Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 131 II 697



Urteilskopf

131 II 697

  55. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S.
Kantonales Steueramt St. Gallen gegen Frau A. sowie Verwaltungsgericht des
Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  2A.471/2004 vom 26. Oktober 2005

Regeste

  Art. 191 BV, Art. 11 Abs. 1 und Art. 72 Abs. 2 und 3 StHG; tarifliche
Gleichbehandlung von Eineltern- und Zweielternfamilien; Grenzen einer
verfassungskonformen Auslegung.

  Verfassungsmässigkeit und Anwendbarkeit von Art. 11 Abs. 1 StHG: Die
Vorschrift, wonach Einelternfamilien und Steuerpflichtigen mit
unterstützungsbedürftigen Personen die gleiche tarifliche Ermässigung
einzuräumen ist wie den verheirateten Personen, verstösst gegen das Gebot
der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und greift in
die Tarifhoheit der Kantone ein (E. 4). Eine Korrektur unter dem
Gesichtswinkel der verfassungskonformen Auslegung verbietet sich angesichts
des klaren Wortlauts der Norm und des eindeutigen Willens des historischen
Gesetzgebers. Trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit ist die Norm
anzuwenden (E. 5).

  Die gesetzliche Regelung des Kantons St. Gallen, welche Eineltern- und
Zweielternfamilien tariflich unterschiedlich behandelt (vgl. E. 2 und 3),
widerspricht Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG. Das Bundesrecht findet daher direkt
Anwendung. Da das Steuerharmonisierungsgesetz in der Tariffrage
keine genügend bestimmte Norm enthält, muss der Regierungsrat die
vorläufigen Vorschriften erlassen (E. 6).

Sachverhalt

  Frau A. ist ledig und allein erziehende Mutter eines minderjährigen
Sohnes, Jahrgang 1997. Sie wohnt in C. Für das Steuerjahr 2001 wurde sie am
27. August 2002 mit einem steuerbaren Einkommen von Fr. 58'600.- und einem
steuerbaren Vermögen von Fr. 36'000.- veranlagt. Gegen die
Veranlagungsverfügung erhob sie am 13. September 2002 Einsprache beim
Kantonalen Steueramt. Sie machte

geltend, die st. gallische Regelung der Besteuerung von Einelternfamilien
verstosse gegen Art. 11 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die
Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden
(Steuerharmonisierungsgesetz, StHG; SR 642.14). Die Bestimmung sehe vor,
dass die Steuer für Alleinerziehende gleich ermässigt werden müsse, wie das
für verheiratete Personen im Vergleich zu allein stehenden Steuerpflichtigen
der Fall sei. Es sei die Rechtsgleichheit in der Besteuerung einer
Einelternfamilie mit einem Kind gegenüber eine Zweielternfamilie mit einem
Kind herzustellen. Der Einelternabzug von Fr. 3'000.- bis maximal Fr.
5'000.- gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c des Steuergesetzes des Kantons St.
Gallen vom 9. April 1998 (StG/SG) sei ungenügend.

  Das Kantonale Steueramt wies die Einsprache am 14. Mai 2003 ab.

  Gegen den Einspracheentscheid führte Frau A. Rekurs bei der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen. Die
Verwaltungsrekurskommission wies mit Entscheid vom 7. Januar 2004 den Rekurs
ab. Sie erwog, Art. 11 StHG sei verfassungswidrig, weil er in die durch Art.
129 Abs. 2 Satz 2 BV den Kantonen vorbehaltene Tarifhoheit eingreife.
Dennoch müsse Art. 11 StHG angewendet werden (Art. 191 BV). Der
Verfassungswidrigkeit sei indessen insofern Rechnung zu tragen, als Art. 11
StHG unter Berücksichtigung der ratio legis möglichst verfassungsmässig
auszulegen sei. Art. 11 Abs. 1 StHG lasse nach seinem Wortlaut keine
unterschiedlichen Tarife zwischen Ein- und Zweielternfamilien zu. Jedoch sei
der Gleichstellung nicht isoliert beim Tarif Rechnung zu tragen. Vielmehr
seien alle Faktoren zu berücksichtigen, welche die Steuerlast beeinflussen
würden. Der Doppeltarif des alten Rechts, welcher die Einelternfamilie dem
Ehepaar mit Kind gleichgestellt habe, sei sachlich nicht begründbar gewesen,
weil er der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht
Rechnung getragen habe. Der neue Einheitstarif (mit Vollsplitting für
gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten), wie er im neuen Steuergesetz ab 2001
enthalten sei, trage dem verfassungsmässigen Prinzip der Besteuerung nach
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besser Rechnung.

