Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 IV 114



131 IV 114

15. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. Staatsanwalt- schaft
des Kantons Basel-Landschaft gegen Y.(Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.381/2004 vom 25. April 2005

Regeste

    Art. 193 Abs. 1 StGB; Ausnützung der Notlage (Abhängigkeit) des
Patienten durch einen Psychiater.

    Zwischen Psychiater und Patient besteht nicht zwingend eine
Abhängigkeit im Sinne von Art. 193 StGB. Ob dies der Fall ist und die
Steuerungsfähigkeit des Patienten in Bezug auf das Eingehen sexueller
Kontakte mit dem Therapeuten erheblich eingeschränkt war, muss nach den
Umständen des Einzelfalls geprüft werden (E. 1). Abhängigkeit im konkreten
Fall bejaht (E. 2).

    Offen gelassen, ob ein Ausnützen eines Abhängigkeitsverhältnisses
generell auszuschliessen ist, wenn der Anstoss zu den sexuellen Kontakten
vom Patienten ausgeht (E. 2.3).

Sachverhalt

    A.- Ab August 1993 begab sich A. auf Grund persönlicher Probleme
in psychotherapeutische Behandlung zu Dr. med. Y., der als Psychiater
eine Praxis führt. Im Verlauf der folgenden rund drei Jahre - zunächst
anlässlich regelmässiger Einzelgespräche, später teils im Rahmen einer
Paartherapie zusammen mit ihrem Ehemann, zum Teil aber auch weiterhin
in Einzelgesprächen - entstand zwischen Y. und A. ein therapeutisches
Vertrauensverhältnis. In den Einzelgesprächen wurden zunehmend
Belange allgemeiner Natur und schliesslich auch das Privatleben von
Y. thematisiert. Mit der Zeit dehnte dieser die Therapiesitzungen aus,
bedachte A. mit persönlichen Komplimenten, umarmte sie zum Abschied oder
küsste sie auf die Wangen und suchte sie gelegentlich auch privat zu
Hause an ihrem Wohnort auf, einmal sogar zusammen mit seinen Kindern. Er
versicherte A. seine jederzeitige Verfügbarkeit und gab ihr bei seiner
Ferienabwesenheit auch die Telefonnummer des Ferienhotels an. Im Rahmen
der Therapiesitzungen hielt er ihr hin und wieder die Hand, legte seine
Hand auf ihren Arm oder umarmte sie auch. Bei der Verabschiedung nach
einem Therapiegespräch im Herbst 1996 gab er ihr, nachdem er sie umarmt
und auf die Wange geküsst hatte, unvermittelt erstmals einen Zungenkuss,
worauf er sich dafür entschuldigte und anmerkte, er sei auch nur ein
Mensch. Diese Begebenheit verunsicherte A. einerseits, da sie aus Respekt
vor ihrem Ehemann keine Affäre eingehen wollte, und schmeichelte ihr
anderseits. Als A. Y. bedeutete, keine Affäre zu wollen, entgegnete er ihr,
dass er grosse Achtung für sie empfinde, was seine Attraktivität auf sie
noch steigerte. In der Folge endeten die weiteren Therapien jeweils mit
sexuellen Handlungen (Zungenküsse, gegenseitige Masturbation und Massagen,
orale Befriedigung, Betasten der Brüste, Rückenbisse). Im Nachgang zu einem
solchen Kontakt im Februar 1997 hatte A. unangenehme Gefühle und entschloss
sich im anschliessenden Urlaub, die Therapie abzubrechen und Y. nicht mehr
zu treffen, was sie ihm nach ihrer Rückkehr telefonisch mitteilte. Von
Schuldgefühlen befallen, weil sie den Grund für den Therapieabbruch nicht
offen gelegt hatte, suchte sie die Praxis von Y. Ende März 1997 erneut auf,
worauf es zu einer Aussprache zwischen den beiden kam. Kurze Zeit später
suchte A. auf Grund neuer ehelicher Konflikte wiederum den therapeutischen
Rat von Y., worauf es anlässlich der folgenden Treffen in seiner Praxis und
am Wohnort von A. regelmässig zum Austausch sexueller Handlungen kam. Am
Abend des 13. Juni 1997 vollzog Y. mit A. an ihrem Wohnort erstmals auch
den Geschlechtsverkehr. Schliesslich besuchte er sie auf ihren Wunsch
hin am frühen Nachmittag des 31. Oktober 1997 an ihrem Wohnort, um ihre
Halloween-Dekoration zu besichtigen. Anlässlich dieses Treffens, an dem
sich Y. unwirsch verhielt, kam es letztmals zu körperlichen Kontakten. In
den folgenden zwei Wochen wandte sich A. auf Grund des veränderten
Verhaltens von Y. von diesem ab, worauf keine weiteren Kontakte mehr
stattfanden. Am 26. Januar 1998 stellte Y. A. das Treffen an ihrem
Wohnort vom 31. Oktober 1997 als Konsultation in Rechnung.

