Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 II 133



128 II 133

17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. S. gegen
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    6A.52/2001 vom 29. November 2001

Regeste

    Art. 16 Abs. 2 und 3 SVG, Art. 30 Abs. 1, 2 und 4 VZV;
Führerausweisentzug nach Verkehrsregeldelikten im Ausland.

    Verletzt eine Person mit Wohnsitz in der Schweiz Verkehrsregeln
im Ausland, so kann die zuständige inländische Administrativbehörde
einen Warnungsentzug des Führerausweises nur aussprechen, wenn die
Fahrberechtigung auch vom Tatortstaat entzogen wird (E. 4a-d).

    Diese Einschränkung gilt nicht für den Sicherungsentzug des
Führerausweises (E. 4f).

    Verfügt der Tatortstaat eine andere Administrativmassnahme als den
Führerausweisentzug, prüft die inländische Behörde mit pflichtgemässem
Ermessen, ob eine Verwarnung auszusprechen ist (E. 4e).

Sachverhalt

    A.- S., wohnhaft im Kanton Aargau, fuhr am 21. November 1997, um
09.45 Uhr mit seinem Personenwagen Mercedes-Benz S 600, in D-Hartheim,
auf der A5 von Basel in Richtung Karlsruhe mit einer Geschwindigkeit von
198 km/h (nach Abzug der Toleranz). Damit überschritt er die signalisierte
Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 78 km/h. Er hat den Tatbestand der
Geschwindigkeitsüberschreitung anerkannt.

    B.- Mit Bussgeldbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe,
Zentrale Bussgeldstelle Bretten, vom 19. Januar 1998 wurde S. zu einer
Busse von DM 500.- verurteilt. Ausserdem wurde er mit vier Punkten im
Verkehrszentralregister des Kraftfahrtbundesamtes in Flensburg eingetragen.
Auf den Entzug des Führerausweises (Fahrverbot nach deutschem Recht)
verzichtete die Behörde ausdrücklich. Der Entscheid erwuchs unangefochten
in Rechtskraft.

    Wegen des Vorfalls vom 21. November 1997 entzog das Strassenverkehrsamt
des Kantons Aargau dem Lenker am 9. Juli 1998 den Führerausweis für alle
Kategorien von Motorfahrzeugen für die Dauer von vier Monaten.

    Das Departement des Innern des Kantons Aargau wies eine gegen den
Führerausweisentzug gerichtete Beschwerde am 13. Dezember 1999 ab.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 4. Kammer, hiess am 13. März
2001 eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde von S.

teilweise gut und entzog ihm den Führerausweis gestützt auf Art. 16 Abs. 3
und Art. 17 SVG (SR 741.01) für die Dauer von drei Monaten.

    C.- S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen,
der Entscheid vom 13. März 2001 sei aufzuheben. Es sei von einer
Massnahme abzusehen; eventuell sei eine Verwarnung, subeventuell
ein Führerausweisentzug von zwei Wochen und subsubeventuell ein
Führerausweisentzug von einem Monat auszusprechen. Ferner sei eine
öffentliche Verhandlung durchzuführen, zu welcher der Beschwerdeführer
einzuladen sei.

    D.- Das Verwaltungsgericht verzichtet unter Hinweis auf den
angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung.

    Das Bundesamt für Strassen beantragt sinngemäss Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Auf Ersuchen des Bundesgerichtes erstattete
es überdies einen Amtsbericht zur Frage der Auswirkungen des Europäischen
Übereinkommens über den Entzug der Fahrerlaubnis auf das schweizerische
Recht.

    Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Im kantonalen Verfahren hat der Beschwerdeführer geltend
gemacht, es sei zu berücksichtigen, dass er bereits in Deutschland
bestraft worden sei, weshalb eine weitere Bestrafung für dasselbe
Vergehen nach dem Grundsatz "ne bis in idem" verboten sei. Zudem sei
er in Deutschland mit einer Administrativmassnahme, nämlich mit vier
Strafpunkten im zentralen Verkehrsregister in Flensburg, belegt worden.
Andererseits habe die deutsche Behörde von einem Führerausweisentzug
ausdrücklich abgesehen. Der Führerausweisentzug in der Schweiz stelle
somit eine zusätzliche, drakonische Massnahme dar.

    b) aa) Nach ständiger und langjähriger Rechtsprechung des
Bundesgerichts verletzt die im schweizerischen Recht vorgesehene
Zweispurigkeit der Verfahren nach Strassenverkehrsdelikten den Grundsatz
"ne bis in idem" nicht (letztmals BGE 125 II 402 E. 1). Die Europäische
Kommission für Menschenrechte hat diese Regelung als mit der EMRK
(SR 0.101) konform bestätigt (vgl. den Entscheid des Gerichtshofes
Nr. 31982/96 i.S. T. c. Schweiz, publ. in: VPB 64/2000 Nr. 152
S. 1391 f.). Während der Strafrichter über die strafrechtlichen
Sanktionen Busse und Haftstrafe befindet, entscheidet die zuständige
Administrativbehörde über die Administrativmassnahmen der Verwarnung und
des Führerausweisentzuges. Obwohl der Führerausweisentzug eine gewisse
Strafähnlichkeit aufweist, handelt es sich bei

dieser Sanktion wesentlich um eine im Verwaltungsverfahren ausgesprochene
Massnahme, welche primär die Erziehung des Fehlbaren, nicht dessen
Bestrafung bezweckt. Es kann deshalb nicht davon die Rede sein, der
Betroffene werde, wenn er für ein Verkehrsdelikt strafrechtlich belangt
worden ist, mit dem Führerausweisentzug ein zweites Mal für dasselbe
Verhalten bestraft.

    bb) Nicht anwendbar ist der Grundsatz "ne bis in idem" auf den Umstand,
dass gegebenenfalls vom Tatortstaat und von der zuständigen schweizerischen
Behörde für ein Verkehrsdelikt im Ausland eine Administrativmassnahme
ausgesprochen wird. Dieser Grundsatz bezieht sich allein auf die
strafrechtliche Verfolgung von Delikten. Allerdings müssen die auf Grund
der bestehenden Doppelspurigkeit ausgesprochenen Sanktionen in ihrer
Gesamtheit schuldangemessen sein und dürfen nicht zu einer verkappten
Doppelbestrafung führen (BGE 123 II 464 E. 2).

Erwägung 4

    4.- a) Formell beruht die Rechtsprechung, wonach die schweizerische
Behörde eine Administrativmassnahme zu prüfen und gegebenenfalls zu
verfügen hat, wenn eine Administrativmassnahme vom Tatortstaat verhängt
worden ist, auf Art. 16 Abs. 2 und Abs. 3 SVG sowie auf Art. 30 Abs.
2 und Abs. 4 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung
von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51). In
materieller Hinsicht liegt der Regelung von Art. 30 Abs. 4 VZV folgender
Gedanke zu Grunde:

    Begeht eine Person mit schweizerischem Wohnsitz im
Ausland ein Strassenverkehrsdelikt, so kann der Tatortstaat eine
Administrativmassnahme allein mit Wirkung für das eigene Staatsgebiet
erlassen, Führerausweisentzüge sind nur möglich in Bezug auf die
Fahrberechtigung im Tatortstaat; der schweizerische Fahrausweis kann
als solcher vom Tatortstaat nicht entzogen werden. Das bedeutet, dass
die Massnahme, welche primär der Erziehung des Fehlbaren dienen sollte,
bei Personen, die nicht regelmässig im Tatortstaat mit ihrem Fahrzeug
unterwegs sind, nur eine sehr begrenzte Wirkung zu entfalten vermag. Aus
diesem Grund hat die zuständige schweizerische Behörde gemäss Art. 30
Abs. 4 VZV und ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung im Falle eines
Ausweisentzugs durch einen Drittstaat und bezogen auf die Fahrberechtigung
in diesem Drittstaat zu prüfen, ob diese Massnahme auch mit Wirkung für die
Schweiz zu verfügen und deshalb, den ausländischen Entscheid ergänzend,
der schweizerische Fahrausweis zu entziehen sei. Vom Ausland angeordnete
Administrativmassnahmen können und

sollen in der Regel also nach Massgabe des schweizerischen Rechts mit
Wirkung für den schweizerischen Führerausweis übersetzt und nachvollzogen
werden. An dieser Praxis ist festzuhalten (vgl. auch BGE 123 II 464 E. 2d
mit Hinweis auf 123 II 97 E. 2c).