  Eine Beschwerde von Frau A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 6. Juli 2004 gut und hob den Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission vom 7. Januar 2004 sowie den Einspracheentscheid
und die Veranlagungsverfügung auf (vgl. StE 2004 B 29.3 Nr. 24).

  Im Sinne eines Zwischenergebnisses stellte das Verwaltungsgericht fest,
dass auf der Grundlage der allgemein anwendbaren Auslegungsmethoden und
-kriterien Art. 11 Abs. 1 StHG so zu verstehen sei, dass die Kantone allein
erziehenden Personen exakt die gleiche steuerliche Ermässigung zu gewähren
hätten wie verheirateten Steuerpflichtigen. Insofern erweise sich die st.
gallische Regelung, welche den gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten und nur
diesen das Vollsplitting gewähre (Art. 50 Abs. 3 StG/SG), als
harmonisierungswidrig. Zu prüfen bleibe das Argument der
Verwaltungsrekurskommission und des Kantonalen Steueramtes, wonach Art. 11
Abs. 1 StHG verfassungskonform auszulegen sei.

  Die in Art. 11 Abs. 1 StHG vorgeschriebene tarifliche Gleichbehandlung von
Einelternfamilien und Zweielternfamilien sei mit den verfassungsrechtlichen
Grundsätzen der Rechtsgleichheit und der Besteuerung nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht zu vereinbaren. Die Vorschrift
erweise sich als verfassungswidrig. Indessen gebiete Art. 191 BV auch die
Anwendung von verfassungswidrigen Bundesgesetzen. Angesichts des klaren
Wortlauts und des vom (historischen) Gesetzgeber gewollten Sinns von Art. 11
Abs. 1 StHG bleibe kein Raum für eine verfassungskonforme Auslegung.

  Da somit die st. gallische Regelung im Widerspruch zu Art. 11 Abs. 1 StHG
stehe, sei sie nicht anwendbar. Das Steuerharmonisierungsgesetz enthalte in
Tariffragen keine genügend bestimmte, direkt anwendbare Vorschrift (Art. 72
Abs. 2 StHG). Der Regierungsrat müsse daher die erforderlichen vorläufigen
Vorschriften erlassen.

  Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Kantonale Steueramt St.
Gallen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 6. Juli 2004 sei
aufzuheben und die Veranlagung gemäss Veranlagungsverfügung vom 27. August
2002 und Einspracheentscheid vom 14. Mai 2003 sei wiederherzustellen.

  Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Art. 11 Abs. 1 StHG lautet wie folgt:

    Art. 11

    1 Für verheiratete Personen, die in rechtlich und tatsächlich
    ungetrennter Ehe leben, muss die Steuer im Vergleich zu alleinstehenden
    Steuerpflichtigen

    angemessen ermässigt werden. Die gleiche Ermässigung gilt auch für
    verwitwete, getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige,
    die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben
    und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten. Das kantonale Recht
    bestimmt, ob die Ermässigung in Form eines frankenmässig begrenzten
    Prozentabzuges vom Steuerbetrag oder durch besondere Tarife für
    alleinstehende und verheiratete Personen vorgenommen wird.

    2-3 (...)