    B.- Am 14. August 2003 sprach die Dreierkammer 3 des Strafgerichts
Basel-Landschaft Y. vom Vorwurf der Ausnützung einer Notlage frei,
verfügte die Rückgabe der beschlagnahmten Krankengeschichte an ihn nach
Rechtskraft des Urteils und verwies die Forderungen des Opfers und der
B. Versicherungen AG auf den Zivilweg.

    Gegen dieses Urteil appellierten die Staatsanwaltschaft und A. Am 17.
August 2004 wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil-
und Strafrecht, die Appellation der Staatsanwaltschaft ab, hiess
hingegen diejenige von A. teilweise gut. Es hob die Ziffern 3 und 4 des
angefochtenen Urteils auf, sprach A. zu Lasten von Y. eine Genugtuung
von Fr. 5'000.- zu, hiess die Schadenersatzansprüche von A. und der
B. Versicherungen AG in Anwendung von Art. 9 Abs. 3 OHG dem Grundsatze
nach gut und verwies die Geschädigten im Übrigen "auf den ordentlichen
Prozessweg".

    C.- Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft erhebt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von Y. wegen
Ausnützung einer Notlage im Sinne von Art. 193 Abs. 1 StGB sowie zu seiner
angemessenen Bestrafung zurückzuweisen.

    Das Kantonsgericht Basel-Landschaft und der Beschwerdegegner beantragen
übereinstimmend, die Beschwerde abzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Gemäss Art. 193 Abs. 1 StGB wird mit Gefängnis bestraft, wer eine
Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden,
indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder in
anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt. Der Tatbestand schützt
die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung.

    Das Opfer ist abhängig im Sinne des Tatbestandes, wenn es auf Grund
eines im Gesetz genannten Umstandes nicht ungebunden bzw. frei ist und
damit objektiv oder auch nur subjektiv auf den Täter bzw. seine Fürsorge
angewiesen ist. Soweit es um ein Abhängigkeitsverhältnis geht, muss dieses
die Entscheidungsfreiheit wesentlich einschränken. Für die Bestimmung des
Ausmasses der Abhängigkeit sind die konkreten Umstände des Einzelfalles
massgebend. Dem Abhängigkeitsverhältnis liegt in der Regel eine besondere
Vertrauensbeziehung und immer ein ausgeprägtes Machtgefälle zu Grunde.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht zwischen
Psychotherapeut und Patientin ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne des
altrechtlichen Tatbestandes des Missbrauchs der Notlage oder Abhängigkeit
einer Frau (Art. 197 aStGB), das ihre Entschlussfreiheit grundlegend
beeinträchtigt (BGE 124 IV 13 E. 2c mit ausführlicher Begründung). Das
Bundesgericht hat diese Aussage in seiner Rechtsprechung zu Art. 193 StGB,
der an die Stelle von Art. 197 aStGB getreten ist (vgl. BGE 124 IV 13 E.
2c/cc), etwas abgeschwächt und festgehalten, eine Abhängigkeit gemäss
Art. 193 Abs. 1 StGB könne zwischen einem Psychotherapeuten und seinem
Patienten allein schon auf Grund der therapeutischen Beziehung bestehen
(BGE 128 IV 106 E. 3b; Hervorhebungen hinzugefügt). In der Tat sind nicht
alle therapeutischen Beziehungen zwischen Psychotherapeut und Patient
zwangsläufig von einem intensiven Vertrauensverhältnis geprägt. Auch führen
Therapien zwar häufig, jedoch nicht zwingend zu dem in BGE 124 IV 13 E. 2c
geschilderten Machtgefälle und zu therapietypischen inneren Vorgängen,
die einen für die Tat nach Art. 193 StGB hinreichenden Kontroll- und
Autonomieverlust beim Patienten bewirken. Das Bestehen eines besonderen
Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisses kann allein unter Hinweis
auf eine psychotherapeutische Behandlung nicht bejaht werden. Vielmehr
muss dies in jedem Einzelfall geprüft und nachgewiesen werden (dahin
gehend STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar,
2. Aufl., Zürich 1997, Art. 193 StGB N. 2). Von Bedeutung können dabei die
Dauer der Therapie, der physische und psychische Zustand des Patienten,
Gegenstand und Umfang der Behandlung, Behandlungsform, die (fehlende)
Einhaltung therapeutischer Distanz des Therapeuten in den Gesprächen mit
dem Patienten und anderes mehr sein. Ein besonderes Vertrauensverhältnis
und eine rechtserhebliche Abhängigkeit können zwar mitunter wegen der Kürze
der Therapie oder anderer Gründe wie des nicht tief in die Persönlichkeit
des Patienten greifenden Gegenstandes der Behandlung und Gespräche
(z.B. bei psychologischem Verhaltenstraining) oder der distanzierten,
kritischen oder gar ablehnenden Haltung des Patienten gegenüber dem
Therapeuten fehlen, doch können sie sich je nach Umständen bereits nach
sehr kurzer Zeit einstellen.

