Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 III 12



128 III 12

4. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen
Verwaltungsgericht des Kantons Zug (Berufung) 5C.234/2001 vom 1. Oktober
2001

Regeste

    Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Begriff der schweren Verwahrlosung;
Verzicht auf Einholung eines Gutachtens im gerichtlichen Verfahren.

    Der besondere Einweisungsgrund der schweren Verwahrlosung gemäss
Art. 397a Abs. 1 ZGB ist auf einen Zustand der Verkommenheit zugeschnitten,
welcher mit der Menschenwürde nicht mehr vereinbar ist (E. 3).

    Art. 397e Ziff. 5 ZGB stellt eine erneute Begutachtung ins richterliche
Ermessen, wenn ein Entscheid in einem erstinstanzlichen gerichtlichen
Verfahren unter Beizug eines Sachverständigen ergangen ist. Sieht ein
Kanton eine einzige richterliche Instanz vor, so ist diese verpflichtet,
ein Gutachten einzuholen. Frage offen gelassen, ob sie im Lichte von
Art. 397e Ziff. 5 ZGB auf ein Sachverständigengutachten aus einem zeitlich
unmittelbar vorangegangenen gerichtlichen Verfahren abstellen darf (E. 4c).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Berufungskläger macht geltend, die Vorinstanz habe die
fürsorgerische Freiheitsentziehung aufgrund einer (zwar bestrittenen)
"zunehmenden Verwahrlosung" bestätigt, obwohl das Gesetz eine schwere
Verwahrlosung voraussetze.

    Gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB darf eine mündige oder entmündigte
Person wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen
Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten
Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige
persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann. Nach der Botschaft
über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Fürsorgerische
Freiheitsentziehung] soll der Begriff der Verwahrlosung jene Fälle decken,
in welchen die EMRK (SR 0.101) die Versorgung zulässt, ohne dass

Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Suchterkrankung vorliegt (BBl
1977 III 25). Während der bundesrätliche Entwurf völlige Verwahrlosung
verlangte (BBl 1977 III 59), sieht das Gesetz nur, aber immerhin, schwere
Verwahrlosung vor. Auch damit bleiben leichtere Fälle von vornherein
ausgeschlossen. Der gesetzliche Begriff ist vielmehr auf einen Zustand der
Verkommenheit zugeschnitten, welcher mit der Menschenwürde schlechterdings
nicht mehr vereinbar ist. Oft ist in einem solchen Fall gleichzeitig der
Einweisungsgrund der Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Suchterkrankung
gegeben. Dies muss aber nicht immer der Fall sein, weshalb die schwere
Verwahrlosung als besonderer Einweisungsgrund vorgesehen ist (BBl 1977
III 25; THOMAS GEISER, Basler Kommentar, N. 10 zu Art. 397a ZGB; EUGEN
SPIRIG, Zürcher Kommentar, N. 106 ff. zu Art. 397a ZGB).

    Das Verwaltungsgericht hat unter anderem ausgeführt, die Klinikärzte
bejahten eine Selbstgefährdung in Form einer zunehmenden Verwahrlosung, da
der Berufungskläger bei einer sofortigen Entlassung keinen Wohnplatz habe
und seine Übernahme durch das Wohnheim im jetzigen Zeitpunkt abgelehnt
würde. Dieser Sachverhalt dürfte - für sich genommen - den Tatbestand
der schweren Verwahrlosung nicht erfüllen. Nun ergibt sich aber aus
dem angefochtenen Entscheid, dass der primäre Einweisungsgrund die
festgestellte Geisteskrankheit ist und dem Hinweis auf die "zunehmende
Verwahrlosung" mehr ergänzende Bedeutung zukommt. Die geschilderten
Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden, haben in aller Regel auch nicht
die Verwahrlosung zur Folge, können aber zu gravierenden Problemen führen,
wenn jemand geisteskrank und deswegen eines geschützten Rahmens bedarf. Mit
dem ergänzenden Hinweis auf die Gefahr zunehmender Verwahrlosung hat die
Vorinstanz demnach kein Bundesrecht verletzt.