  Der Gesetzgeber des Kantons St. Gallen hat im Steuergesetz vom 9. April
1998 (in der gemäss Nachtragsgesetz vom 26. Mai 2000 ab 1. Januar 2001
anwendbaren Fassung) diese Vorgaben wie folgt umgesetzt:

    Art. 48

    1 Vom Reineinkommen werden für die Steuerberechnung abgezogen:

    a) als Kinderabzug Fr. 5'500.- für jedes minderjährige, unter der
       elterlichen Sorge oder Obhut des Steuerpflichtigen stehende Kind und
       für jedes volljährige, in der beruflichen Ausbildung stehende Kind,
       wenn der Steuerpflichtige für dessen Unterhalt zur Hauptsache
       aufkommt und keinen Abzug gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. c dieses
       Gesetzes beansprucht. Stehen Kinder unter gemeinsamer elterlicher
       Sorge nicht gemeinsam besteuerter Eltern, kommt der Kinderabzug jenem
       Elternteil zu, der für das Kind Unterhaltsbeiträge gemäss Art. 45
       Abs. 1 lit. c dieses Gesetzes erhält. Werden keine Unterhaltsbeiträge
       geleistet, kommt der Kinderabzug jenem Elternteil zu, der für den
       Unterhalt des Kindes zur Hauptsache aufkommt.

    b) als Kinderbetreuungsabzug höchstens Fr. 2'000.- für jedes Kind unter
       15 Jahren (...).

    c) als Einelternabzug 10 Prozent des Reineinkommens, jedoch wenigstens
       Fr. 3'000.- und höchstens Fr. 5'000.-, für ledige, getrennt lebende,
       geschiedene oder verwitwete Steuerpflichtige, die zusammen mit
       Kindern, für die sie einen Abzug gemäss lit. a dieser Bestimmung
       geltend machen können, einen Haushalt führen.

    2-3 (...)

  Art. 50 StG/SG mit dem Randtitel Steuersatz enthält sodann in seinem
Absatz 1 einen progressiven Tarif, nach dem sich die Steuer vom Einkommen
berechnet. Abs. 3 bestimmt das Folgende:

    3 Für gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten wird der Steuersatz des
    halben steuerbaren Einkommens angewendet.

Erwägung 3

  3.  Gemäss dieser kantonalen Regelung werden im Kanton St. Gallen
Einelternfamilien und Zweielternfamilien nicht exakt gleich

besteuert. Das Vollsplitting, bei dem das gemeinsame Einkommen zum Satz des
halben Gesamteinkommens besteuert wird, gelangt nur bei gemeinsam
steuerpflichtigen Ehegatten (mit und ohne Kinder) zur Anwendung (Art. 50
Abs. 3 StG/SG). Allein erziehende Steuerpflichtige werden zum einfachen
Tarif besteuert; sie erhalten dafür den besonderen Sozialabzug
(Einelternabzug) gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c StG/SG. Fraglich ist, ob diese
Regelung vor Art. 11 Abs. 1 StHG standhält.

  Das Verwaltungsgericht kam zum Schluss, auf der Grundlage der allgemein
anwendbaren Auslegungsmethoden und -kriterien sei Art. 11 Abs. 1 StHG so zu
verstehen, dass die Kantone den allein erziehenden Eltern die exakt gleiche
steuerliche Ermässigung zu gewähren hätten wie den verheirateten
Steuerpflichtigen. Insofern erweise sich die st. gallische Regelung, wonach
allein erziehende Personen wie allein stehende Personen zu besteuern seien,
als harmonisierungswidrig. Allerdings sei Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG
seinerseits verfassungswidrig. Denn die vorgeschriebene tarifliche
Gleichbehandlung von Ein- und Zweielternfamilien sei mit dem
Rechtsgleichheitsgebot bzw. dem Prinzip der leistungskonformen Besteuerung
nicht zu vereinbaren, da bei gleichem Einkommen die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit von Einelternfamilien grösser sei als diejenige von
Zweielternfamilien. Dieser Konflikt von harmonisierungswidrigem kantonalem
und verfassungswidrigem Bundes(gesetzes)recht sei hier zugunsten von Art. 11
StHG zu entscheiden. Denn Art. 191 BV gebiete auch die Anwendung von
verfassungswidrigen Bundesgesetzen. Ausserdem seien einer
verfassungsmässigen Auslegung relativ enge Grenzen gesetzt, sofern - wie im
Falle von Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG - Wortlaut und (historisch) gewollter
Sinn der Norm klar seien.

