Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 184



128 I 184

17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Amt für Justizvollzug, Staatsanwaltschaft und Obergericht
des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.255/2002 vom 25. Juni 2002

Regeste

    Art. 10 Abs. 2 BV, persönliche Freiheit; § 67 StPO/ZH; Anordnung der
Sicherheitshaft im Nachverfahren; gesetzliche Grundlage.

    Die Vorschrift von § 67 StPO/ZH (in Verbindung mit § 58 StPO/ZH) bildet
eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Sicherheitshaft
im Nachverfahren (E. 2).

Sachverhalt

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 27. Juni 1996
wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, Hausfriedensbruchs und mehrfachen
Missbrauchs des Telefons zu sieben Jahren Zuchthaus, wovon 651 Tage durch
Untersuchungshaft und vorzeitigen Strafvollzug erstanden waren. Ausserdem
ordnete es eine ambulante Behandlung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1
StGB während des Strafvollzugs an. Das Obergericht als Berufungsinstanz
bestrafte X. mit Urteil vom 29. August 2000 wegen mehrfacher Drohung,
die er während eines Urlaubs gegenüber dem Opfer der früheren Straftat
(Tötungsversuch) begangen hatte, mit acht Monaten Gefängnis.

    Das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich stellte mit Verfügung vom
14. Dezember 2001 den Vollzug der ambulanten Massnahme gestützt auf Art. 43
Ziff. 3 StGB ein und beantragte dem Obergericht, es sei eine stationäre
Massnahme nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB oder eine Verwahrungsmassnahme
im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, eventuell erneut eine
ambulante Massnahme anzuordnen. Das Amt führte in seiner Verfügung
aus, die bei X. von November 1995 bis September 2000 durchgeführte
Einzeltherapie sei erfolglos gewesen. Am mehr Erfolg versprechenden
Ambulanten-Intensiv-Programm (AIP) in der kantonalen Strafanstalt
Pöschwies nehme er erst seit Juni 2001, mithin bis zum Strafende im Mai
2002 nicht einmal ein volles Jahr teil. Die optimale Behandlungszeit liege
jedoch gemäss Therapiebericht des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes
vom 20. September 2001 bei 2 ½ bis 3 ½ Jahren. Zudem gehe aus diesem
Bericht hervor, dass X. weiterhin einer intensiven deliktpräventiven
Therapie über einen längeren Zeitraum hinweg bedürfe. Im Falle einer
Entlassung aus dem Strafvollzug in den nächsten Monaten bestünde ein
hohes Gefährdungspotential für das Opfer der Anlasstat und für eine
künftige (vermeintliche) Partnerin. Das AIP könne bis im Mai 2002 gewisse
Fortschritte bewirken. Die zur Verfügung stehende Behandlungszeit reiche
aber nicht aus, um das Rückfallsrisiko auf diesen Zeitpunkt hin genügend
zu verringern und eine Entlassung aus dem geschlossenen Vollzugsrahmen
als verantwortbar erscheinen zu lassen.

    Die III. Strafkammer des Obergerichts ordnete im Hinblick auf den
von ihr zu treffenden Entscheid über den Antrag der Vollzugsbehörde eine
ergänzende psychiatrische Begutachtung von X. an. Das Gutachten wurde
per Ende Juli 2002 in Aussicht gestellt. Mit Eingabe vom 4. April 2002
ersuchte das Amt für Justizvollzug das Obergericht, über die Frage der
Sicherheitshaft von X. zu befinden, da dieser seine Strafe am 14. Mai
2002 verbüsst haben werde. Die III. Strafkammer überwies das Gesuch an
den Präsidenten der Anklagekammer des Obergerichts. Dieser ordnete mit
Verfügung vom 19. April 2002 über X. für die Dauer des Nachverfahrens
mit Wirkung ab 14. Mai 2002 die Sicherheitshaft an.

    Das Bundesgericht weist die von X. gegen diesen Entscheid eingereichte
staatsrechtliche Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid, mit
dem gegen ihn für die Dauer des Nachverfahrens mit Wirkung ab 14. Mai 2002
die Sicherheitshaft angeordnet wurde, verletze das Recht auf persönliche
Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV.

    2.1  Mit der Anordnung der Sicherheitshaft über den Beschwerdeführer
wurde dessen Recht auf persönliche Freiheit eingeschränkt. Einschränkungen
dieses Grundrechts sind zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage
beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind; zudem
dürfen sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36
BV; BGE 127 I 6 E. 6 S. 18; 126 I 112 E. 3a S. 115 mit Hinweisen). Im
vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender
Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung
muss nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV im Gesetz selbst vorgesehen sein.

    Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung
oder Fortdauer der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im
Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des
entsprechenden kantonalen Rechts frei (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268
E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). Der Rüge des Beschwerdeführers, die
kantonale Instanz habe die einschlägigen Vorschriften der zürcherischen
Strafprozessordnung (StPO/ZH) willkürlich ausgelegt, kommt daher neben
dem Vorwurf der Verletzung der persönlichen Freiheit keine selbständige
Bedeutung zu. Soweit reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen
der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein,
wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen).

