Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 IV 195



Urteilskopf

131 IV 195

  28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Y. und
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft (Nichtigkeitsbeschwerde)
  6S.116/2005 vom 25. September 2005

Regeste

  Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG; Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP; Legitimation des
Opfers zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde im Strafpunkt.

  Verzichtet das Opfer vorbehaltlos darauf, Zivilansprüche aus strafbarer
Handlung im Strafverfahren geltend zu machen, ist es nicht legitimiert,
Nichtigkeitsbeschwerde gegen die Einstellung des Strafverfahrens zu erheben
(E. 1).

Sachverhalt ab Seite 195

  Y. fuhr mit seinem Personenwagen am 10. November 2002 um 18.00 Uhr auf der
A2 von Diegten her kommend in Richtung Basel. Es regnete stark und war
bereits Nacht. Auf Grund der schlechten Sicht fuhr Y. mit rund 100 km/h auf
dem rechten Fahrstreifen. Auf dem dreistreifigen Strassenabschnitt nach der
Einfahrt Sissach wechselte Y. vom mittleren auf den rechten Fahrstreifen und
fuhr die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h aus. Als er am
Rastplatz "Sonnenberg" vorbeifuhr, nahm er einen weissen Personenwagen wahr,
der am Ausgang des Rastplatzes vor der Einfahrt in die Autobahn unmittelbar
nach dem Stopp-Signal - aber noch ausserhalb der Fahrbahn der Autobahn - mit
brennenden Abblendlichtern abgestellt war. Als er den Blick wieder nach
vorne richtete, erblickte er die dunkel gekleidete A., welche mitten auf dem
rechten Fahrstreifen stand. Unmittelbar darauf prallte das Fahrzeug von Y.
ungebremst in die Fussgängerin. A. wurde durch die Kollision sofort getötet.

  Mit Strafbefehl vom 7. Juli 2004 sprach das Statthalteramt Sissach Y. der
fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr.
1'000.-.

  Auf Einsprache von Y. hin stellte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Basel-Landschaft das Verfahren wegen fahrlässiger Tötung mangels
hinreichenden Beweises ein und nahm die Verfahrenskosten auf die
Staatskasse. Die vom Sohn (X.) des Opfers dagegen erhobene Beschwerde wies
das Verfahrensgericht in Strafsachen Basel-Landschaft mit Beschluss vom 21.
Januar 2005 ab.

  X. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den
Beschluss des Verfahrensgerichts in Strafsachen aufzuheben und das
Strafverfahren gegen Y. fortzusetzen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.

  1.1
  1.1.1  Gemäss Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP (in der Fassung gemäss BG vom
23. Juni 2000, in Kraft seit 1. Januar 2001) steht die
Nichtigkeitsbeschwerde dem Opfer zu, wenn es sich vorher am Verfahren
beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder
sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Diese Bestimmung stimmt mit Art.
8 Abs. 1 lit. c Opferhilfegesetz (OHG; SR 312.5) überein, wonach das Opfer
den Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten kann wie der
Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und
soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren
Beurteilung auswirken kann. Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP verweist denn auch
ausdrücklich auf die genannte Norm des OHG.

  Bei Nichtigkeitsbeschwerden gegen den einen Einstellungsbeschluss
bestätigenden Gerichtsentscheid ist nach der Rechtsprechung die Legitimation
des Opfers unabhängig davon gegeben, ob es bis zu diesem Zeitpunkt im
Strafverfahren Zivilforderungen adhäsionsweise geltend gemacht hat oder
nicht (BGE 122 IV 139 E. 1; 120 IV 44 E. 4a). Das Opfer muss aber darlegen,
aus welchen Gründen und inwiefern sich der angefochtene Entscheid auf welche
Zivilforderung auswirken kann (BGE 123 IV 254 E. 1). Enthält eine
Nichtigkeitsbeschwerde keine Ausführungen darüber, ist auf die Beschwerde
gleichwohl einzutreten, sofern sich der Sachlage und insbesondere der Art
des in Frage kommenden Delikts, unmittelbar und ohne Zweifel entnehmen
lässt, welche Zivilforderungen das

Opfer geltend machen könnte, und auch klar ersichtlich ist, inwiefern der
angefochtene Entscheid sich negativ auf diese Forderungen auswirken kann
(BGE 127 IV 185 E. 1a).