  Diese Auffassung ist im Folgenden zu prüfen. Es stellen sich die Fragen,
welcher Sinn dem Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG durch Auslegung beizumessen ist,
ob die Vorschrift verfassungsmässig ist und ob ein allenfalls als
verfassungswidrig erkanntes Auslegungsergebnis durch eine
verfassungskonforme Auslegung korrigiert werden darf.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht

werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist
dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck
sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen
zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend,
dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 130 II
202 E. 5.1 S. 211 f.; 129 II 114 E. 3.1 S. 118; 125 II 192 E. 3a S. 196 mit
Hinweisen). Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien eine
besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes
Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahe legen (BGE 128 I 288 E.
2.4 S. 292; 124 II 372 E. 6a S. 377). Das Bundesgericht hat sich bei der
Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und
nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus
zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (124 II 372 E. 5 S. 376 mit
Hinweisen).

  Sind mehrere Lösungen denkbar, ist jene zu wählen, die der Verfassung
entspricht (BGE 130 II 65 E. 4.2 S. 71). Allerdings findet die
verfassungskonforme Auslegung - auch bei festgestellter
Verfassungswidrigkeit - im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung
ihre Schranke (BGE 129 II 249 E. 5.4 S. 263; 128 V 20 E. 3a S. 24; 123 II 9
E. 2 S. 11).

  4.2  Gemäss Art. 11 Abs. 1 Satz 1 StHG ist die Steuer für verheiratete
Personen im Vergleich zu den allein stehenden Steuerpflichtigen angemessen
zu ermässigen. Nach Satz 2 daselbst ist "die gleiche Ermässigung" ("cette
même réduction", "la medesima riduzione") auch den allein erziehenden
Personen zu gewähren.

  Der Wortlaut der Norm in allen drei Sprachen ist klar: den verwitweten,
getrennt lebenden, geschiedenen und ledigen Steuerpflichtigen, die mit
Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren
Unterhalt zur Hauptsache bestreiten, ist die gleiche Ermässigung einzuräumen
wie den gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten. Was den Satz 2 betrifft, wird
auch in der Lehre überwiegend die Auffassung vertreten, der Wortlaut sei
eindeutig und lasse keinen Interpretationsspielraum offen; Halbfamilien bzw.
Einelternfamilien seien klar und deutlich gleich zu belasten wie gemeinsam
steuerpflichtige Ehepaare. Auch mit Blick auf die Entstehungsgeschichte
stehe fest, dass der Gesetzgeber nicht nur eine "gleichwertige", sondern
exakt die gleiche Ermässigung

wie für Zweielternfamilien habe vorschreiben wollen (REICH, in: Kommentar
zum Schweizerischen Steuerrecht I/1, 2. Aufl. 2002, N. 26 f. zu Art. 11
StHG; ferner HEUSCHER, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, 2. Aufl.
2004, N. 6 zu § 43 StG/AG; RICHNER/FREI/KAUFMANN, Kommentar zum
harmonisierten Zürcher Steuergesetz, N. 3 zu § 35 StG/ZH). Angesprochen ist
der Steuertarif (vgl. Bericht der Expertengruppe Cagianut zur
Steuerharmonisierung, Schriftenreihe der Treuhand-Kammer Nr. 128, Zürich
1994, S. 20).