    b) Im Entscheid BGE 123 II 464 ist das Bundesgericht in Konkretisierung
der genannten Rechtsprechung in Bezug auf diesen Punkt jedoch einen Schritt
weiter gegangen und hat in einem Fall, in dem der Tatortstaat von einem
Führerausweisentzug abgesehen hatte, den Entzug des schweizerischen
Führerausweises für die gesetzliche Minimaldauer von einem Monat als
rechtmässig erachtet. Neben der grundsätzlichen Erwägung zu Art. 34 Abs. 4
VZV, welcher nur die bereits etablierte Praxis zum Führerausweisentzug
für den Regelfall aufnehme, liess sich das Bundesgericht vor allem
vom Gedanken leiten, dass sich die nationalen gesetzlich vorgesehenen
Sanktionen bei Strassenverkehrsdelikten erheblich unterscheiden und die
Übertragung ins schweizerische Recht und mit Geltung für die Schweiz
deshalb nicht einfach sei. Fallbezogen erachtete es deshalb den Entzug
des schweizerischen Führerausweises für die gesetzliche Minimalfrist
von einem Monat im Hinblick auf die von der deutschen Behörde verfügte
Eintragung von drei Strafpunkten im Verkehrszentralregister als angemessen.

    c) In der Folge dieses Entscheides sind die zuständigen schweizerischen
Behörden dazu übergegangen, bei Strassenverkehrsdelikten im Ausland
den Fahrzeugführern mit Wohnsitz in der Schweiz den Führerausweis
routinemässig zu entziehen, wenn er nach schweizerischer Gerichtspraxis
für das nämliche Delikt im Inland entzogen worden wäre. Der Ausgang
des Administrativverfahrens im Tatortstaat war dabei nicht mehr
von Belang. So konnte es geschehen, dass die schweizerische Behörde
einen Geschwindigkeitsexzess auf einer deutschen Autobahn als grobe
Verkehrsregelverletzung qualifizierte - weshalb der Führerausweis zu
entziehen war -, obwohl die deutsche Behörde in demselben Verhalten
lediglich eine Ordnungswidrigkeit zu erkennen vermochte.

    d) Würde diese Praxis allein unter dem Gesichtspunkt der
Strafähnlichkeit eines Führerausweisentzuges betrachtet, müsste sie als
bedenklich erscheinen, zumal wenn in der Schweiz der Führerausweis entzogen
wird, obwohl der Tatortstaat diese Massnahme selbst explizit geprüft,
aber verworfen hat: Die Schweiz würde so ein Verhalten sanktionieren,
das vom Tatortstaat bereits abschliessend milder sanktioniert worden ist.

    Mit ein wesentlicher Grund dafür, dass das Bundesgericht auf
die im Entscheid BGE 123 II 464 begründete Praxis zurückkommt, liegt
jedoch darin, dass innerhalb der Europäischen Union die Umsetzung von
Führerausweisentzügen durch den Wohnsitzstaat des fehlbaren Lenkers
vertraglich geregelt wurde und der Bundesrat ausserdem am 21. November
2001 bekannt gegeben hat, das nationale Führerausweisrecht mit dem
europäischen harmonisieren zu wollen (vgl. Übereinkommen der EU über
den Entzug der Fahrerlaubnis vom 17. Juni 1998, publ. in Amtsblatt
Nr. C 216 vom 10. Juli 1998, S. 2-12; Begleitschreiben des Vorstehers
UVEK vom 21. November 2001 zur Vernehmlassung zur Teilrevision des
Strassenverkehrsrechtes). Das europäische Übereinkommen statuiert folgende
Grundregel: Die durch europäische Drittstaaten als Tatortstaaten verfügten
Führerausweisentzüge können und sollen durch den Wohnsitzstaat übernommen
oder gerichtlich nachvollzogen werden, der Wohnsitzstaat darf jedoch mit
der von ihm verfügten Massnahme nicht über das Sanktionsmass hinausgehen,
das vom Tatortstaat festgesetzt worden ist.