  1.1.2  Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG ist jede Person, die durch
eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität
unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Nach Art. 2 Abs. 2 OHG werden u.a.
die Kinder bei der Geltendmachung von Verfahrensrechten und Zivilansprüchen
(Art. 8 und 9 OHG), soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter
zustehen, dem Opfer gleichgestellt. Wird die Nichtigkeitsbeschwerde gegen
einen Einstellungsbeschluss oder ein freisprechendes Urteil geführt, genügt
es, dass eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt (BGE
122 II 211 E. 3c).

  1.2  Der Beschwerdeführer ist als Sohn seiner verstorbenen Mutter gemäss
Art. 2 Abs. 2 OHG dem direkten Opfer gleichgestellt. Dieses ist bei dem zur
Beurteilung stehenden Verkehrsunfall tödlich verletzt worden, wobei
zumindest als Möglichkeit in Betracht fällt, dass den Beschwerdegegner ein
strafrechtlicher Vorwurf trifft. Der Beschwerdeführer hat sich ferner vorher
am kantonalen Verfahren beteiligt. Zwei der drei
Legitimationsvoraussetzungen nach Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP sind damit
erfüllt.

  1.2.1  In der Beschwerde wird nicht dargelegt, aus welchen Gründen und
inwiefern sich der angefochtene Entscheid auf welche Zivilforderung
auswirken kann. Im kantonalen Verfahren teilte das Statthalteramt Sissach
dem Beschwerdeführer am 20. Februar 2004 den Abschluss des
Untersuchungsverfahrens gegen Y. mit und forderte ihn dazu auf, allfällige
Beweisanträge sowie Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen bis zum 8.
März 2004 zu erheben. Der Anwalt des Beschwerdeführers reichte am 4. März
2004 folgende Antwort ein: "Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 20. Februar
2004 teile ich Ihnen namens und im Auftrag meines Mandanten mit, dass ich
auf Beweisanträge sowie die Geltendmachung von Schadenersatz- und
Genugtuungsforderungen im Rahmen des Strafverfahrens verzichte". Da der
Beschwerdeführer seinen Verzicht auf das gesamte Strafverfahren bezog und
sich eine allfällige Geltendmachung von Zivilforderungen in einem späteren
Zeitpunkt nicht vorbehielt, ist diese Erklärung dahingehend zu verstehen,
dass er gänzlich auf sein Recht verzichtete, adhäsionsweise Zivilforderungen
im Strafverfahren gegen Y. geltend zu machen.

Dementsprechend beurteilte der Strafbefehl vom 7. Juli 2004 keine
Zivilforderungen und hat der Beschwerdeführer auch in den späteren
Verfahrensschritten keine Absicht bekundet, Zivilforderungen einzubringen.

  Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, ob das Legitimationserfordernis
in Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP, wonach der Entscheid die Zivilansprüche des
Opfers betreffen oder geeignet sein muss, sich auf deren Beurteilung
auszuwirken, auch in der hier zu beurteilenden Konstellation erfüllt ist, in
der sich der Strafentscheid auf die vom Opfer später möglicherweise in einem
ordentlichen Zivilverfahren geltend gemachten Zivilforderungen auswirken
kann, das Opfer aber im Strafverfahren darauf verzichtet hat, den für ihn
günstigeren Weg des Adhäsionsprozesses zu beschreiten. Das ist aus den
nachfolgenden Gründen zu verneinen.

  1.2.2  Nach der Teilrevision des BStP gemäss Bundesgesetz vom 23. Juni
2000, in Kraft seit Januar 2001 (AS 2000 S. 2791, 2724; BBl 1999 S. 9518,
9606) ist der einfache Geschädigte in dieser Eigenschaft nicht mehr zur
Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert, und zwar auch dann nicht, wenn sich der
Entscheid auf die Beurteilung seiner Zivilforderung auswirken kann.