  4.3  In der vorherrschenden Doktrin wird die steuerliche (tarifliche)
Gleichbehandlung von verheirateten Personen und allein erziehenden Personen
gemäss Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG allerdings auch kritisiert. Begründet wird
die Kritik am Gesetz damit, dass eine allein erziehende Person a priori
leistungsfähiger sei als ein Ehepaar mit dem gleichem Einkommen und der
gleichen Anzahl Kinder, weil das Einkommen für zwei erwachsene Personen
ausreichen müsse. Es sei deshalb sachfremd und nicht zielgerichtet,
Eineltern- oder Halbfamilien exakt gleich zu besteuern wie Ehepaare (so
bereits der Bericht der Expertengruppe Cagianut, a.a.O., S. 20; ferner
BOSSHARD/BOSSHARD/LÜDIN, Sozialabzüge und Steuertarife im schweizerischen
Steuerrecht, Zürich 2000, S. 208; REICH, a.a.O., N. 28 zu Art. 11 StHG;
RICHNER/FREI/KAUFMANN, a.a.O., N. 3 zu § 35 StG/ZH; DANIELLE YERSIN, L'impôt
sur le revenu. Etendue et limites de l'harmonisation, in: ASA 61 S. 301; für
die direkte Bundessteuer, vgl. BAUMGARTNER, in: Kommentar zum
Schweizerischen Steuerrecht I/2a, N. 32 zu Art. 36 DBG, und PETER LOCHER,
Kommentar zum DBG, Therwil/Basel 2001, N. 10 zu Art. 36 DBG). Als besonders
stossend wird die Gleichstellung mit den Ehepaaren empfunden, wenn zwei
unverheiratete Personen je mit Kindern im Konkubinat zusammenleben, weil in
diesem Fall beide Partner vom Familientarif und den Kinderabzügen
profitieren, ohne dass jedoch ihre Einkommen wie bei einem Ehepaar addiert
werden (REICH, a.a.O., N. 30 zu Art. 11 StHG).

  Diese Kritik ist begründet. In der Tat ist nicht ersichtlich, wie der
Gesetzgeber eine gerechte Verteilung der Steuerlast auf alle Gruppen von
Steuerpflichtigen - Verheiratete, Alleinstehende und unverheiratete Paare,
mit und ohne Kinder - soll herbeiführen können, wenn er verpflichtet ist,
eine allein stehende Person mit Kind exakt gleich zu besteuern wie ein
Ehepaar (mit Kind) bei gleichem Einkommen.

  In allgemeiner Weise lässt sich sagen, dass eine allein stehende Person
mit Kind höhere Ausgaben hat als eine allein stehende Person ohne Kind, aber
geringere Ausgaben als ein Ehepaar mit Kind. Es trifft auch statistisch zu,
dass im Falle einer allein erziehenden Person das Kind höhere Kosten
verursacht, als wenn das Kind in einer Zweielternfamilie aufwächst. Das
erklärt sich mit den Kosten für Betreuung und Erziehung des Kindes, aber
auch damit, dass die Einsparungsmöglichkeiten (Synergien) beim Kind weniger
ausgeprägt sind als bei der zweiten erwachsenen Person (JOSEPH DEISS,
Budgets familiaux et compensation des charges, in: Familien in der Schweiz,
Freiburg 1991, S. 271; vgl. auch BGE 120 Ia 329 E. 4a S. 334). Nach DEISS
erhöhen sich die Kosten der Einelternfamilie für das Kind um rund 39 % (von
0,73 auf 1,02) gegenüber 24 % bei einer Zweielternfamilie (vgl. die Tabelle
bei DEISS, a.a.O., S. 273, mit Erklärung der Abkürzungen S. 266). Die
zusätzlichen Kosten für eine erwachsene Person bewegen sich mindestens in
der gleichen Grössenordnung (ebenda).

  Das hat der Gesetzgeber nunmehr auch im vom Volk am 16. Mai 2004
abgelehnten Bundesgesetz über die Änderung von Erlassen im Bereich der Ehe-
und Familienbesteuerung, der Wohneigentumsbesteuerung und der Stempelabgaben
vom 20. Juni 2003 erkannt, wenn er in Art. 11 Abs. 1 StHG statt der gleichen
Ermässigung nur noch eine gleichwertige Ermässigung vorsah (sog. Steuerpaket
2001, BBl 2001 S. 2983, 3142).