    Über das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses hinaus verlangt
der Tatbestand, dass der Täter die abhängige Person unter Ausnützung
der genannten Machtkonstellation zur Vornahme oder Duldung sexueller
Handlungen veranlasst hat. Der Täter muss sich somit die wesentlich
eingeschränkte Entscheidungsfreiheit oder Abwehrfähigkeit der abhängigen
Person und ihre dadurch gegebene Gefügigkeit bewusst im Hinblick auf
deren sexuelles Entgegenkommen zunutze gemacht haben. Art. 193 StGB
setzt die Einwilligung der betroffenen Person in die sexuellen Handlungen
voraus. Ist sie vom Täter abhängig, so ist sie in ihrer Entscheidung, in
sexuelle Handlungen einzuwilligen oder sie zu verweigern, nicht mehr völlig
frei. Duldet sie in dieser Lage sexuelle Handlungen, ja gibt sie dazu ihre
ausdrückliche Zustimmung und Mitwirkung, so ist der Täter doch strafbar,
wenn die Abhängigkeit der Person sie gefügig gemacht hat. Entscheidend
ist daher, ob die betroffene Person durch die Abhängigkeit zur Duldung
des Beischlafs bestimmt wurde, oder ob sie unabhängig davon aus eigenem
Antrieb eingewilligt hat. Die Abhängigkeit muss also kausal dafür sein,
dass sich das Opfer auf eine sexuelle Beziehung mit dem Täter eingelassen
hat (BGE 99 IV 161 E. 2 mit Hinweisen; 124 IV 13 E. 2c/cc S. 18 f.). Die
Rechtsprechung und die Doktrin nehmen an, ein Ausnützen liege nicht vor,
wenn die betroffene Person freiverantwortlich in die sexuellen Handlungen
eingewilligt oder gar die Initiative dazu ergriffen hat (BGE 124 IV 13 E.
2c/ cc S. 18 f. mit Hinweis; Urteil des Bundesgerichts 6S.82/2003 vom 17.
April 2003, E. 2 mit ausführlichen Hinweisen). Im zuletzt zitierten
Entscheid hat das Bundesgericht in Bezug auf ein Behandlungsverhältnis
zwischen Arzt und Patient ein Ausnützen verneint, weil die Patientin die
Initiative zu den sexuellen Handlungen ergriffen und den Arzt verführt
hatte. In einem anderen Fall hatte das Bundesgericht eine sexuelle
Beziehung zwischen einem Musiklehrer und seiner 57 Jahre jüngeren Schülerin
zu beurteilen. Es verneinte eine Ausnützung der bestehenden Abhängigkeit,
weil die junge Frau sich nicht gegen das Ansinnen des Lehrers gewehrt
hatte, dem sexuellen Verhältnis nicht ablehnend gegenüber gestanden, ja
sogar verliebt war und die Liebesbeziehung gewollt hatte. Das Bundesgericht
nahm dort an, die blosse Verführung durch den überlegenen Teil sei noch
kein Ausnützen. Ein solches erfordere in objektiver Hinsicht, dass der
Abhängige die sexuelle Handlung "eigentlich nicht wolle", dass er sich,
entgegen seiner inneren Widerstände, nur unter dem Eindruck der Autorität
des anderen füge (Urteil des Bundesgerichts 6S.219/ 2004 vom 1. September
2004, E. 5 mit ausführlichen Hinweisen).

