Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 10



128 V 10

3. Auszug aus dem Urteil i.S. 1. H., 2. S. und 3. B. gegen Ausgleichskasse
für Gewerbe, Handel und Industrie in Graubünden und Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden H 122/00 + H 123/00 + H 127/00 vom 22. Januar 2002

Regeste

    Art. 52 AHVG; Art. 82 Abs. 1 AHVV; Art. 230 SchKG: Arbeitgeberhaftung;
Verwirkung; Schadenskenntnis. Leistet ein Gläubiger nach der Publikation
der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven die für die Durchführung des
Konkursverfahrens erforderliche Kostensicherheit, so ändert dies nichts
daran, dass die Ausgleichskasse in der Regel im Zeitpunkt der Publikation
Kenntnis des Schadens hat.

Sachverhalt

    A.- B. war Verwaltungsratspräsident, S. Verwaltungsrat und H.
Direktor der Firma X. AG mit Sitz in Y. Nachdem die Gesellschaft bereits
in den Jahren 1994 und 1995 die paritätischen Sozialversicherungsbeiträge
erst auf Mahnungen und Betreibungen hin beglichen hatte, blieb sie
die Pauschalzahlungen ab März 1996 der Ausgleichskasse für Gewerbe,
Handel und Industrie in Graubünden (nachfolgend: Ausgleichskasse)
schuldig. Am 9. Oktober 1996 leitete die Ausgleichskasse die
Betreibung über eine Gesamtforderung von Fr. 132'607.20 ein. Nachdem
kein Rechtsvorschlag erfolgte, stellte sie am 30. November 1996 das
Fortsetzungsbegehren. Am 10. Dezember 1996 wurde über die Gesellschaft
der Konkurs eröffnet. Die Ausgleichskasse liess daraufhin am 23. Dezember
1996 eine Arbeitgeberkontrolle durchführen. Am 30. Januar 1997 wurde das
Konkursverfahren mangels Aktiven wieder eingestellt. Die Publikation im
Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) erfolgte am 7. Februar 1997. Da
ein Gläubiger innert Frist die Durchführung des Konkurses verlangte und
den Kostenvorschuss von Fr. 30'000.- bezahlte, wurde das Konkursverfahren
im ordentlichen Verfahren durchgeführt. Am 5. März 1997 fand die erste
Gläubigerversammlung statt. Mit Eingaben vom 24. März 1997 und vom
23. Juni 1997 meldete die Ausgleichskasse eine Forderung von insgesamt
Fr. 197'279.75 an. Diesen Betrag machte sie mit Verfügungen vom 20. Februar
1998 gegenüber B., S. und H. in solidarischer Haftbarkeit geltend unter
gleichzeitiger Abtretung einer allfälligen Konkursdividende.

    B.- Die auf Einspruch hin von der Ausgleichskasse für Gewerbe, Handel
und Industrie in Graubünden gegen die drei belangten Organe eingereichten
Klagen hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheiden
vom 16. November 1999 gut und verpflichtete die drei Beklagten, der
Klägerin gegen Abtretung

einer allfälligen Konkursdividende Schadenersatz in Höhe von Fr. 190'673.90
in solidarischer Haftbarkeit zu bezahlen.

    C.- B., S. und H. lassen je Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit
dem Antrag, es sei die Klage vollumfänglich abzuweisen.

    Die Ausgleichskasse lässt auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerden schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) beantragt in den Verfahren von S. und B. je die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während es im Verfahren von
H. auf eine Vernehmlassung verzichtet. Als Beigeladene in den Verfahren
der andern Beschwerdeführer reichen B. und S. jeweils eine Vernehmlassung
ein, ohne einen bestimmten Antrag zu stellen, während H. darauf verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Verfahrensvereinigung; vgl. BGE 123 V 215 Erw. 1, 120 V 466 Erw. 1
mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 33 Erw. 1, 157 Erw. 1, 126 V 285 Erw. 1;
POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. 1,
S. 343 unten f.)

