Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 65



128 III 65

12. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen
Y. und Kantonsgericht St. Gallen, Einzelrichter im Familienrecht
(staatsrechtliche Beschwerde)

    5P.347/2001 vom 14. Dezember 2001

Regeste

    Bemessung des Unterhalts im Rahmen von Eheschutzmassnahmen; Aufnahme
bzw. Ausdehnung der Erwerbstätigkeit eines Ehegatten während einer
voraussichtlich mehrjährigen Trennungszeit, wenn eine Wiederherstellung
des ehelichen Haushaltes nicht zu erwarten ist (Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1,
Art. 163 Abs. 1 und 2, Art. 125 ZGB).

    Ist mit einer Wiederaufnahme des gemeinsamen Haushaltes nicht
mehr ernsthaft zu rechnen, so sind bei der Beurteilung des Unterhalts
und insbesondere der Frage der Wiederaufnahme oder Ausdehnung der
Erwerbstätigkeit eines Ehegatten die für den nachehelichen Unterhalt
geltenden Kriterien mit einzubeziehen. Es ist daher willkürlich, bei
wirtschaftlich relativ knappen Verhältnissen einer 41-jährigen, gesunden
und von jeglicher Kinderbetreuung befreiten Ehefrau, die bis anhin zu
20% erwerbstätig war, nicht zuzumuten, ihre Erwerbstätigkeit während
der voraussichtlich mehrjährigen Trennungszeit allenfalls sogar auf 100%
auszudehnen, sofern dies aufgrund der Arbeitsmarktlage möglich ist (E. 1
und 4).

Sachverhalt

    Im Rahmen des Eheschutzverfahrens verfügte der Bezirksgerichtspräsident
von W. am 25. Juni 2001, X. habe der von ihm getrennt lebenden Y. ab Juni
2001 monatlich Fr. 1'500.- zu bezahlen. Demgegenüber verpflichtete der
Einzelrichter im Familienrecht des Kantonsgerichts St. Gallen (nachfolgend:
Einzelrichter) am 31. August 2001 X. in teilweiser Gutheissung eines
Rekurses, Y. vom 1. Juli bis Ende November 2001 monatlich Fr. 1'170.-, ab
Dezember 2001 Fr. 780.- zu entrichten. Mit staatsrechtlicher Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 9 BV beantragt X., das einzelrichterliche Urteil
in Bezug auf den ab Dezember 2001 geschuldeten Beitrag aufzuheben. Das
Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den angefochtenen
Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist im vorliegenden Fall der Unterhaltsbeitrag, den der
Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin ab Dezember 2001 zu bezahlen
hat. Dieser Beitrag hängt von der Höhe des der Beschwerdegegnerin
anzurechnenden hypothetischen Einkommens ab.

    Nach Auffassung des Einzelrichters ist es der Beschwerdegegnerin nicht
zuzumuten, sich vom bisherigen, rund 20% betragenden Arbeitspensum rasch
auf ein ganzes Pensum umzustellen. Dabei erwog er einerseits, wenn bei
einer Trennung die Wiederherstellung des gemeinsamen Haushaltes nicht zu
erwarten sei, gewinne das Ziel der wirtschaftlichen Selbständigkeit an
Bedeutung. Ein Ehegatte, der mit der späteren Scheidung rechnen müsse,
habe sich darauf

einzustellen. Insoweit sei es daher angebracht, dass die Beschwerdegegnerin
ihre Erwerbstätigkeit ausdehne, zumal die Mehrkosten der beiden
Haushalte mit dem bisherigen Einkommen der Parteien nicht gedeckt werden
könnten. Andererseits gelte es aber auch zu berücksichtigen, dass der
Trennungsunterhalt zwischen dem Familienunterhalt im engeren Sinne und
dem Scheidungsunterhalt stehe. Die knapp zwanzigjährige "Hausgattenehe"
habe die Lebensweise der Beschwerdegegnerin entscheidend geprägt; eine
rasche und vollständige Umstellung sei ihr deshalb nicht zuzumuten, zumal
sie dadurch sogar schlechter gestellt würde als nach einer Scheidung. Nach
einer angemessenen Umstellungszeit von drei Monaten könne eine Ausdehnung
der Erwerbstätigkeit auf 50% zugemutet werden.