    In subjektiver Hinsicht ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muss wissen
oder zumindest damit rechnen, dass sich die betroffene Person nur deshalb
auf die sexuellen Handlungen einlässt, weil sie von ihm abhängig ist (BGE
99 IV 161 E. 2 S. 163 f.; GÜNTER STRATENWERTH/GUIDO JENNY, Schweizerisches
Strafrecht, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 6.
Aufl., Bern 2003, § 7 N. 53 mit weiteren Hinweisen).

Erwägung 2

    2.

    2.1  Die Vorinstanz bejaht sowohl sexuelle Handlungen als auch
ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 193 StGB zwischen dem
Beschwerdegegner und seiner Patientin. Das wird vom Beschwerdegegner in
seiner ausführlichen Stellungnahme nicht in Frage gestellt. Die Annahme
einer therapiebedingten Abhängigkeit der Patientin ist angesichts der
Dauer der Behandlung, der darin zur Sprache gekommenen intimen Probleme der
Patientin sowie der fehlenden therapeutischen Distanz des Beschwerdegegners
und seiner sukzessiven Grenzüberschreitungen und -verletzungen im Vorfeld
der von ihm initiierten ersten sexuellen Handlung (dazu näher hinten, E.
2.4) bundesrechtlich nicht zu beanstanden.

    2.2  Der Anstoss zur ersten sexuellen Handlung ging mit dem Kuss
im Herbst 1996 vom Beschwerdegegner aus. Seine Patientin äusserte zwar
zunächst weder verbal noch durch ihr Verhalten Widerstand, doch erklärte
sie ihm bei der nächsten Therapiesitzung aus Rücksicht auf den Ehemann
keine Affäre zu wünschen. Gleichwohl kam es anlässlich der späteren
Therapiesitzungen regelmässig zu sexuellen Handlungen zwischen ihnen,
wobei dannzumal laut den Aussagen des Opfers die Initiative von beiden
ausging. Die Vorinstanz verneint ein (bewusstes) Ausnützen im Sinne von
Art. 193 StGB, weil die Patientin die sexuellen Kontakte selbst nicht als
Bestandteil der Therapie verstanden und versucht habe, das Verhältnis
zu ihrem Therapeuten auf eine private Ebene zu verlagern. Zudem sei
sie in der Lage gewesen, die Therapie vorübergehend abzubrechen. Ihr
freier Wille sei somit in Bezug auf die sexuellen Handlungen trotz des
therapeutischen Abhängigkeitsverhältnisses nicht in einem nach aussen
erkennbaren, rechtserheblichen Mass beeinträchtigt gewesen. Die Vorinstanz
verneint damit eine hinreichend eingeschränkte Entscheidungsfreiheit und
Abwehrfähigkeit der Patientin und deren zumindest eventualvorsätzliche
Instrumentalisierung durch den Beschwerdegegner. Dies verletzt aus den
nachfolgenden Gründen Bundesrecht.

    2.3  Nach dem Kuss des Beschwerdegegners im Herbst 1996 war seine
Patientin schockiert, fühlte sich aber zugleich geschmeichelt und erregt.
Beim Abschied erklärte sie dem Beschwerdegegner, die Therapie sei damit
nun wohl beendet. Auch wenn sie sich dem ersten sexuellen Kontakt mit dem
Beschwerdegegner nicht widersetzte und sie darauf ambivalent ansprach,
ergibt sich aus ihrer Reaktion auf den Kuss und ihren Äusserungen
gegenüber dem Beschwerdegegner anlässlich der darauf folgenden
Therapiesitzung, dass sie sexuelle Kontakte mit ihrem Therapeuten
innerlich ablehnte. Der Umstand, dass sich das Opfer nach dem ersten
Übergriff durch den Beschwerdegegner anschliessend auf eine sexuelle
Beziehung einliess, spricht entgegen der Einschätzung der Vorinstanz
weder für ein freiverantwortliches Handeln der abhängigen Person noch
gegen ein Ausnützen der Abhängigkeit durch den Beschwerdegegner.