    2.2  Der Präsident der Anklagekammer ordnete die Sicherheitshaft
über den Beschwerdeführer für das so genannte Nachverfahren mit Wirkung
ab 14. Mai 2002 an. Als Nachverfahren gelten Verfahren, in denen sich
das Gericht im Nachgang zu einem Urteil im Hinblick auf eine Massnahme
oder auf den Vollzug einer aufgeschobenen Strafe nochmals mit der Sache
zu befassen hat (ANDREAS DONATSCH, in: Andreas Donatsch/Niklaus Schmid,
Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 1. Lieferung,
März 1996, Rz. 7 zu § 67 StPO/ZH). Das Nachverfahren wird beim Gericht
durch eine entsprechende Eingabe der Vollzugsbehörde anhängig gemacht
(ANDREAS DONATSCH, aaO, Rz. 8 zu § 67 StPO/ZH). Im vorliegenden Fall
geschah dies durch die Eingabe des Amts für Justizvollzug vom 14. Dezember
2001 beim Obergericht. Das Amt hatte den Vollzug der vom Obergericht mit
Urteil vom 27. Juni 1996 angeordneten ambulanten Massnahme eingestellt
und beantragte dem Obergericht, es sei eine stationäre Massnahme oder
eine Verwahrungsmassnahme nach Art. 43 Ziff. 1 StGB anzuordnen. Da über
dieses Begehren nicht bis zum Ablauf der Strafdauer am 14. Mai 2002
entschieden werden konnte, musste geprüft werden, ob für die Dauer
des Nachverfahrens mit Wirkung ab 14. Mai 2002 die Sicherheitshaft
verfügt werden könne. Der Präsident der Anklagekammer des Obergerichts
bejahte diese Frage. Er führte in der angefochtenen Verfügung aus, das
Verfahren betreffend Anordnung der Sicherheitshaft richte sich nach § 67
Abs. 2 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH, wobei im Nachverfahren - zufolge
rechtskräftiger Verurteilung - die Prüfung des dringenden Tatverdachts
entfalle. Es bedürfe sodann einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass
das Nachverfahren zu einer Massnahme führe, welche die Sicherstellung
der Person des Betroffenen erfordere. Zudem müsse einer der besonderen
Haftgründe (Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) gegeben
sein. Der Präsident der Anklagekammer hielt dafür, im vorliegenden
Fall seien die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherheitshaft
gestützt auf § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH erfüllt. Er stützte sich dabei
auf die Überlegungen, welche das Amt für Justizvollzug in der Verfügung
vom 14. Dezember 2001 angeführt hatte. Er betonte, es falle ins Gewicht,
dass die Rückfallsgefahr Ende 2001 noch mit 50% eingeschätzt worden sei,
weshalb bei einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Strafvollzug
derzeit noch ein hohes Gefährdungspotential nicht nur für das Opfer
der Anlasstat, sondern auch für eine allfällige künftige Partnerin
bestehe. Unter diesen Umständen sei die Wahrscheinlichkeit der Anordnung
einer Verwahrung oder einer stationären Massnahme im Nachverfahren
einstweilen als genügend zu bewerten, zumal der Entscheid hierüber nach
Eingang des Ergänzungsgutachtens und der daran anschliessenden mündlichen
Verhandlung letztlich der für die Sache zuständigen III. Strafkammer des
Obergerichts vorbehalten bleibe.

    2.3  In der staatsrechtlichen Beschwerde wird eingewendet, es fehle
im zürcherischen Recht an einer gesetzlichen Grundlage für die Anordnung
von Sicherheitshaft im Nachverfahren. Die in § 67 StPO/ZH vorgesehene
Sicherheitshaft beziehe sich auf die Fortführung der Untersuchungshaft ab
Anklageerhebung. Diese Vorschrift bilde keine hinreichende gesetzliche
Grundlage für die Anordnung von Sicherheitshaft im Nachverfahren. Zudem
wird geltend gemacht, der Beschwerdeführer habe am 14. Mai 2002 die ganze
Strafdauer von sieben Jahren und acht Monaten verbüsst. Der Rechtsgrund
für einen Freiheitsentzug gestützt auf die Verurteilungen von 1996 und
2000 sei somit nicht mehr möglich.