  4.4  Dazu kommt, dass Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG in die Tarifautonomie der
Kantone eingreift. Denn Art. 129 Abs. 2 Satz 2 BV nimmt ausdrücklich "die
Steuertarife, die Steuersätze und die Steuerfreibeträge" von der
Steuerharmonisierung aus. Damit liegt namentlich die Festsetzung der
Steuertarife in der Autonomie der Kantone (vgl. Art. 3 BV). Das ist auch in
der Doktrin unbestrittene Meinung (BOSSHARD/BOSSHARD/LÜDIN, a.a.O., S. 208;
REICH, a.a.O., N. 2 ff. zu Art. 11 StHG; RICHNER/FREI/KAUFMANN, a.a.O., N. 3
zu § 35 StG/ZH). Art. 11 Abs. 1 StHG erweist sich damit in zweifacher
Hinsicht als verfassungswidrig; einerseits, weil er den Grundsatz der
Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gemäss Art. 127
Abs. 2 BV missachtet, und andererseits, weil er in die Tarifautonomie der
Kantone im Bereich der direkten kantonalen Steuern eingreift.

  Die festgestellten Verfassungswidrigkeiten ändern aber nichts daran, dass
der Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG in allen

drei Sprachen klar ist: Verwitweten, getrennt lebenden, geschiedenen und
ledigen Steuerpflichtigen mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen
Personen, mit denen sie zusammenleben und deren Unterhalt sie zur Hauptsache
bestreiten, ist die gleiche Ermässigung einzuräumen wie den gemeinsam
steuerpflichtigen Ehegatten. Vom scheinbar klaren Wortlaut kann nur
abgewichen werden, wenn anzunehmen ist, dass er den wahren Sinn der Norm
nicht richtig wiedergibt. Im klaren Wortlaut und Sinn der Vorschrift findet
auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Schranken (vgl. vorstehende E.
4.1). Wie es sich damit verhält, ist im Folgenden zu prüfen.

Erwägung 5

  5.  Der heutige Satz 2 von Art. 11 Abs. 1 StHG wurde erst in der
parlamentarischen Debatte in den Gesetzesentwurf aufgenommen. Zu prüfen ist
daher, welcher Sinn von Satz 2 sich aus den Materialien ergibt.

  5.1  Art. 11 Abs. 1 StHG ist durch die Beratung des Bundesgesetzes vom 14.
Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) stark
beeinflusst worden. Für das bessere Verständnis der Norm ist daher von
diesem Gesetz auszugehen. Der Entwurf des Bundesrates vom 25. Mai 1983 (BBl
1983 III 1) sah für die direkte Bundessteuer einen Doppeltarif für allein
stehende Personen und für Ehepaare vor (Art. 36 Abs. 2 E-DBG). Allein
stehende Personen, die mit Kindern oder anderen unterstützungsbedürftigen
Personen zusammenleben, wurden den allein stehenden Steuerpflichtigen
gleichgestellt. Es wurde ihnen dafür in Art. 35 Abs. 1 lit. c E-DBG ein
Sonderabzug zugestanden, der neben dem Kinderabzug gemäss lit. a daselbst
hätte geltend gemacht werden können und welcher die Funktion eines Abzuges
für Einelternfamilien übernommen hätte (vgl. BBl 1983 III 73 ff., S. 329).

  Bei der Beratung des Gesetzes über die direkte Bundessteuer am 29. Februar
1988 im Nationalrat wurde indessen der Antrag eingebracht, den Abzug gemäss
Art. 35 Abs. 1 lit. c E-DBG zu streichen und stattdessen "verwitwete,
getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige, die mit Kindern
oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt
zur Hauptsache bestreiten", dem günstigeren Ehegattentarif gemäss Art. 36
Abs. 2 E-DBG zu unterstellen (Antrag Nationalrat Fischer-Sursee, AB 1988 N
17 f., 20). Begründet wurde das damit, dass Einelternfamilien steuerlich
entlastet werden müssen. Bedenken wurden laut,

dass auf diese Weise Konkubinatspaare mit Kindern gegenüber Ehepaaren
begünstigt würden, weil sie vom günstigen Ehegattentarif profitieren,
obschon ihre Einkommen nicht zusammengerechnet werden (vgl. Art. 9 Abs. 1
DBG). Dennoch wurde der Antrag deutlich mit 107 zu 15 Stimmen angenommen
(vgl. AB 1988 N 17 ff.).

  Der Ständerat liess sich von der neuen Fassung nicht völlig überzeugen und
stimmte am 6. Dezember 1988 knapp (mit Stichentscheid des Präsidenten) für
die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung (AB 1988 S 824).