Erwägung 4

    4.- Nach Auffassung des Beschwerdeführers widerspricht es Recht und
Billigkeit, dass der Beschwerdegegnerin lediglich eine hypothetische
Erwerbstätigkeit von 50% angerechnet wird. Obwohl er als Vater die
Obhut über die Kinder innehabe, werde ihm nebst der entsprechenden
Haushaltstätigkeit eine 100% übersteigende Erwerbstätigkeit zugemutet;
demgegenüber werde von der Beschwerdegegnerin lediglich eine Ausdehnung
der Erwerbstätigkeit von 20 auf 50% verlangt, obgleich sie erst 41-jährig
und physisch sowie psychisch gesund sei, nur noch für sich selbst zu
sorgen habe und der Arbeitsmarkt einer Ausdehnung der Erwerbstätigkeit
nicht entgegenstehe.

    a) Bei der Festsetzung von Geldbeträgen des einen Ehegatten an den
andern nach Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB geht der Richter grundsätzlich von
den bisherigen, ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarungen der
Ehegatten über Aufgabenteilung und Geldleistungen aus, die der ehelichen
Gemeinschaft eine bestimmte Struktur gegeben haben (Art. 163 Abs. 2
ZGB). In der Literatur wird hervorgehoben, dass solche Strukturen im
Rahmen von Eheschutzmassnahmen nicht gänzlich verändert werden sollen,
ansonsten die Scheidung vorweggenommen werde (SCHWANDER, Basler Kommentar,
N. 2 zu Art. 176 ZGB). Im Hinblick auf die erhoffte Stabilisierung,
wenn nicht Rettung der Ehe wird die Rücksichtnahme auf die bisher
gelebte Ehe bzw. Anknüpfung an die bisherigen Verhältnisse im Rahmen des
Eheschutzes postuliert (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 1999,
N. 18 zu Art. 176 ZGB). Ist aber eine Wiederherstellung des gemeinsamen
Haushaltes nicht mehr zu erwarten, gewinnt das Ziel der wirtschaftlichen
Selbständigkeit zunehmend an Bedeutung (vgl. HAUSHEER/BRUNNER, in:
Handbuch des Unterhaltsrechts, 1997, Rz. 4.98).

    Nach den unbestrittenen Feststellungen des Einzelrichters wurde die
Trennung von den Parteien seit längerem erwogen, und bekundet einer
der Ehegatten klar seine Scheidungsabsicht. Die Trennung scheint
denn auch nicht eine der Stabilisierung oder Rettung der Ehe dienende
Massnahme zu sein, sondern vielmehr Folge des neuen Scheidungsrechts,
wonach die Scheidung grundsätzlich nur verlangt werden kann, wenn die
Ehegatten bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Klage mindestens vier
Jahre getrennt gelebt haben (Art. 114 ZGB). Ist mit einer Wiederaufnahme
des gemeinsamen Haushaltes nicht mehr ernsthaft zu rechnen, erscheint
es sachgerecht, bei der Beurteilung des Unterhalts und insbesondere
der Frage der Wiederaufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit die
für den nachehelichen Unterhalt geltenden Kriterien (Art. 125 ZGB) mit
einzubeziehen. Damit ist gleichzeitig die im angefochtenen Entscheid
befürchtete Gefahr gebannt, dass ein Ehegatte im Eheschutzverfahren
schlechter gestellt ist als nach einer Scheidung. Ob eine Erwerbstätigkeit
aufzunehmen ist, ab welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang deren
Wiederaufnahme oder Ausdehnung zumutbar ist, hängt damit vor allem von
Alter und Gesundheit der Ehegatten, ihrem Einkommen und Vermögen, von
Umfang und Dauer der noch zu leistenden Betreuung der Kinder, aber auch
von der beruflichen Ausbildung und den Erwerbsaussichten der Ehegatten ab;
massgebend ist schliesslich der mutmassliche Aufwand für die berufliche
Eingliederung der anspruchsberechtigten Person (Art. 125 Abs. 2 ZGB;
siehe auch SCHWENZER, in: Praxiskommentar Scheidungsrecht, 2000, N. 42
zu Art. 125 ZGB).

