Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 IV 216



128 IV 216

31. Urteil der Anklagekammer i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn
gegen Generalprokurator des Kantons Bern, Procureur général du canton du
Jura und Juge d'instruction du canton de Vaud

    8G.94/2002 vom 24. September 2002

Regeste

    Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Bestimmung des Gerichtsstandes.

    Hat noch keiner der Tatortkantone eine Untersuchung gemäss Art. 350
Ziff. 1 Abs. 2 StGB angehoben und besteht überdies in keinem dieser Kantone
ein Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit, ist darauf abzustellen,
wo der Beschuldigte das erste Delikt begangen hat.

Sachverhalt

    A.- Am 18. Juni 2002 reisten der mongolische Staatsangehörige
X. alias Y. und zwei minderjährige Jugendliche von Frankreich kommend in
Kleinlützel/SO in die Schweiz ein, um hier, wie sie gegenüber der Polizei
nach anfänglichem Leugnen gestanden, Ladendiebstähle zu begehen. Am
nächsten Tag wurden die drei Personen von der Zollpatrouille angehalten,
als sie die Schweiz in Kleinlützel wieder verlassen wollten. X. gab zu, sie
hätten in Delémont/JU, Moutier/BE, Montreux/VD und eventuell in Twann/BE
Ladendiebstähle begangen. Zusätzlich werden den Drei Widerhandlungen gegen
das ANAG und das SVG vorgeworfen. Die beiden minderjährigen Beteiligten
wurden im Kanton Solothurn am 24. Juli 2002 zu einer Einschliessungsstrafe
verurteilt. In Bezug auf X. vermochten sich die Behörden der Kantone
Solothurn, Bern, Waadt und Jura in der Gerichtsstandsfrage nicht zu
einigen.

    B.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn wendet sich mit
Eingabe vom 26. August 2002 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und
beantragt, es sei der Gerichtsstand für X. zu bestimmen. Dieser liege
jedenfalls nicht im Kanton Solothurn.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner
Stellungnahme vom 29. August 2002, es seien die Behörden des Kantons Jura
für berechtigt und verpflichtet zu erklären, den Angeschuldigten X. zu
verfolgen und zu beurteilen.

    Der Juge d'instruction du canton de Vaud und der Procureur général
de la République et canton du Jura haben sich am 30. August 2002 und
5. September 2002 vernehmen lassen, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu
stellen. Ihrer Ansicht nach sind die Behörden des Kantons Solothurn für
zuständig zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Die Kammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.  Für die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung sind
die Behörden des Ortes zuständig, wo die strafbare Handlung ausgeführt
wurde (Art. 346 Abs. 1 Satz 1 StGB). Wird jemand wegen mehrerer, an
verschiedenen Orten verübter strafbarer Handlungen verfolgt, so sind die
Behörden des Ortes, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt
worden ist, auch für die Verfolgung und die Beurteilung der andern Taten
zuständig (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).

    Der Beschuldigte hat seinen eigenen Angaben zufolge zusammen mit zwei
Mittätern mehrere Ladendiebstähle begangen. Da sie zu diesem Zweck in die
Schweiz eingereist sind, kommt bandenmässiger Diebstahl gemäss Art. 139
Ziff. 3 StGB in Frage. Dabei handelt es sich um das mit der schwersten
Strafe bedrohte Delikt, weshalb die Widerhandlungen gegen das ANAG und das
SVG bei der Bestimmung des Gerichtsstandes nicht zu berücksichtigen sind.

    Als für den Gerichtsstand massgebende Tatorte des bandenmässigen
Diebstahls kommen nur die Kantone Bern, Jura und Waadt in Frage, während
der Kanton Solothurn, wo der Beschuldigte nur geringfügigere Straftaten
begangen haben soll, als Tatort ausscheidet.

    Der Kanton Solothurn kann im Übrigen auch nicht in Anwendung von
Art. 348 Abs. 1 StGB, der einen Anknüpfungspunkt an dem Ort, wo der Täter
betreten wird, vorsieht, als Gerichtsstand bezeichnet werden, weil die
mutmasslichen Tatorte bekannt sind.

    Der Kanton Solothurn kommt auch nicht deshalb als Gerichtsstand
in Frage, weil die beiden minderjährigen Beteiligten dort bereits zu
Einschliessungsstrafen verurteilt worden sind. Haben Jugendliche als
Mittäter zusammen mit Erwachsenen delinquiert, sind sie an ihrem Wohnsitz
oder Aufenthaltsort zu verfolgen und zu beurteilen, während sich der
Gerichtsstand für die beteiligten Erwachsenen nach den allgemeinen
Regeln bestimmt (Art. 372 StGB; ERHARD SCHWERI, Interkantonale
Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N. 347).

Erwägung 2

    2.  Sind die strafbaren Handlungen, für die jemand verfolgt wird, mit
der gleichen Strafe bedroht, so sind die Behörden des Ortes zuständig,
wo die Untersuchung zuerst angehoben wird (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2
StGB). Im vorliegenden Fall ist bisher in keinem der Tatortkantone Bern,
Jura und Waadt eine Strafanzeige eingegangen oder auf andere Weise eine
Untersuchung angehoben worden. Folglich versagt dieses Kriterium.

    In dieser Situation sind nach der Rechtsprechung die Behörden
desjenigen Kantons zuständig, in dem ein offensichtliches Schwergewicht
der deliktischen Tätigkeit liegt (vgl. Urteil des Bundesgerichts
8G.5/2000 vom 18. Februar 2000, E. 2d; BGE 123 IV 23 E. 2a). Bei nur vier
Ladendiebstählen, die in drei Kantonen begangen wurden, fehlt es jedoch
an einem solchen Schwergewicht (Urteile 8G.76/2002 vom 29. Juli 2002,
E. 2, 8G.65/1998 vom 20. Oktober 1998, E. 2b/bb, und 8G.51/1998 vom
29. Juli 1998, E. 3a). Auch dieses Kriterium führt im vorliegenden Fall
nicht weiter.

Erwägung 3

    3.  Hat noch keiner der Tatortkantone eine Untersuchung angehoben
und besteht überdies in keinem dieser Kantone ein Schwergewicht der
deliktischen Tätigkeit, rechtfertigt es sich, in Analogie zu Art.
350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB darauf abzustellen, wo der Beschuldigte das erste
Delikt begangen hat.

    Es ist unstrittig und wird insbesondere vom Procureur général de
la République et canton du Jura in seiner Eingabe ans Bundesgericht vom
5. September 2002 nicht in Frage gestellt, dass der Beschuldigte zuerst
in Delémont/JU einen Diebstahl begangen hat. Folglich sind die Behörden
dieses Kantons für zuständig zu erklären.