Erwägung 4

    4.- Der Berufungskläger rügt eine Verletzung von Art. 397e Ziff. 5
ZGB, weil die Vorinstanz es unterlassen habe, seinen Gesundheitszustand
durch einen unabhängigen Experten prüfen zu lassen. Der Arzt, der den
Bericht verfasst habe, sei an seiner Behandlung beteiligt und daher
nicht unabhängig. Daran vermöge auch das Visum des Chefarztes nichts zu
ändern, zumal die Vorinstanz auch über das Entlassungsgesuch befunden
und die Klinik zu diesem Stellung genommen habe. Bereits anlässlich
der mündlichen Anhörung hatte der Berufungskläger ausdrücklich einen
unabhängigen Experten verlangt, da "die Ärzte hier ... immer wieder mit
den gleichen alten Geschichten" kommen.

    a) Gemäss Art. 397e Ziff. 5 Satz 1 ZGB darf bei psychisch Kranken nur
unter Beizug von Sachverständigen entschieden werden. Der Sachverständige
muss ein ausgewiesener Fachmann, aber auch unabhängig sein (BGE 118 II
249; 119 II 319 E. 2b S. 321 f.). Er darf sich nicht bereits im gleichen
Verfahren über die Krankheit des Betroffenen geäussert haben. An die
Unabhängigkeit des Experten sind die gleichen Anforderungen zu stellen
wie an das urteilende Gericht. Damit wird namentlich die Mitwirkung in
der unteren Instanz in demselben Verfahren ausgeschlossen, wie dies etwa
der Fall ist, wenn zunächst die Klinikleitung zu einem Entlassungsgesuch
Stellung zu nehmen hat, der Betroffene in der Folge den Rechtsweg
beschreitet und in der Klinik tätige Ärzte als Sachverständige auftreten
(BGE 118 II 249 E. 2c S. 253).

    b) Hat die vormundschaftliche Behörde die Unterbringung oder
Zurückbehaltung angeordnet, entscheidet sie auch über Entlassungsgesuche
(Art. 397b Abs. 3 ZGB). Da der Berufungskläger vom Bürgerrat eingewiesen
wurde, wäre dieser zum Entscheid über die Entlassung zuständig
gewesen. Insoweit konnte der Klinik von vornherein nicht die Funktion
einer ersten Instanz zukommen, wie dies der Fall wäre, hätte sie die
Unterbringung oder Zurückbehaltung angeordnet. Die Klinik war allerdings
insoweit in das Verfahren involviert, als sie mit der Weiterleitung
des Entlassungsgesuchs an das Verwaltungsgericht erklärte, dass aus
psychiatrisch-psychosozialer Sicht zur Zeit keine Indikation bestehe,
der einweisenden Behörde die Entlassung zu empfehlen. Diese Erklärung
ist gleich zu würdigen wie der kurz danach am 31. Juli 2001 erstattete
ärztliche Bericht.

    Beim Arzt, der diesen Bericht zumindest mitverfasst und auch
mitunterzeichnet hat, handelt es sich um den behandelnden Arzt des
Berufungsklägers; in dieser Eigenschaft war er auch bei der Anhörung
des Berufungsklägers am 30. Juli 2001 zugegen. Geht man davon aus, dass
an die Unabhängigkeit des Sachverständigen die gleichen Anforderungen zu
stellen sind wie an das urteilende Gericht, so wird diese nicht nur durch
eine förmliche Mitwirkung des Sachverständigen in der unteren Instanz in
Frage gestellt. Freilich können Klinikärzte nicht generell als Gutachter
ausgeschlossen werden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt
sich aus praktischen Gründen eine erste Begutachtung durch Klinikärzte
nicht beanstanden, wenn eine Person in eine Klinik eingewiesen wird,
nachdem ihr unvorhergesehen und krisenbedingt fürsorgerisch die Freiheit
entzogen worden ist (BGE 118 II 249 E. 2a S. 251).

Anders verhält es sich, wenn jemand wegen stets gleicher Vorkommnisse
mehrere Male in derselben Klinik untergebracht wird. Stützt sich das
Gericht in solchen Fällen ausschliesslich auf Berichte des behandelnden
Arztes bzw. dessen Vorgesetzten, lässt sich die Objektivität der
Begutachtung - bei aller subjektiven Redlichkeit des Gutachters -
nicht hinreichend bejahen (BGE 118 II 249 E. 2b S. 252; THOMAS GEISER,
Basler Kommentar, N. 21 zu Art. 397e ZGB). Insoweit erweckt Bedenken,
dass das Verwaltungsgericht auf den Bericht der Klinik vom 31. Juli 2001
abgestellt hat. Dem Berufungskläger wurde seit 1993 nun bereits zum
sechsten Mal fürsorgerisch die Freiheit entzogen. Nach der Aktenlage
wurde er zumindest das letzte Mal, möglicherweise aber schon früher,
in der Klinik hospitalisiert. Dies heisst zwar nicht, dass Berichte der
Klinik bzw. der behandelnden Ärzte einfach unbeachtlich sind. Doch können
sie nicht als allein massgebliche Grundlage für die Beurteilung einer
fürsorgerischen Freiheitsentziehung dienen.