  In der Regel richtet sich eine Opferbeschwerde gegen einen Freispruch oder
eine Einstellung. Gegen das Strafurteil, durch das der Angeschuldigte
beispielsweise freigesprochen wird, kann das Opfer Rechtsmittel im
Strafpunkt grundsätzlich nur erheben, wenn es, soweit zumutbar, seine
Zivilansprüche aus strafbarer Handlung im Strafverfahren geltend gemacht
hat. Dies wird in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG zwar nicht deutlich gesagt,
ergibt sich aber aus Sinn und Zweck von Art. 8 und 9 OHG, wie sie auch im
Schlussbericht der Studienkommission und in der bundesrätlichen Botschaft
beschrieben werden. Das Strafverfahren darf nicht nur ein Vehikel zur
Durchsetzung von Zivilforderungen in einem Zivilprozess sein, den das Opfer
erst nach Abschluss des Strafprozesses, je nach dessen Ausgang, anzustrengen
gedenkt. Das Opfer soll nach der Konzeption des OHG nicht gewissermassen
"mit Hilfe" eines ihm allenfalls erst im Rechtsmittelverfahren erstrittenen,
für es günstigen Strafurteils erstmals in einem gesonderten Zivilprozess
Zivilansprüche einbringen. Vielmehr soll es, soweit zumutbar, seine
Zivilansprüche aus strafbarer Handlung im Strafverfahren geltend machen.
Wenn es dies tut, ist es unter den in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG ausdrücklich
genannten Voraussetzungen zur Ergreifung von Rechtsmitteln im

Strafpunkt legitimiert. Wohl ist es dem Opfer frei gestellt, ob es im
Strafverfahren eine Zivilforderung geltend machen will oder nicht.
Verzichtet es jedoch darauf, obschon das Einbringen einer Zivilforderung im
Hauptverfahren zumutbar wäre, dann ist es zur Ergreifung von Rechtsmitteln
im Strafpunkt im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG nicht legitimiert (BGE
120 IV 44 E. 4b S. 53 f.). In diesen Fällen wird das Opfer hinsichtlich der
Legitimation zur Nichtigkeitsbeschwerde wie ein einfacher Geschädigter
behandelt. Der Verlust der Beschwerdelegitimation beim Verzicht auf die
adhäsionsweise Geltendmachung von Zivilforderungen ist die Kehrseite der vom
Opferhilfegesetz angestrebten Stärkung der Stellung des Opfers und von
dessen Angehörigen im Strafprozess.

  Diese Erwägungen gelten grundsätzlich auch für Einstellungsurteile oder
-beschlüsse. Allerdings kann vom Opfer nicht verlangt werden, dass es in
Verfahren, die in keine Anklage gemündet sind und eingestellt wurden,
bereits Zivilforderungen adhäsionsweise geltend gemacht hat (BGE 122 IV 139
E. 1; 120 IV 44 E. 4a). Verzichtet das Opfer aber wie hier vor Abschluss des
Strafverfahrens und Erlass eines Strafbefehls vorbehaltlos und generell
darauf, im Strafverfahren Zivilansprüche geltend zu machen, ist es in Bezug
auf die Beschwerdelegitimation nach Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP dem Opfer
gleichzustellen, das - obwohl zumutbar - im Strafverfahren, das zum
teilweisen oder gänzlichen Freispruch des Angeklagten führte, keine
Zivilansprüche aus strafbarer Handlung geltend gemacht hat. Denn sonst würde
das Strafverfahren in diesen Fällen ebenfalls nur ein Vehikel zur
Durchsetzung von Zivilforderungen in einem Zivilprozess darstellen, den das
Opfer erst nach Abschluss des Strafprozesses allenfalls anzustrengen
gedenkt.

  1.2.3  Der Beschwerdeführer hat auf die Geltendmachung von Zivilansprüchen
im Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner generell und vorbehaltlos
verzichtet. Damit kann sich der angefochtene (Einstellungs-)Beschluss nicht
auf die - gar nicht verlangte - adhäsionsweise Beurteilung seiner
Zivilansprüche auswirken. Der Beschwerdeführer ist deshalb nicht zur
Nichtigkeitsbeschwerde gestützt auf Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP
legitimiert. Die Verletzung von Rechten, die ihm das Opferhilfegesetz
einräumt, macht der Beschwerdeführer nicht geltend.