Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 IV 133



131 IV 133

17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staats-
anwaltschaft und Kantonsgericht des Kantons Graubünden (Staatsrechtliche
Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde)

    6P.138/2004 / 6S.377/2004 vom 11. Februar 2005

Regeste

    Grobe Verkehrsregelverletzung durch ungenügenden Abstand beim
Hintereinanderfahren (Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG
und Art. 12 Abs. 1 VRV).

    Fall eines Automobilisten, der mit einer Geschwindigkeit von über
100 Stundenkilometern auf dem Überholstreifen einer richtungsgetrennten
Autostrasse einem Personenwagen, der im Begriffe war, zwei Fahrzeuge
zu überholen, über eine Strecke von 800 Metern in einem Abstand von
ca. 10 Metern folgte in der offenkundigen Absicht, den Vordermann zur
Beschleunigung der Fahrt oder zum Wechsel auf den rechten Fahrstreifen zu
drängen. Grobe Verkehrsregelverletzung durch ungenügenden Abstand bejaht
(E. 3).

Sachverhalt

    X. fuhr am 21. Dezember 2002, um ca. 11.30 Uhr, mit dem Personenwagen
Fiat auf der durch eine Mittelleitplanke richtungsgetrennten Autostrasse
A 13 in Richtung Süden. Nach dem Anschluss Rothenbrunnen hielt er auf dem
Überholstreifen über eine gewisse Strecke einen ungenügenden Abstand zum
vorausfahrenden Personenwagen ein. In einer späteren Phase, im Bereich
zwischen Thusis- Nord und Thusis-Süd, überschritt er die zulässige
Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h unter Abzug der Sicherheitsmarge von
8 % um 26 km/h.

    Der Bezirksgerichtsausschuss Hinterrhein verurteilte X. am 11. Mai
2004 wegen (einfacher) Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von
Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) sowie Art.
27 Abs. 1 SVG zu einer Busse von 300 Franken.

    In Gutheissung der von der Staatsanwaltschaft Graubünden eingereichten
Berufung verurteilte der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden X. am 28.
Juli 2004 wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV (durch
ungenügenden Abstand zum voranfahrenden Fahrzeug) und wegen (einfacher)
Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 i.V.m. Art. 27
Abs. 1 SVG (durch Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit)
zu einer Busse von 500 Franken.

    X. erhebt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde. Mit beiden Rechtsmitteln ficht er einzig seine
Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung an. Er macht geltend,
er habe sich durch die Einhaltung eines ungenügenden Nachfahrabstandes
(Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV) aus tatsächlichen und
rechtlichen Gründen lediglich der (einfachen) Verkehrsregelverletzung im
Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG schuldig gemacht.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Nichtigkeitsbeschwerde

    Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Strassenbenützern
ausreichender Abstand zu wahren, namentlich beim Kreuzen und Überholen
sowie beim Neben- und Hintereinanderfahren. Nach Art. 12 Abs. 1 VRV hat
der Fahrzeugführer beim Hintereinanderfahren einen ausreichenden Abstand
zu wahren, so dass er auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden
Fahrzeugs rechtzeitig halten kann. Wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes
oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt, wird mit Haft
oder mit Busse bestraft (Art. 90 Ziff. 1 SVG). Wer durch grobe Verletzung
der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft
(Art. 90 Ziff. 2 SVG).

    3.1  Was unter einem "ausreichenden Abstand" im Sinne von Art. 34
Abs. 4 SVG zu verstehen ist, hängt von den gesamten Umständen ab. Dazu
gehören unter anderem die Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse sowie
die Beschaffenheit der beteiligten Fahrzeuge. Der Sinn der Verkehrsregel
betreffend ausreichenden Abstand beim Hintereinanderfahren besteht in
erster Linie darin, dass der Fahrzeuglenker auch bei überraschendem
Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs rechtzeitig hinter diesem halten
kann. Das überraschende Bremsen schliesst auch ein brüskes Bremsen mit
ein. Letzteres ist, auch wenn ein Fahrzeug folgt, im Notfall gestattet
(siehe Art. 12 Abs. 2 VRV).

    Die Rechtsprechung hat keine allgemeinen Grundsätze zur Frage
entwickelt, bei welchem Abstand in jedem Fall, d.h. auch bei günstigen
Verhältnissen, eine einfache Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90
Ziff. 1 SVG anzunehmen ist. Im Sinne von Faustregeln sind die Regel
"halber Tacho" (entsprechend 1,8 Sekunden) und die Zwei Sekunden-Regel
weitherum bekannt (RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2002, N. 694; BAPTISTE RUSCONI,
Code Suisse de la circulation routière, Commentaire, 3. Aufl. 1996,
Art. 34 SVG N. 5.2; vgl. auch BGE 104 IV 192 E. 2b). Der französische
Code de la route sieht neuerdings, seit 2002, in Art. R. 412-12 Ziff. 1
letzter Satz ausdrücklich die Zwei Sekunden-Regel (als Minimum) vor.

    Die Rechtsprechung hat auch keine allgemeinen Grundsätze zur
Frage entwickelt, bei welchem Abstand in jedem Fall, d.h. auch bei
günstigen Verhältnissen, eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG anzunehmen ist. Die Gerichtspraxis zur Verletzung
der Verkehrsregeln betreffend den Abstand beim Hintereinanderfahren ist
relativ spärlich, auch weil die Verzeigungspraxis zurückhaltend ist (siehe
MANFRED DÄHLER/ERICH PETER/RENÉ SCHAFFHAUSER, Ausreichender Abstand beim
Hintereinanderfahren, AJP 1999 S. 947 ff., 949).