    Angesichts der zunächst ablehnenden Haltung des Opfers und
der vom Beschwerdegegner ausgehenden Initiative zu den sexuellen
Kontakten kann hier offen gelassen werden, ob ein Ausnützen eines
Abhängigkeitsverhältnisses generell auszuschliessen ist, wenn das
Opfer den Anstoss für die sexuellen Handlungen gegeben hat, oder ob in
Psychotherapien sich auch der sexuell "verführte" Therapeut nach Art. 193
StGB strafbar machen kann, weil eine so genannte Übertragungsliebe
(unter anderem Idealisierung oder Verliebtheit) häufiger Ausdruck
der therapeutischen Entwicklung ist (vgl. BGE 124 IV 13 E. 2c/cc mit
Hinweisen) und es allein dem Therapeuten obliegt, dem Patienten unter
Wahrung der Abstinenzregel und einer stillen Reflektierung einer
allfälligen Gegenübertragung zu helfen, solche Gefühle oder Wünsche zu
verstehen, einzuordnen und zu bearbeiten (vgl. MONIKA BECKER-FISCHER,
Psychodynamische Aspekte bei sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie,
in: Christoph J. Schmidt-Lellek/Barbara Heimannsberg [Hrsg.], Macht
und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, Köln 1995, S. 195 ff.;
MONIKA BECKER-FISCHER/GOTTFRIED FISCHER, Sexueller Missbrauch in der
Psychotherapie - was tun?, Heidelberg 1996, S. 38 ff.; JEANNETTE BOSSI,
Sexueller Missbrauch in Psychotherapie und Psychiatrie, in: Kurt Marc
Bachmann/Wolfgang Böker [Hrsg.], Sexueller Missbrauch in Psychotherapie
und Psychiatrie, Bern usw. 1994, S. 45 ff., insbes. S. 59 f. und 62
f.; WERNER TSCHAN, Missbrauchtes Vertrauen, Sexuelle Grenzverletzungen
in professionellen Beziehungen, 2. Aufl., Basel usw. 2005, S. 68; zur
alleinigen Verantwortung des Therapeuten für den Behandlungsprozess ferner
BGE 124 IV 13 E. 2c/cc).

    2.4  Die Vorinstanz verneint ein hinreichend starkes
Abhängigkeitsverhältnis und ein Ausnützen im Sinne von Art. 193 StGB,
weil das Opfer nach dem Kuss mit ihrer Bemerkung zur Beendigung der
Therapie ihre Fähigkeit zu "nüchtern analytischem Denken" gezeigt habe, die
Initiative zu den sexuellen Handlungen in den folgenden Therapiesitzungen
von beiden ausgegangen sei, das Opfer die Therapie später vorübergehend
abgebrochen und damit offenbart habe, zum Therapeuten auf Distanz gehen
und über die sexuellen Kontakte frei entscheiden zu können. Wie die
Beschwerdeführerin zutreffend vorbringt, trägt die Vorinstanz damit
den Besonderheiten der Vorgänge in einer Psychotherapie und der damit
verbundenen Schwächung der Entschlussfreiheit des Patienten gegenüber
den sexuellen Wünschen oder der sexuellen Empfänglichkeit des Therapeuten
sowohl im Allgemeinen als auch hinsichtlich des konkreten Falles zu wenig
Rechnung. Das im Sachverhalt geschilderte Verhalten des Beschwerdegegners
gegenüber seiner Patientin stellt ein geradezu typisches Beispiel für ein
Therapieverhältnis dar, in welchem der Therapeut ein bestehendes starkes
Abhängigkeitsverhältnis seiner Patientin gezielt zur Befriedigung eigener
sexueller Bedürfnisse missbraucht.

    2.4.1  Dem ersten sexuellen Kontakt ging eine längere und intensive
Psychotherapie voraus. Aus der Länge und der Art der Behandlung und dem
auch von der Vorinstanz bejahten tiefen Vertrauensverhältnis zwischen
dem Beschwerdegegner und seiner Patientin ergibt sich ohne weiteres,
dass diese ihre Hemmungen und Schutzmechanismen gegenüber dem Therapeuten
weitgehend ablegte und insoweit besonders verletzlich und abhängig war
(vgl. BGE 124 IV 13 E. 2c/cc).