Erwägung 5

    5.- a) Nach Art. 82 Abs. 1 AHVV "verjährt" die Schadenersatzforderung,
wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass
einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird. Bei dieser Frist handelt
es sich entgegen dem Wortlaut der Bestimmung um eine Verwirkungsfrist,
die von Amtes wegen zu berücksichtigen ist (BGE 126 V 444 Erw. 3a und
451 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

    Wird der Konkurs weder im ordentlichen noch im summarischen Verfahren
durchgeführt, fällt die zumutbare Kenntnis des Schadens und der Eintritt
desselben in der Regel mit der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven
zusammen, wobei der Publikationszeitpunkt der Konkurseinstellung im SHAB
massgeblich ist (ZAK 1990 S. 289 Erw. 4b und S. 290 Erw. 4c/bb; THOMAS
NUSSBAUMER, Die Ausgleichskasse als Partei im Schadenersatzprozess nach
Art. 52 AHVG, in: ZAK 1991 S. 383 ff., 433 ff., insbesondere S. 390).
Voraussetzung für eine ausreichende Kenntnis des Schadens ist aber,
dass die Ausgleichskasse zu diesem Zeitpunkt bereits alle tatsächlichen
Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen
Merkmale des Schadens sowie die Person des Ersatzpflichtigen kennt. Da die
ausstehende Beitragsforderung Grundlage für die Höhe des Schadens bildet,
kann daher eine Kenntnis bei der Publikation der Konkurseinstellung nur
dann angenommen

werden, wenn die Ausgleichskasse zu diesem Zeitpunkt bereits in der Lage
ist, die Höhe der Beitragsforderung zu beziffern (BGE 126 V 445 Erw. 3c
mit Hinweisen).

    b) Zur Frage, ob die Durchführung des Konkurses auf Grund eines
Gläubigerbegehrens mit Kostensicherstellung im Sinne von Art. 230 Abs. 2
SchKG den Beginn der Verwirkungsfrist verschiebt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht bereits im nicht veröffentlichten Urteil D. vom
28. September 1995 (H 105/95) Stellung bezogen. Es verneinte die Frage für
das summarische Verfahren und verwies zur Begründung im Wesentlichen auf
das nicht veröffentlichte Urteil F. vom 11. Juli 1995 (H 72/95), in welchem
Fall zwar das Konkursverfahren mangels Kostensicherstellung gerade nicht
durchgeführt worden ist. Diese Rechtsprechung hat es unlängst im Urteil J.
vom 4. September 2001 (H 300/00) beiläufig bestätigt.

    Im Unterschied zu dieser Rechtsprechung vertritt das kantonale
Gericht die vom BSV unterstützte Auffassung, die Schadenersatzverfügung
sei rechtzeitig erlassen worden, da ein Gläubiger den Kostenvorschuss
geleistet habe, sodass der Konkurs nicht eingestellt worden sei, sondern im
ordentlichen Verfahren durchgeführt werde. Es sei kaum davon auszugehen,
dass ein Gläubiger einen ansehnlichen Kostenvorschuss bezahle, ohne
die begründete Hoffnung zu haben, es seien noch in erheblichem Ausmass
Aktiven in der Konkursmasse vorhanden. Dies gelte im vorliegenden Fall
umso mehr, als der bevorschussende Gläubiger Finanzfachmann sei und
selbst bis Ende 1995 Verwaltungsrat der konkursiten Firma gewesen sei und
damit deren Verhältnisse viel besser habe einschätzen können als andere
Gläubiger. Dies zeigten auch die Aussagen in einem Zeitungsartikel vom
18. Februar 1997. Die Ausgleichskasse habe als in der zweiten Klasse
privilegierte Gläubigerin bis zur ersten Gläubigerversammlung in guten
Treuen von der Deckung ihrer Forderung ausgehen dürfen.

    c) Nach der Konkurseröffnung wird über das zur Konkursmasse gehörende
Vermögen ein Inventar aufgenommen (Art. 221 SchKG). Der Zweck des Inventars
liegt darin, sich einen Überblick über die Vermögensverhältnisse des
Schuldners zu verschaffen, das Vermögen zu sichern und eine Grundlage
für den Entscheid bezüglich des weiteren Verfahrens (Einstellung
des Konkursverfahrens mangels Aktiven, summarisches oder ordentliches
Verfahren) zu schaffen (URS LUSTENBERGER, in: STAEHELIN/BAUER/STAEHELIN
[Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs,
Basel 1998, N 6 zu Art. 221 SchKG). Im Inventar werden sämtliche