    2.3.1  Das Bundesgericht hatte sich im Jahre 1993 mit einem Fall
zu befassen, in welchem es um die Frage ging, ob § 67 StPO/ZH eine
ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Sicherheitshaft
im Nachverfahren bilde (Urteil 1P.745/1992 vom 1. Februar 1993). In jenem
Fall hatte die Vollzugsbehörde den vom Gericht angeordneten Vollzug der
stationären Massnahme eingestellt und dem Gericht beantragt, es sei im
Sinne von Art. 44 Ziff. 3 StGB zu entscheiden, ob und inwieweit die
zugunsten der stationären Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafen
nachträglich noch zu vollziehen seien oder ob allenfalls eine andere
sichernde Massnahme anzuordnen sei. Die kantonale Behörde war der Ansicht,
wenn das Nachverfahren beim Gericht hängig sei, bilde § 67 StPO/ZH
die Grundlage für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft. Das
Bundesgericht erachtete eine solche Auslegung des kantonalen Rechts
als mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention
vereinbar. Es führte aus, wohl treffe es zu, dass der Fall, in welchem
beim Gericht ein Nachverfahren gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB hängig sei,
in § 67 StPO/ZH nicht ausdrücklich erwähnt sei. Das bedeute jedoch nicht,
dass sich die Haft in diesem Verfahrensstadium nicht auf die Vorschrift
von § 67 StPO/ZH stützen liesse. Es sei kaum möglich, ein Gesetz so zu
formulieren, dass es jeden möglichen Sachverhalt präzis erfasse. Es sei
deshalb unvermeidlich, dass sich in Gesetzen mehr oder weniger allgemeine
Umschreibungen finden, deren Auslegung der Praxis überlassen werden
müsse. Wenn die kantonale Instanz § 67 StPO/ZH dahin interpretiere,
dass diese Bestimmung auch jenen Fall erfasse, in welchem bei einem
Gericht nach der Anklageerhebung im ursprünglichen Verfahren später ein
Nachverfahren gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB hängig sei, so handle es sich um
eine sinnvolle und vernünftige Auslegung. Es wäre stossend und liefe dem
Sinn der Vorschrift über die Sicherheitshaft zuwider, wenn diese im Stadium
des Nachverfahrens ausgeschlossen wäre, denn die Sicherheitshaft bilde auch
in diesem Verfahrensabschnitt das Mittel, um die Person des Beschuldigten
für den allfälligen Straf- oder Massnahmenvollzug sicherzustellen.

    2.3.2  Diese Überlegungen gelten auch für den hier zu beurteilenden
Fall. Er unterscheidet sich von der im erwähnten Urteil behandelten
Sache dadurch, dass der Beschwerdeführer während des Nachverfahrens am
14. Mai 2002 die gegen ihn vom Obergericht am 27. Juni 1996 und 29. August
2000 ausgefällten Strafen von insgesamt sieben Jahren und acht Monaten
verbüsst hat. Der Beschwerdeführer ist zu Unrecht der Meinung, ein
Rechtsgrund für einen Freiheitsentzug sei deshalb gestützt auf diese
Verurteilungen nicht mehr möglich. Gemäss dem Urteil vom 27. Juni 1996
wurde eine ambulante Behandlung während des Strafvollzugs angeordnet. Dies
bedeutet indessen nicht, dass mit der Verbüssung der Strafe jeder Massnahme
die Grundlage entzogen wäre. Massnahmen im Sinne von Art. 43 StGB werden
auf unbestimmte Zeit angeordnet, ohne Rücksicht auf Art und Dauer der
ausgesprochenen Strafe; massgebend sind der Geisteszustand des Täters
und die Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten
(BGE 123 IV 100 E. 3c S. 105 mit Hinweisen auf die Literatur). Es bestehen
verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wenn das Ziel der ambulanten Massnahme
im Vollzug oder in der Freiheit nicht erreicht wird. Wie das Bundesgericht
erklärte (BGE 123 IV 100 E. 3c S. 105 f.), ermöglicht das Bundesrecht
auf der einen Seite, zunächst die ambulante Massnahme anzuordnen und die
Strafe aufzuschieben, wenn der Täter für Dritte nicht gefährlich erscheint
(Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB), und ihn nachträglich im
Falle der Verschlechterung seines Zustands gestützt auf Art. 43 Ziff. 3
StGB zu verwahren. Auf der anderen Seite hindert die Verbindung der
ambulanten Massnahme mit dem Strafvollzug den Richter nicht, die Massnahme
nachträglich zu ändern und dem Verurteilten die nötige Psychotherapie zu
verschaffen (BGE 100 IV 12 E. 2b S. 15) bzw. ihn nötigenfalls zu verwahren
(Art. 43 Ziff. 3 StGB).

    Im vorliegenden Fall wurde das Nachverfahren eingeleitet, damit
das Obergericht nach dem Scheitern der beim Beschwerdeführer während
des Strafvollzugs durchgeführten ambulanten Behandlung prüfen könne,
ob eine stationäre Massnahme oder eine Verwahrungsmassnahme anzuordnen
sei. Der Präsident der Anklagekammer des Obergerichts war mit Recht der
Auffassung, beim Entscheid über die Sicherheitshaft im Nachverfahren
sei § 67 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH analog anwendbar. Es ist klar,
dass im Nachverfahren die Prüfung des dringenden Tatverdachts entfällt,
da eine rechtskräftige Verurteilung bereits vorliegt. Im Nachverfahren
bedarf es für die Anordnung von Sicherheitshaft einer hinreichenden
Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren zu einer Massnahme führt, welche
die Sicherstellung der Person des Betroffenen erfordert. Ausserdem muss
einer der in § 58 Abs. 1 StPO/ZH genannten Haftgründe hinzukommen. Die
kantonale Instanz verletzte das verfassungsmässige Recht auf persönliche
Freiheit nicht, wenn sie annahm, § 67 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH bilde
eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Sicherheitshaft
im Nachverfahren.