    2.4.2  Das Therapieverhältnis zeichnete sich bereits lange
vor dem ersten sexuellen Kontakt aus durch fehlende professionelle
Distanz sowie sukzessive Grenzüberschreitungen und -verletzungen des
Beschwerdegegners wie unangebrachte persönliche Komplimente, körperliche
Kontakte (Umarmungen, Küsse auf die Wangen, Händehalten während der
Therapie), Thematisierung des Privatlebens des Beschwerdegegners in
den Therapiesitzungen, Ausdehnung der therapeutischen Sitzungen und
Versicherung jederzeitiger Verfügbarkeit seitens des Beschwerdegegners
sogar während seiner Urlaubsabwesenheit. Dies ist bezeichnend für die
Entwicklung therapeutischer Beziehungen, in denen es schliesslich zu
sexuellen Übergriffen kommt (eingehend BECKER-FISCHER, aaO, S. 203
ff. mit Fallbeispielen; FRIEDEMANN PFÄFFLIN, Sexuelle Grenzverletzungen
im therapeutischen Raum, in: Venzlaff/Foerster [Hrsg.], Psychiatrische
Begutachtung, 4. Aufl., München 2004, S. 308). Die Versicherung
jederzeitiger und vollständiger Verfügbarkeit ohne therapeutische
Notwendigkeit beispielsweise impliziert eine Abhängigkeit und vermittelt
dem betroffenen Patienten indirekt, dass er nicht selbständig,
ohne Hilfe des Therapeuten leben kann. Das Ziel jeder Therapie, den
Therapeuten letztlich überflüssig zu machen, wird damit ins Gegenteil
verkehrt und die Fähigkeit des Patienten zur Selbständigkeit negiert
(BECKER-FISCHER, aaO, S. 203; TSCHAN, aaO, S. 66 f.). Täter testen
durch diese Grenzüberschreitungen die Reaktion ihres Gegenübers. Der
fachliche Auftrag wird dabei sowohl zur Legitimierung als auch zur
Verschleierung eingesetzt. Werden solche vorbereitenden Handlungen
von einer missbrauchenden Fachperson gezielt eingesetzt, lassen sich
Patienten häufig ohne nennenswerten Widerstand manipulieren (TSCHAN,
aaO, S. 67). So zeigt etwa die Bemerkung des Beschwerdegegners, er
sei auch nur ein Mensch, als Reaktion auf seinen ersten klar sexuellen
Übergriff eine weit verbreitete fehlende Einsicht in das Fehlverhalten
und dessen charakteristisches Verharmlosen. Die Bemerkung impliziert zudem
mindestens eine Mitverantwortung der Patientin, sei es auch nur durch ihre
sexuell anziehende Präsenz, was bei sexuellen Übergriffen in der Therapie
eine häufige Strategie des Therapeuten ist, mit welcher das bestehende
Abhängigkeitsverhältnis noch vertieft wird (eingehend BECKER-FISCHER,
aaO, S. 199 ff.; BOSSI, aaO, S. 62 ff.; vgl. auch TSCHAN, aaO, S. 80).

    2.4.3  Auch das Verhalten der Patientin des Beschwerdegegners ist
bezeichnend für sexuelle Übergriffe in der Therapie und ein tief reichendes
Abhängigkeitsverhältnis. Sie reagierte auf den ersten sexuellen Übergriff
mit Ambivalenz. Einerseits war sie schockiert, verunsichert und hatte
Schuldgefühle, anderseits fühlte sie sich auch geschmeichelt, weil
der Beschwerdegegner sie sexuell anziehend fand. Das ist eine häufige
Reaktion auf sexuelle Übergriffe in der Therapie und weist deutlich auf
eine erhebliche Abhängigkeit hin (vgl. BOSSI, aaO, S. 64). Das gilt auch
für das weitere Verhalten der Patientin. Auf ihre unmittelbar dem Kuss
folgende Äusserung, damit sei die Therapie wohl beendet, entgegnete der
Beschwerdegegner, er könne ihr nach wie vor helfen, worauf sie erwiderte,
dies sei in Ordnung. In der Strafuntersuchung erklärte die Patientin
das Fortsetzen der Therapie damit, dass sie den Beschwerdegegner
weiterhin habe sehen wollen oder gar müssen ("I did not want to not
see him so I said OK"). Als sie dem Beschwerdegegner erklärte, kein
Verhältnis zu wünschen, reagierte er scheinbar mit grossem Verständnis,
was seine Anziehung auf sie noch verstärkte. Der Umstand, dass sich die
Patientin in der Folge gleichwohl auf ein sexuelles Verhältnis mit dem
Beschwerdegegner vorwiegend während der Therapiesitzungen einliess,
spricht entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht gegen, sondern
vielmehr für ein starkes Abhängigkeitsverhältnis. Die Psychodynamik der
Patient-Therapeuten-Beziehung ist insbesondere (zumindest zeitweise)
von einer Idealisierung des Therapeuten geprägt. Sie zeichnet sich
zudem typischerweise dadurch aus, dass der Patient seine Sehnsucht nach
Geborgenheit, Harmonie, Anlehnung und Verständnis an den Therapeuten
heranträgt (vgl. BECKER-FISCHER, aaO, S. 206 ff.; PFÄFFLIN, aaO,
S. 309). Charakteristisch für ein Abhängigkeitsverhältnis ist auch die von
der Patientin des Beschwerdegegners stark empfundene Rollenverwirrung. Wenn
der Therapeut zum Intimpartner wird, findet eine Vermischung der Rollen
statt, die für den therapeutischen Prozess verheerende Folgen hat,
weil es zu einer Konfusion sowohl auf Seiten des Patienten als auch auf
jener des Therapeuten führt. Betroffene Opfer können ihren Gefühlen und
Wahrnehmungen nicht mehr vertrauen. Sie können den Behandlungsauftrag
nicht auseinander halten von der durch den therapeutischen Prozess in Gang
gesetzten Erotisierung der Beziehung zum Therapeuten (vgl. WERNER TSCHAN,
Missbrauchtes Vertrauen - Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen,
Basel usw. 2001, S. 91; vgl. auch BOSSI, aaO, S. 63 ff.).