Vermögenswerte mit dem Schätzwert aufgenommen (Art. 221-227 SchKG;
Art. 25-34 KOV; AMONN/GASSER, Grundriss des Schuldbetreibungs-
und Konkursrechts, 6. Aufl., Bern 1997, S. 350, Rz 11 zu § 44). Wird
"keinerlei in die Masse gehörendes Vermögen vorgefunden" (Art. 230 Abs. 1
SchKG in der bis Ende 1996 geltenden Fassung) oder "reicht die Konkursmasse
voraussichtlich nicht aus, um die Kosten für ein summarisches Verfahren zu
decken" (Art. 230 Abs. 1 SchKG in der ab 1. Januar 1997 gültigen Fassung),
so entscheidet das Konkursgericht auf Antrag des Konkursamtes nach Prüfung
der Sachlage über die Frage der Konkurseinstellung mangels Aktiven. Es
hat sich darüber ein selbstständiges Urteil zu bilden, insbesondere ob
erhobene Drittansprüche anerkannt werden müssen und Anfechtungsklagen
irgendwelcher Art nicht möglich oder ohne jede Aussicht auf Erfolg sind
(JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs, 4. Aufl., Zürich 1997-2001, S. 358, N 6 zu Art. 230). Damit
existiert für den Zeitpunkt des Einstellungsbeschlusses ein gerichtlich
überprüftes Inventar, wonach zu wenig Vermögenswerte vorhanden sind, um
wenigstens das summarische Konkursverfahren durchzuführen. Die Situation
verhält sich für die Frage der Schadenskenntnis ähnlich wie mit Bezug auf
die erste Gläubigerversammlung im ordentlichen Verfahren, wenn der Bericht
des Konkursamtes über die Aufnahme des Inventars und den Bestand der Masse
vorliegt (Art. 237 Abs. 1 SchKG), der geeignet ist, die fristauslösende
Kenntnis zumindest im Sinne eines Teilschadens zu verschaffen (BGE 126 V
450). Realistischerweise kann daher die Ausgleichskasse im Zeitpunkt der
Publikation der Einstellung (Art. 230 Abs. 2 SchKG) nicht davon ausgehen,
dass bei Durchführung des Konkurses ihre (privilegierte) Beitragsforderung
gedeckt werde. Ohnehin kann es nicht auf die der Ausgleichskasse in
den meisten Fällen unbekannten Motive des bevorschussenden Gläubigers
ankommen. Die zumutbare Kenntnis des Schadens und der Eintritt desselben
fällt daher in der Regel mit der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven
zusammen, unabhängig davon, ob allenfalls in der Folge das summarische
oder ordentliche Konkursverfahren durchgeführt wird.

    d) Im vorliegenden Fall wurde über die der Beschwerdegegnerin
angeschlossene Aktiengesellschaft am 10. Dezember 1996 der Konkurs
eröffnet. Am 23. Dezember 1996 fand die Arbeitgeberkontrolle
statt (vgl. Art. 162 Abs. 1 AHVV), die eine nicht abgerechnete
beitragspflichtige Lohnsumme von Fr. 1'825'022.10 ergab. Gestützt

darauf war die Beschwerdegegnerin - unabhängig von der vom BSV erwähnten,
hinsichtlich einer Arbeitnehmerin bestehenden Unklarheit über die
Beitragspflicht - in der Lage, die Höhe ihrer Beitragsforderung und
damit die Höhe ihres Schadens zu beziffern, als am 7. Februar 1997 die
Publikation der Konkurseinstellung im SHAB erfolgte. Tags darauf begann
jeweils die einjährige Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV zu laufen
(nicht veröffentlichtes Urteil F. vom 11. Juli 1995, H 72/95). Die drei
Schadenersatzverfügungen vom 20. Februar 1998 ergingen damit nach deren
Ablauf, sodass die drei Schadenersatzforderungen verwirkt sind.