    Die schweizerische Verwaltungs- und Gerichtspraxis, wonach bei
Strassenverkehrsdelikten im Ausland der schweizerische Führerausweis
entzogen werden kann, auch wenn der Tatortstaat von dieser Massnahme
abgesehen hat, ist im europäischen Umfeld singulär. Aus den genannten
Gründen kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der schweizerische
Nachvollzug einer vom Ausland verfügten Massnahme durch die Art der
ausländischen Massnahme begrenzt wird: Der schweizerische Führerausweis
darf deshalb nur noch entzogen werden, wenn auch der Tatortstaat die
Fahrberechtigung für sein Staatsgebiet entzogen hat, eine Verwarnung
darf nur noch ausgesprochen werden, wenn auch der Tatortstaat eine der
schweizerischen Verwarnung entsprechende Massnahme verfügt hat. Dazu
bleibt anzumerken, was folgt:

    e) Die nationalen Systeme gesetzlich vorgesehener
Administrativmassnahmen unterscheiden sich teilweise
erheblich. Gewisse Länder kennen Verkehrszentralregister, in welchen nach
Geschwindigkeitsexzessen oder anderen Strassenverkehrsdelikten Strafpunkte
eingetragen oder Bonuspunkte abgezogen werden. Die Schweiz kennt als
leichteste Administrativmassnahme nur die Verwarnung. Die zuständigen
schweizerischen Behörden haben deshalb nach pflichtgemässem Ermessen zu
prüfen, ob nach einem Auslanddelikt, für das der Tatortstaat eine dem
schweizerischen Rechtssystem fremde Administrativmassnahme verfügt hat,
in der

Schweiz eine Verwarnung auszusprechen ist. Voraussetzung für eine
allfällige Verwarnung ist dabei lediglich, dass der Tatortstaat überhaupt
eine Administrativmassnahme angeordnet hat; nicht erforderlich ist
hingegen, dass die ausländische Administrativmassnahme nach schweizerischem
Recht bereits eine Verwarnung darstellt.

    Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer mit seinem Verhalten die
deutschen Behörden veranlasst, vier Strafpunkte im Verkehrszentralregister
einzutragen. Er ist deshalb nach schweizerischem Recht zu verwarnen.

    f) Die Einschränkung des Führerausweisentzuges nach Auslanddelikten
betrifft nur den Warnungsentzug. Stellt eine Person mit Wohnsitz in
der Schweiz mit ihrem Verkehrsverhalten im Ausland ihre Fahreignung
in Frage, steht es den schweizerischen Behörden nach wie vor frei,
einen Sicherungsentzug des Führerausweises zu prüfen und gegebenenfalls
anzuordnen (vgl. dazu auch Art. 5 des europäischen Übereinkommens über
den Entzug der Fahrerlaubnis).

Erwägung 5

    5.- Zusammenfassend ist festzuhalten: Verletzt eine Person mit
Schweizer Wohnsitz Verkehrsregeln im Ausland, so kann die zuständige
inländische Administrativbehörde einen Warnungsentzug des Führerausweises
nur aussprechen, wenn die Fahrberechtigung auch vom Tatortstaat entzogen
wird. Diese Einschränkung gilt nicht für den Sicherungsentzug des
Führerausweises. Erlässt der Tatortstaat neben der strafrechtlichen
Sanktion eine andere Administrativmassnahme als den Entzug des
Führerausweises (Verwarnung, Strafpunkte in einem Verkehrsregister o.ä.),
so prüft die zuständige inländische Behörde mit pflichtgemässem Ermessen,
ob eine Verwarnung auszusprechen ist.