    Im Sinne einer Selbstheilungsstrategie verfallen die Opfer häufig der
Selbsttäuschung (eingehend BECKER-FISCHER, aaO, S. 206 ff., insbes. S.
210 ff.). Eine sexuelle Beziehung zum Psychotherapeuten kann in einer
ersten Phase zu einem Hochgefühl oder einem Erregungszustand führen
(vgl. TSCHAN, aaO, Basel 2001, S. 124), weshalb die Aussage des Opfers,
in der ersten Phase sei es ihr gut gegangen, nicht als Hinweis auf eine
fehlende Abhängigkeit zum Beschwerdeführer gedeutet werden darf.

    Entsprechendes gilt auch für den Abbruch und die Wiederaufnahme
der Therapie durch die Patientin. Den Entschluss zum Abbruch der
Therapie fasste die Patientin während ihres Urlaubes in den USA. Sie
nahm die Therapie aber später wieder auf, was sie wie folgt erklärte:
"Als ich das nächste Mal Probleme mit C. [Ehemann] hatte, rief ich ihn
[Beschwerdegegner] an und fiel sofort ins Alte zurück". Eindrücklicher
als mit dieser Schilderung kann der Sog und die Macht, die der Therapeut
auch nach Abbruch der Therapie auf seine Patientin ausgeübt hat, kaum
gezeigt werden. Sie belegt zusammen mit den oben dargelegten Umständen
deutlich die Stärke des Abhängigkeitsverhältnisses.

    2.5  Zusammenfassend ergibt sich, dass die Patientin des
Beschwerdegegners zu ihm in einem derartigen Abhängigkeitsverhältnis
stand, dass ihre Steuerungsfähigkeit in Bezug auf das Eingehen sexueller
Handlung erheblich eingeschränkt war. Die Zustimmung zur Aufnahme der
sexuellen Handlungen war durch das Therapieverhältnis bestimmt und durch
die ausgeprägte Abhängigkeit zum behandelnden Arzt beeinflusst. Die
Patientin konnte deshalb nicht freiverantwortlich in die sexuellen
Kontakte, die einen schweren Kunstfehler darstellten, einwilligen. Weil
sich das Opfer der Abhängigkeiten und dem starken Machtgefälle gar
nicht bewusst sein konnte, vermochte es auch nicht zu erkennen, welche
verheerenden Folgen sexuelle Kontakte in einem therapeutischen Prozess
haben können (vgl. PFÄFFLIN, aaO, S. 309). Demgegenüber war für den
Beschwerdegegner die Abhängigkeit und deren Ausmass sowie die dadurch
eingeschränkte Steuerungsfähigkeit seiner Patientin erkennbar. Indem er
während der Behandlung gleichwohl sukzessive Grenzverletzungen beging und
sich schliesslich seiner Patientin auch sexuell näherte, hat er im Sinne
von Art. 193 StGB das zwischen ihnen bestehende Abhängigkeitsverhältnis
für sexuelle Zwecke ausgenützt.