    b) Nach den Feststellungen des angefochtenen Entscheides verdient der
Beschwerdeführer bei der Post unter Berücksichtigung der Familien- und
Kinderzulagen sowie aufgrund zusätzlicher Hauswarttätigkeit monatlich
netto Fr. 5'700.-. Die Beschwerdegegnerin absolviert als Aushilfe
in einem Altersheim ein 20%-Pensum und erzielt ein Nettoeinkommen von
durchschnittlich Fr. 840.- pro Monat. Davon ausgehend, dass ihr nach
einer Übergangszeit von drei Monaten eine 50%-ige Erwerbstätigkeit
zuzumuten und infolgedessen ein Einkommen von Fr. 1'980.- anzurechnen
sei, belaufen sich die gesamten Einkünfte auf Fr. 7'680.-. Damit wird
der Notbedarf der Haushalte der Parteien (Beschwerdeführer: Fr. 2'780.-,
Kinder: Fr. 1'750.-, Beschwerdegegnerin: Fr. 2'570.-) knapp gedeckt:
Nach Abzug des umstrittenen Unterhalts von Fr. 780.- verbleibt dem
Beschwerdeführer für sich und seine beiden Söhne ein Überschuss von
Fr. 390.-, der Beschwerdegegnerin ein solcher von Fr. 190.-.

    Dem angefochtenen Entscheid ist des Weiteren zu entnehmen, dass die
Ehe knapp zwanzig Jahre dauerte und die "Haushaltehe" die Lebensweise der
Beschwerdegegnerin entscheidend geprägt hat, was vom Beschwerdeführer
nicht bestritten wird. Der Einzelrichter hat der Beschwerdegegnerin
eine bis Ende November 2001 dauernde Übergangsfrist eingeräumt, um ihre
Erwerbstätigkeit von 20 auf 50% auszudehnen. Es handelt sich dabei um eine
relativ kurz bemessene Frist, die, wenn dies auch nicht explizit gesagt
wird, darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Beschwerdegegnerin
schon vor der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes einer 20%-igen
Erwerbstätigkeit nachgegangen ist.

    c) Aufgrund der Sachverhaltsfeststellung hat mit der Auflösung des
Haushaltes auch die Rollenverteilung der Parteien eine grundlegende
Änderung erfahren. Die beiden Söhne - der ältere (1983) absolviert eine
Lehre, der jüngere (1985) das neunte Schuljahr - bleiben im Haushalt des
Beschwerdeführers, dem die Haushaltführung für sich und die beiden Söhne
obliegt. Die Beschwerdegegnerin hat nur noch für sich selbst zu sorgen. Da
die Rollenverteilung nachwirkt, ist der Beschwerdegegnerin mit Rücksicht
auf die Ehedauer eine angemessene Umstellungsphase zuzubilligen. Allein
der Umstand, dass die Parteien während rund 20 Jahren eine Hausgattenehe
geführt haben, welche die Lebensweise der Beschwerdegegnerin wesentlich
prägte, rechtfertigt es nicht, ihr im Verlaufe der vierjährigen
Trennungszeit keine weiter gehende Umstellung zuzumuten, zumal die
wirtschaftlichen Verhältnisse relativ knapp sind. Die Beschwerdegegnerin
ist (erst) 41 Jahre alt. Sie bestreitet nicht, gesund zu sein, und
ist überdies von jeglicher Betreuungsaufgabe entbunden. Bei dieser
Sachlage ist es unhaltbar und damit willkürlich, der Beschwerdegegnerin
eine weitere Ausdehnung ihrer Erwerbstätigkeit, allenfalls auf 100%, im
Verlaufe der voraussichtlichen mehrjährigen Trennungszeit nicht zuzumuten.
Fraglich kann einzig noch sein, ob es ihr auch wirtschaftlich möglich ist,
die Erwerbstätigkeit entsprechend auszudehnen, wovon der Beschwerdeführer
ausgeht, wozu sich aber im angefochtenen Entscheid keine expliziten
Feststellungen finden.