  5.2  Bei der Beratung des Steuerharmonisierungsgesetzes am 31. Januar 1989
im Nationalrat brachte dessen Kommission den Vorschlag ein, dass in Art. 12
Abs. 2 E-StHG (jetzt Art. 11 Abs. 1 StHG) ein zweiter Satz aufgenommen
werde, wonach die "gleiche Ermässigung" auch für verwitwete, getrennt
lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige gelte, die mit Kindern oder
unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt zur
Hauptsache bestreiten (AB 1989 N 41). Nationalrat Salvioni verdeutlichte,
was aus der Sicht der Kommission mit diesem zweiten Satz von Absatz 2
gemeint sei: Es gehe darum, allein erziehenden Steuerpflichtigen eine
vergleichbare Ermässigung ("allégement analogue") zu gewähren wie den
verheirateten Personen; die Frage, ob Einelternfamilien auf die gleiche
Ebene gestellt werden müssten wie Ehepaare, hänge in weitem Masse von der
Tarifhoheit der Kantone ab; die Kantone hätten daher einen breiten
Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Situation der Einelternfamilien
im Gesetz ("une large possibilité de considérer la situation des familles
monoparentales dans leur loi") (AB 1989 N 43 f.).

  In der Folge wurde Absatz 2 Satz 2 von den Nationalrätinnen Uchtenhagen
und Haller jedoch als Angleichung an die bei der direkten Bundessteuer
getroffene Lösung interpretiert (d.h. Anwendung des Familientarifs auch auf
allein erziehende Väter und Mütter). Nationalrätin Spoerry machte geltend,
in Satz 2 gehe es nicht um einen Eingriff in die Tarifhoheit, sondern
lediglich um eine definitorische Festlegung: Es werde den Kantonen
vorgeschrieben, dass der Begriff Familie auch die Einelternfamilie umfasse
(AB 1989 N 44, 45). Die Berichterstatter Reichling und Salvioni wiesen in
der Folge darauf hin, dass der Wortlaut des Antrages ("gleiche Ermässigung")
zu einem falschen Schluss führen könne. Es müsse heissen,

eine entsprechende Reduktion sei auch für Halbfamilien vorzusehen ("une
réduction doit aussi être prevue pour ..."). Es handle sich um eine
redaktionelle Frage, die noch vom Ständerat bereinigt werden könne (AB 1989
N 45). In der Folge wurde Art. 12 Abs. 2 in der von der nationalrätlichen
Kommission vorgeschlagenen Fassung praktisch einstimmig (mit 132 zu 2
Stimmen) angenommen.

  5.3  Bei der weiteren Beratung des Bundesgesetzes über die direkte
Bundessteuer am 7. Juni 1989 (AB 1989 N 735 f.) hielt der Nationalrat an
seinem Beschluss vom 29. Februar 1988 fest (gleicher Tarif für Eineltern-
bzw. Halbfamilien und Ehepaare, vgl. vorn E. 5.1).

  Im Ständerat setzten sich die Ratsmitglieder Piller und Simmen für die
Lösung des Nationalrates ein. Sie begründeten das damit, dass
Alleinerziehende wesentlich zur so genannten Neuen Armut in der Schweiz
beitragen würden und diese Personengruppe steuerlich entlastet werden müsse.
Am 4. Oktober 1989 stimmte auch der Ständerat der neuen Fassung von Art. 12
Abs. 2 E-StHG und am 5. Oktober 1989 der ergänzten Fassung von Art. 36 Abs.
2 E-DBG zu (AB 1989 S 573 f., 593).

  5.4  Die Beratungen im Parlament lassen sich nach dem Gesagten wie folgt
zusammenfassen:
  Die Frage der Gleichstellung der Einelternfamilien (bzw. von allein
stehenden Personen, die mit unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben
und für deren Unterhalt zur Hauptsache aufkommen) mit den Zweielternfamilien
wurde erstmals im Nationalrat bei der Beratung des Bundesgesetzes über die
direkte Bundesteuer erörtert. Dort - bei der direkten Bundessteuer - ging es
eindeutig um eine tarifliche Gleichstellung und nicht bloss um eine
"vergleichbare Ermässigung" für Einelternfamilien (Art. 36 Abs. 2 E-DBG).

  Bei der Beratung des Steuerharmonisierungsgesetzes waren die Meinungen
geteilt, ob die "gleiche Ermässigung" für Einelternfamilien bzw.
Halbfamilien Tarifgleichheit oder lediglich eine vergleichbare Ermässigung
("allégement analogue") bedeute. Die Fassung mit dem massgebenden Wortlaut
wurde vom Nationalrat praktisch einstimmig angenommen. Und auch der
Ständerat sprach sich mit einem schwachem Mehr für die Vorschrift aus.

  Unter diesen Umständen muss davon ausgegangen werden, dass eine Mehrheit
des Parlaments auch für Art. 11 Abs. 1 StHG eine exakt gleiche tarifliche
Behandlung der Eineltern- und Zweielternfamilien

befürwortete. Die Kommissionsreferenten Salvioli und Reichling appellierten
zwar an den Ständerat, die Norm redaktionell anzupassen, doch wurde dieser
Gesichtspunkt im Ständerat nicht weiter verfolgt. Unter dem Eindruck des
engagierten Votums von Ständerat Piller, der die exakt gleiche Ermässigung
bei der Steuer für Alleinerziehende und Ehepaare mit Kindern verfocht,
schloss sich vielmehr eine (wenn auch knappe) Ratsmehrheit dem Beschluss des
Nationalrates an. Sowohl im National- wie auch im Ständerat war den
Ratsmitgliedern zudem hinreichend bewusst, dass die Befürworterseite eine
tarifliche, nicht bloss eine "entsprechende" oder "gleichwertige"
Ermässigung für Einelternfamilien postulierte.

  In den Räten war insbesondere auch klar, dass Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG
in die Tarifautonomie der Kantone eingreift. Dieses Resultat ist indessen
von der Parlamentsmehrheit gewollt.

  Nach dem Gesagten ist Art. 11 Abs. 1 Satz 2 daher in dem Sinn zu
interpretieren, dass die exakt gleiche (tarifliche) Ermässigung, die den in
rechtlich und tatsächlich ungetrennter Ehe lebenden Personen zukommt, auch
für "verwitwete, getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige,
die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und
deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten", gilt. Eine bloss vergleichbare
Ermässigung ist nicht genügend. Dieses Ergebnis kann auch durch eine
verfassungskonforme Interpretation der Norm nicht beiseite geschoben werden.

Erwägung 6

  6.  Gemäss Art. 72 Abs. 2 StHG findet das Bundesrecht direkt Anwendung,
wenn ihm das kantonale Steuerrecht nach Ablauf der Anpassungsfrist (Abs. 1)
widerspricht. Die Kantonsregierung erlässt dabei die erforderlichen
vorläufigen Vorschriften (Art. 72 Abs. 3 StHG). Das Verwaltungsgericht kam
zum Schluss, dass die Regelung zur Besteuerung von Einelternfamilien im
Kanton St. Gallen im Widerspruch zu Art. 11 Abs. 1 StHG steht und auch das
Steuerharmonisierungsgesetz in der Tariffrage keine genügend bestimmte,
direkt anwendbare (Art. 72 Abs. 2 StHG) Vorschrift enthält. In diesem Fall
muss daher der Regierungsrat die erforderlichen vorläufigen Vorschriften
erlassen, wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgehalten hat. Wie der
Regierungsrat diese Anpassung vornehmen wird, ist ihm überlassen. Ob er
dabei sämtlichen Vorgaben des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil
(S. 21) nachkommen

kann, was der Beschwerdeführer bezweifelt, ist hier nicht zu entscheiden. Es
geht dabei um gesetzgeberisches Ermessen, welches der Regierungsrat
stellvertretend für den ordentlichen kantonalen Gesetzgeber vorläufig
wahrnehmen muss. Das Bundesgericht kann hier lediglich über die Auslegung
von Art. 11 Abs. 1 StHG befinden.