertreten hatten, dass der
Angeklagte seine Rechte nicht (rechtzeitig) hatte wahrnehmen können (BGE 129
I 151 E. 4.3 S. 158).

  2.3
  2.3.1  Das Obergericht des Kantons Aargau wertet das Aussageverhalten von
A. anlässlich seiner zweiten Befragung entweder als Aussageverweigerung oder
als Aussagewiderruf, ohne sich festzulegen. Nachfolgend ist das angefochtene
Urteil ausschliesslich auf der Grundlage einer Aussageverweigerung des
Belastungszeugen zu prüfen, da es insoweit Verfassungs- und Konventionsrecht
verletzt.

  2.3.2  § 107 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons
Aargau vom 11. November 1958 (StPO; SAR 251.100) schreibt vor, dass Kinder,
die an "Unzuchtsdelikten Erwachsener beteiligt" sind, ohne zwingende Gründe
nicht mehr als einmal einvernommen werden sollen. Diese Bestimmung trägt der
Gefahr Rechnung, dass Kindern durch wiederholte Einvernahmen ein gleich
grosser, wenn nicht gar grösserer Schaden zugefügt werden

kann als durch das vermeintliche Delikt selbst. Zwingende Gründe im Sinne
dieser Bestimmung können namentlich die Verteidigungsrechte des
Angeschuldigten sein. Damit es möglichst bei einer Einvernahme bleibt,
müssen die involvierten Behörden schon sehr früh miteinander Kontakt
aufnehmen, um das weitere Vorgehen abzustimmen (BGE 129 I 151 E. 3.2 mit
Hinweisen).

  Nach Art. 5 Abs. 4 Opferhilfegesetz (OHG; SR 312.5) vermeiden die Behörden
eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten, wenn das Opfer dies
verlangt. Vorbehalten bleibt der Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten
auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art.
5 Abs. 5 OHG). Nach Art. 7 Abs. 2 OHG kann das Opfer die Aussage zu Fragen
verweigern, die seine Intimsphäre betreffen. Das Opfer ist insofern nur von
der Beantwortung bestimmter Fragen entbunden, im Übrigen aber sowohl
erscheinungs- als auch zeugnispflichtig. Beim Aussageverweigerungsrecht, das
auf Fragen zur Intimsphäre beschränkt ist, handelt es sich um ein so
genanntes relatives bzw. partielles Zeugnisverweigerungsrecht. Dieses wird
auch Auskunfts- oder Antwortverweigerungsrecht genannt (vgl. EVA WEISHAUPT,
Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Diss. Zürich
1998, S. 185 ff.). Gemäss Art. 10b Abs. 1 OHG (in der Fassung des
Bundesgesetzes vom 23. März 2001, in Kraft seit dem 1. Oktober 2002; AS 2002
S. 2998) dürfen die Behörden das minderjährige Opfer bei Straftaten gegen
die sexuelle Integrität dem Beschuldigten nicht gegenüberstellen. Damit
kommt es nicht darauf an, ob die oder der Minderjährige (im Sinne von Art.
10a OHG, wonach als Kind nach den Art. 10b-10d das Opfer verstanden wird,
das im Zeitpunkt der Eröffnung des Strafverfahrens weniger als 18 Jahre alt
ist) einen entsprechenden Antrag stellt. Auch hier gilt ein Vorbehalt für
den Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht
auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art. 10b Abs. 3 OHG). Haben
Kinder als Opfer über erlebte Straftaten auszusagen und werden sie dadurch
erneut mit schmerzhaften Erinnerungen an erlittene Verletzungen und
Übergriffe konfrontiert, kann dies sie erneut traumatisieren. Entsprechend
hält auch der Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Interessen der
Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8 EMRK
gegeneinander abgewogen werden müssen. Besonders minderjährige Opfer von
Sexualdelikten sind im Strafverfahren zu schützen. Deshalb kann die Garantie
von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK

allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte
Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden, etwa wenn
dem streitigen Zeugnis keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt (BGE 129 I
151 E. 3.1 mit Hinweisen).

  Es besteht somit ein gewisser Konflikt zwischen den Rechten des Opfers,
eine Konfrontation mit dem Angeschuldigten sowie die Beantwortung aller oder
einzelner Fragen zu verweigern, und dem Anspruch des Angeschuldigten, dem
ihn belastenden Opfer Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. Sowohl die
Untersuchungsbehörden als auch der Sachrichter haben alle Massnahmen zu
treffen, um die Rechte der Parteien zu gewährleisten und die Interessen der
Strafverfolgung zu sichern. Falls die durch das Opferhilfegesetz und die
kantonalen Verfahrensbestimmungen geschützten legitimen Interessen des
Opfers dem Angeschuldigten verunmöglichen, sein Befragungsrecht
wahrzunehmen, kann dies nicht zu Lasten des Anspruchs auf ein faires
Verfahren (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) gehen. Vielmehr darf in einer solchen
Situation nicht auf die frühere Aussage des Opfers abgestellt werden, wenn
sie das einzige oder ausschlaggebende Beweismittel ist. Gegebenenfalls ist
der Angeschuldigte nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen
(vgl. BGE 125 I 127 E. 10a S. 157; 129 I 151 E. 4.3 S. 158; Urteil 6P.50/
2001 vom 4. Juli 2001, E. 3e).