    3.2  Der qualifizierte Tatbestand der groben Verletzung von
Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist objektiv erfüllt,
wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise
missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche
Gefahr für die Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten,
sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben (BGE 130
IV 32 E. 5.1; 123 II 106 E. 2a; 123 IV 88 E. 3a, je mit Hinweisen). Ob eine
konkrete, eine erhöhte abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr geschaffen
wird, hängt von der Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung
begangen wird. Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten
abstrakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung. Die allgemeine
Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr genügt demnach nur zur
Erfüllung des Tatbestands von Art. 90 Ziff. 2 SVG, wenn in Anbetracht der
Umstände der Eintritt einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung
nahe liegt (BGE 123 IV 88 E. 3a; 118 IV 285 E. 3a).

    Subjektiv erfordert der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG
nach der Rechtsprechung ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend
verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem
Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 130 IV 32 E. 5.1; 126
IV 192 E. 3; 123 IV 88 E. 2a und E. 4a; 118 IV 285 E. 4). Diese ist
zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner
verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber
auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
pflichtwidrig gar nicht in Betracht gezogen, also unbewusst fahrlässig
gehandelt hat (BGE 130 IV 32 E. 5.1 mit Hinweis). In solchen Fällen ist
grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung
anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht (BGE 118 IV 285
E. 4 mit Hinweisen). Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses
Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen
(momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen
(Urteile des Bundesgerichts 6S.100/2004 vom 29. Juli 2004 und 6S.11/2002
vom 20. März 2002).

    3.2.1  Die Regel betreffend die Wahrung eines ausreichenden Abstands
beim Hintereinanderfahren ist von grundlegender Bedeutung. Viele Unfälle
sind auf ungenügenden Abstand zurückzuführen (siehe BGE 115 IV 248 E. 3a;
RENÉ SCHAFFHAUSER, aaO, N. 691).

    3.2.2  Die Praxis in Deutschland qualifiziert einen Abstand von
weniger als 0,8 Sekunden als gefährdenden Abstand. Wer, ausser im
dichten Stadtverkehr, nicht nur ganz vorübergehend, sondern (bei höheren
Geschwindigkeiten) über eine Strecke von mindestens ca. 300 Metern einen
geringeren Abstand als 0,8 Sekunden zum Vordermann einhält, gefährdet
diesen in der Regel (siehe PETER HENTSCHEL, Strassenverkehrsrecht,
37. Aufl. 2003, § 4 StVO N. 6, mit Hinweisen). In der schweizerischen
Lehre wird etwa vorgeschlagen, einen Abstand von 0,6 Sekunden oder
weniger als grobe Verkehrsregelverletzung zu qualifizieren (JÜRG BOLL,
Grobe Verkehrsregelverletzung, Davos 1999, S. 57 f.). Soweit dazu
überhaupt eine kantonale Praxis besteht, ist sie nicht einheitlich
(siehe DÄHLER/ PETER/SCHAFFHAUSER, aaO, S. 949 f.; vgl. auch PHILIPPE
WEISSENBERGER, Tatort Strasse, Neuere strafrechtliche Rechtsprechung
zum Strassenverkehrsrecht, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch
zum Strassenverkehrsrecht 2003, S. 259 ff., 317 ff.). Entgegen
einer Meinungsäusserung in der Lehre (ANDREAS ROTH, Entwicklungen im
Strassenverkehrsrecht, SJZ 97/2001 S. 194 ff., 198) hat das Bundesgericht
in BGE 126 II 358 nicht entschieden, dass erst bei einem Abstand von 0,3
Sekunden oder weniger eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art.
90 Ziff. 2 SVG anzunehmen sei.

    3.2.3  Der Beschwerdeführer folgte mit seinem Personenwagen über
eine Strecke von mindestens 800 Metern auf dem linken Fahrstreifen einer
durch eine Mittelleitplanke richtungsgetrennten Autostrasse mit einer
Geschwindigkeit von über 100 km/h einem anderen Personenwagen, der im
Begriff war, zwei Fahrzeuge zu überholen. Die Fahrbahn war trocken, und die
Sicht war gut. Unmittelbar vor dem voranfahrenden Personenwagen befanden
sich auf der Überholspur keine Fahrzeuge. Der Abstand des Beschwerdeführers
zum Vordermann betrug über die gesamte Wegstrecke ca. 10 Meter. Dies
entspricht bei der vom Beschwerdeführer behaupteten Geschwindigkeit von 110
km/h 1/11 Tacho, mithin einem zeitlichen Abstand von ca. 0,33 Sekunden. Ein
derart geringer Abstand bei einer Geschwindigkeit von über 100 km/h auf
dem Überholstreifen einer Autobahn beziehungsweise Autostrasse während
des Überholens von anderen Fahrzeugen begründet jedenfalls eine erhöhte
abstrakte Gefahr und ist objektiv als grobe Verkehrsregelverletzung
im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG zu qualifizieren, unabhängig davon,
wie gross im konkreten Einzelfall das Risiko ist, dass etwa ein auf dem
rechten Fahrstreifen verkehrendes Fahrzeug aus irgendeinem Grunde auf
den linken Fahrstreifen hätte gelangen können.

    3.2.4  Der Beschwerdeführer folgte dem voranfahrenden Personenwagen
vorsätzlich in dem von ihm gewählten Abstand. Es ging ihm offenkundig
darum, den Vordermann zur Beschleunigung der Fahrt oder aber zum Wechsel
auf den rechten Fahrstreifen zu drängen, was jedoch in Anbetracht der
auf diesem Streifen verkehrenden langsameren Fahrzeuge nicht ohne Risiko
möglich gewesen wäre. Die Fahrweise des Beschwerdeführers war über die
gesamte Strecke von mindestens 800 Metern rücksichtslos und erfüllt daher
auch subjektiv den Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne
von Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV.