Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 237



128 I 237

23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche
Beschwerde) 1P.458/2001 vom 12. Juni 2002

Regeste

    Art. 32 Abs. 3 BV; Recht auf Überprüfung eines Strafurteils durch
ein übergeordnetes Gericht.

    Diese Vorschrift bedeutet nicht, dass in einem Rechtsmittelverfahren
in Strafsachen kein Kostenvorschuss verlangt werden darf (E. 3).

Sachverhalt

    Das Strafdreiergericht Basel-Stadt sprach X. am 3.  April 2001
des gewerbsmässigen Betrugs und der mehrfachen Widerhandlung gegen
das Betäubungsmittelgesetz schuldig und verurteilte ihn zu 16 Monaten
Gefängnis, unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. X. erklärte
gegen dieses Urteil die Appellation. Das Appellationsgericht des Kantons
Basel-Stadt forderte den Appellanten mit Verfügung vom 15. Juni 2001
auf, einen Kostenvorschuss von Fr. 800.- bis 9. Juli 2001 zu leisten.
X. stellte mit Schreiben vom 19. Juni 2001 das Gesuch, es sei ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und die Verfügung vom 15. Juni
2001 sei aufzuheben. Das Appellationsgericht lehnte das Gesuch am 28. Juni
2001 ab und hielt an der Einforderung des Kostenvorschusses fest, da es
die Appellation als aussichtslos betrachtet.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde beklagt sich X. über eine Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV, weil der
Entscheid vom 28. Juni 2001 keine genügende Begründung enthalte. Ausserdem
wirft er dem Appellationsgericht vor, es habe gegen Art. 32 Abs. 3 BV
verstossen.

    Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und
hebt den angefochtenen Entscheid wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 2
BV auf. Es hält es für angezeigt, gleichwohl noch abzuklären, ob auch
Art. 32 Abs. 3 BV verletzt worden sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  (...)

    Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 32 Abs. 3 BV räume jeder
verurteilten Person das Recht ein, den erstinstanzlichen Entscheid
von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Es werde dabei kein
Unterschied gemacht zwischen einem bedürftigen Straftäter und einem,
der die Kosten des Verfahrens und des Anwalts tragen könne. Eine derart
einschränkende Auslegung des Begriffs der Aussichtslosigkeit, wie sie
das Appellationsgericht vornehme, führe "faktisch zu einer Ausheblung
der neuen Verfassungsbestimmung".

    Gemäss Art. 32 Abs. 3 BV hat jede verurteilte Person das Recht, das
Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ausgenommen sind
die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz urteilt.

    Der Bundesrat führte zu dieser Vorschrift in seiner Botschaft vom
20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung (BBl 1997 I 187) aus,
die Rechtsmittelgarantie ergebe sich bereits aus Art. 2 des Protokolls
Nr. 7 zur EMRK (Prot. Nr. 7 EMRK; SR 0.101.07) und aus Art. 15 (richtig:
Art. 14) Abs. 5 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische
Rechte vom 16. Dezember 1966 (UNO-Pakt II; SR 0.103.2). Wer von einem
Gericht wegen einer Straftat verurteilt wurde, hat nach Art. 2 Abs. 1
Satz 1 Prot. Nr. 7 EMRK das Recht, das Urteil von einem übergeordneten
Gericht nachprüfen zu lassen. "Die Ausübung dieses Rechts und die
Gründe, aus denen es ausgeübt werden kann, richten sich nach dem Gesetz"
(Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Prot. Nr. 7 EMRK). Gemäss Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt
II hat jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist,
"das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht
nachprüfen zu lassen".

    Aus den zitierten Vorschriften ergibt sich, dass die Voraussetzungen
für die Ausübung des Rechts, an ein übergeordnetes Gericht zu gelangen,
von den nationalen Gesetzen umschrieben werden (BGE 124 I 92 E. 2a S. 95;
122 I 36 E. 2 S. 38). Das Bundesgericht betonte, den Vertragsstaaten
werde bei der Wahl des Rechtsmittels und bei dessen Ausgestaltung ein
weiter Ermessensspielraum eingeräumt (BGE 124 I 92 E. 2a S. 95 mit Hinweis
auf die Literatur). Es gelangte in diesem Urteil zum Schluss, es sei mit
Art. 2 Abs. 1 Prot. Nr. 7 EMRK und Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt II vereinbar,
wenn das zweitinstanzliche Gericht nur die Rechtsfragen frei, die Tat-
und Beweisfragen hingegen bloss auf Willkür hin überprüfen könne (BGE
124 I 92 E. 2 S. 94 ff.).

    In der Literatur wird mit Recht erklärt, die grundrechtliche
Rechtsweggarantie bedeute nicht, dass der Rechtsschutz kostenlos
gewährt werden müsse (HEINRICH KOLLER, Rechtsweggarantie als
Grundrecht, in: Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für
Rechtsvergleichung, 1998, S. 309). Art. 32 Abs. 3 BV besagt lediglich,
dass Rechtsmittelinstanzen für die Überprüfung von erstinstanzlichen
Strafurteilen zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Ausgestaltung des
Rechtsmittels erfolgt durch die Strafprozessordnungen der Kantone. Wohl
gibt es Gebiete, auf welchen der Bund prozessrechtliche Bestimmungen
erlassen und die Kantone verpflichtet hat, einfache, rasche und für die
Parteien grundsätzlich kostenlose Verfahren vorzusehen (so namentlich
im Bereich des Sozialversicherungsrechts, vgl. Art. 85 Abs. 2 lit. a des
Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [SR 831.10],
Art. 87 lit. a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung [SR 832.10],
Art. 108 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung
[SR 832.20]; ferner im Bereich der Opferhilfe, vgl. Art. 16 Abs. 1 des
Opferhilfegesetzes [SR 312.5]). Was die in Art. 32 Abs. 3 BV verankerte
Rechtsmittelgarantie in Strafsachen angeht, so ist den Materialien zu
dieser Vorschrift klar zu entnehmen, dass der Bund die Kantone nicht
verpflichtet hat, ein kostenloses Rechtsmittelverfahren vorzusehen. Es
ist deshalb unter dem Gesichtswinkel von Art. 32 Abs. 3 BV nicht
zu beanstanden, wenn die Rechtsmittelinstanz aufgrund des kantonalen
Prozessrechts - im vorliegenden Fall in Anwendung von § 165 Abs. 1 StPO/BS
- einen Appellanten zur Leistung eines Kostenvorschusses verpflichtet. Die
Rüge, der angefochtene Entscheid verletze Art. 32 Abs. 3 BV, ist daher
unbegründet.