  2.3.3  Im zu beurteilenden Fall war die erste Aussage des Belastungszeugen
ausschlaggebend für die Verurteilung des Beschwerdeführers. Entgegen der
Auffassung des Obergerichts kam dem Bericht des Wohngruppenleiters über die
ihm von A. anvertraute Schilderung des Vorfalls und über die Reaktion des
Beschwerdeführers auf die Aufforderung zu einem klärenden Gespräch
(Erschrecken und hochrotes Anlaufen des Gesichts, unbestimmt formulierte
Entschuldigung bei A.) gegenüber der Aussage von A. eine deutlich
untergeordnete Beweiskraft zu. Abgesehen davon, dass die Aussagen des
Wohngruppenleiters nur als Indiz für den Wahrheitsgehalt der Aussage des
Belastungszeugen gewertet werden durften, ergibt sich aus dem angefochtenen
Urteil, dass das Obergericht schwergewichtig auf die Aussagen des
Belastungszeugen abgestellt hat und nur ergänzend darlegte, dass diese
Aussage durch jene des Wohngruppenleiters gestützt werde.

  2.3.4  Die Literatur und kantonale Rechtsprechung nehmen an, dass
belastende Zeugenaussagen unverwertbar sind, wenn sie das einzige

oder ausschlaggebende Beweismittel darstellen und der Zeuge sich weigert,
wesentliche Ergänzungsfragen des Angeschuldigten zu beantworten (ROBERT
HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6.
Aufl., Basel usw. 2005, § 50 N. 6a und § 60 N. 10; Urteil des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 20. November 2000, ZR 100/2001 Nr.
13 S. 37). Dieser Auffassung ist in Bezug auf den hier zu beurteilenden Fall
zuzustimmen. Ob ihr generell gefolgt werden kann, braucht nicht
abschliessend beantwortet zu werden.

  Wie sich aus den oben dargelegten Bestimmungen ergibt (E. 2.3.2), konnte
der Belastungszeuge zwar ganz oder jedenfalls in Bezug auf die Kernfragen
eine Aussage verweigern, doch durfte sich dies nicht zu Lasten der
Verteidigungsrechte des Angeschuldigten auswirken (vgl. BGE 125 I 127 E. 10a
S. 157; 129 I 151 E. 4.3 S. 158; Urteil 6P.50/2001 vom 4. Juli 2001, E. 3e).
Indem der Belastungszeuge mehr als vier Jahre nach seiner ersten Befragung
sich weigerte, auf Ergänzungsfragen des Angeschuldigten zu antworten, konnte
dieser seine Verteidigungsrechte nicht wirksam ausüben. Der Angeschuldigte
vermochte unter diesen Umständen den Beweiswert der ersten - ohne seine
Mitwirkung erfolgten - Aussage weder auf die Probe noch in Frage zu stellen
(BGE 129 I 151 E. 4.2 mit Hinweisen). Die kantonalen Behörden haben diesen
Umstand selbst zu vertreten, weil sie nicht alles unternommen haben, um eine
Konfrontation möglichst frühzeitig durchzuführen. Dem Angeschuldigten hätte
nicht zuletzt angesichts des geistigen Entwicklungsstandes des
Belastungszeugen auf der Stufe eines Kindes im Grundschulalter (vgl. BGE 129
I 151 E. 4.2 in fine) bereits im Untersuchungsverfahren die Möglichkeit
gegeben werden können und sollen, den Opferzeugen entweder im Rahmen der
ersten Befragung oder ergänzend zu dieser in geeigneter Weise befragen zu
lassen.

  Das Bundesgericht erkennt durchaus die sich daraus ergebenden
Schwierigkeiten, die weitgehend widerstreitenden Interessen und Rechte der
Opfer und Angeschuldigten im Verfahren gleichermassen zu beachten sowie dies
mit den Zielen eines jeden Strafverfahrens in Einklang zu bringen. Derartige
Probleme können jedoch wie bereits dargelegt nicht dazu führen, dem
Angeschuldigten ein faires Verfahren zu versagen.

  2.4  Damit ist diese Rüge des Beschwerdeführers begründet. Die weiteren
Vorbringen für den Fall, dass die Verwertbarkeit der Zeugenaussage

vom Bundesgericht bejaht würde, sind nicht mehr zu prüfen.