    c) Das Verwaltungsgericht beruft sich aber auch auf ein
anstaltsexternes Gutachten vom 16. Dezember 1998, in dem chronisch
paranoide Schizophrenie und eine Polytoxikomanie (Alkohol und Drogen
verschiedenster Art) diagnostiziert wurden. Gestützt darauf hat es damals
festgestellt, dass dem Berufungskläger jegliche Krankheitseinsicht fehle
und er die Einnahme dringend notwendiger Medikamente verweigere; es hat
sodann erwogen, dass eine ambulante Behandlung ausser Betracht falle und
wegen des Fehlens einer Wohnmöglichkeit, eines sozialen Netzes und einer
Beschäftigung rasch mit einem Rückfall in die Verhältnisse zu rechnen wäre,
die zur Einweisung geführt hätten.

    Art. 397e Ziff. 5 Satz 2 ZGB hält ausdrücklich fest, dass "obere
Gerichte" auf den Beizug eines Sachverständigen verzichten können, wenn ein
Sachverständiger in einem gerichtlichen Verfahren bereits einmal zugezogen
worden ist. Diese, im bundesrätlichen Entwurf nicht vorgesehene Bestimmung
(BBl 1977 III 60), geht auf einen Antrag der ständerätlichen Kommission
zurück (AB 1978 S 44) und bezweckt ins richterliche Ermessen zu stellen,
ob eine erneute Begutachtung anzuordnen ist, falls bereits ein Entscheid
in einem erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren unter Beizug eines
Sachverständigen ergangen ist. Hingegen dispensiert die Bestimmung nicht
davon, ein Sachverständigengutachten einzuholen, weil ein solches bereits
in einem früheren Verfahren eingeholt worden ist. Dies ergibt sich aus der
Formulierung "obere Gerichte" (siehe auch ALEXANDER IMHOF, Der formelle
Rechtsschutz, insbesondere

die gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung,
Diss. Freiburg 1999, S. 110 f.; EUGEN SPRING, Zürcher Kommentar, N. 215
ff. zu Art. 397e ZGB); diese Auslegung ist aber auch durch die Materialien
begründet, denen zufolge es darum geht, dass Mitwirkung oder Beizug eines
Sachverständigen "sich auf eine Instanz beschränken kann, womit namentlich
auch das Bundesgericht nicht verpflichtet ist, stets eine neue Mitwirkung
anzuordnen" (Berichterstatter Hefti, AB 1978 S 44).

    Sieht nun ein Kanton - wie der Kanton Zug - eine einzige
richterliche Instanz vor, die insoweit als oberes Gericht zu gelten
hat, kommt der Verzichtsvorbehalt zwangsläufig nicht zum Zuge. Indem
das Verwaltungsgericht auf das in einem früheren Verfahren dem Gericht
erstattete Gutachten abgestellt hat, ist es der gesetzlichen Pflicht,
einen Sachverständigen beizuziehen, nicht nachgekommen. Wie zu entscheiden
wäre, wenn das Gutachten in einem dem vorliegenden Verfahren zeitlich
unmittelbar vorangegangenen Verfahren eingereicht worden wäre, kann dahin
stehen. Seit der Einreichung des Gutachtens vor rund zweieinhalb Jahren
ist eine Zeitspanne verstrichen, die auch ohne die in Frage stehende
Bestimmung eine erneute Begutachtung nahegelegt hätte.

    Konnte demnach auf das Gutachten aus dem Jahre 1998 nicht abgestellt
werden und verfügte die Klinik unter den gegebenen Umständen nicht über die
erforderliche Unabhängigkeit, verstösst die Bestätigung der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung gegen Art. 397e Ziff. 5 ZGB; das angefochtene
Urteil ist demnach aufzuheben. Dies bedeutet freilich nicht, dass der
Berufungskläger entlassen werden kann. Vielmehr hat die Vorinstanz nach
Einholung eines Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen über die
Beschwerde neu zu entscheiden, weshalb die Sache an sie zurückzuweisen ist.