Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 491



127 V 491

71. Auszug aus dem Urteil vom 26. September 2001 i. S. H. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern

Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Öffentliche Verhandlung. Die auf sachliche Gründe
gestützte Ablehnung des Begehrens um Verschiebung einer öffentlichen
Verhandlung verstösst nicht gegen Bundesrecht, insbesondere nicht
gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin erblickt darin, dass die Vorinstanz
ihrem Begehren um Verschiebung der auf den 21. Oktober 1999 angesetzten
öffentlichen Verhandlung nicht entsprach, eine Verletzung von Art. 6
Ziff. 1 EMRK. Danach hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in
billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört
wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über
die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu
entscheiden hat (Satz 1).

    a) aa) Gemäss Art. 108 Abs. 1 UVG (Ingress) wird das Verfahren der
kantonalen Versicherungsgerichte grundsätzlich von den Kantonen selbst
geregelt, wobei es jedoch den in dieser Bestimmung einzeln

aufgeführten Minimalanforderungen zu genügen hat. Bezüglich der
Öffentlichkeit der Verhandlung wird in Art. 108 Abs. 1 lit. e UVG einzig
festgehalten, dass die Parteien "in der Regel" zur Verhandlung vorgeladen
werden (Satz 1) und die Beratung des Gerichts in Anwesenheit der Parteien
stattfinden "kann" (Satz 2).

    § 35 Abs. 1 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons
Luzern vom 3. Juli 1972 (VRG; Systematische Rechtssammlung des Kantons
Luzern [SRL] Nr. 40) bestimmt, dass die Behörde gesetzlich bestimmte
Fristen nur erstrecken kann, wenn die betroffene Partei oder ihr Vertreter
während des Fristenlaufes stirbt oder handlungsunfähig wird. Nach Abs. 2
können behördlich bestimmte Fristen durch die Behörde erstreckt werden,
wenn vor Fristablauf ein Gesuch gestellt und ein ausreichender Grund
glaubhaft gemacht wird. Diese Vorschriften gelten sinngemäss für die
Verschiebung von Terminen (Abs. 3).

    Die Verordnung über das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in
Streitsachen aus dem Gebiet der eidgenössischen und der kantonalen
Sozialversicherung (...) vom 20. Oktober 1983 (SRL Nr. 44) enthält
hinsichtlich der Verschiebung einer im kantonalen Verfahren angesetzten
öffentlichen Verhandlung keine besonderen Regeln.

    bb) Die verfahrensrechtlich strittige Ablehnung der Verschiebung der
öffentlichen Verhandlung mit Schreiben vom 20. September 1999 kommt nach
dem Gesagten einer kantonalrechtlichen prozessleitenden Zwischenverfügung
gleich (zum Begriff der Zwischenverfügung: RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches
Prozessrecht und Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel/Frankfurt a.M.
1996, S. 237 Rz 1235 ff.; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl.,
Bern 1983, S. 53 ff. und 140 ff.). Daran ändert nichts, dass die gestützt
auf Art. 108 UVG erlassenen kantonalrechtlichen Bestimmungen auf Grund
der derogatorischen Kraft des internationalen Rechts so auszulegen sind,
dass sie der durch Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Garantie einer
öffentlichen Verhandlung genügen (BGE 122 V 51 Erw. 2b mit Hinweis). In
BGE 126 V 143 hat das Eidg. Versicherungsgericht in Änderung der bisherigen
Rechtsprechung erkannt, dass die bundesverwaltungsrechtlichen Normen über
die prozessuale Ausgestaltung des kantonalen Sozialversicherungsprozesses
zusammen mit den Grundsätzen des Sachzusammenhangs und der Einheit des
Prozesses für die sachliche Zuständigkeit des Eidg. Versicherungsgerichts
zur Überprüfung kantonalen Verfahrensrechts sprechen, und zwar auch
dann, wenn es allein um die Anfechtung eines reinen kantonalrechtlichen
Prozess(zwischen)entscheides

geht, und unabhängig davon, ob das Rechtsmittel in der Sache
selbst ergriffen wird. Für die Annahme einer bundesrechtlichen
Verfügungsgrundlage im Sinne von Art. 97 OG in Verbindung mit Art. 5 VwVG
und Art. 128 OG genügt es daher, wenn der dem Verfahren zu Grunde liegende
materiellrechtliche Streitgegenstand dem Bundessozialversicherungsrecht
angehört. Das ist vorliegend zu bejahen, da es in der Hauptsache um die
Leistungspflicht nach UVG geht, weshalb die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
auch insoweit zulässig ist, als sie sich gegen die unterbliebene
Verschiebung der öffentlichen Verhandlung richtet.

    b) Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist anwendbar, da materiell-rechtlich Leistungen
nach UVG im Streite liegen und es sich dabei rechtsprechungsgemäss um
zivilrechtliche Ansprüche im Sinne der genannten Konventionsbestimmung
handelt (BGE 122 V 50 f. Erw. 2a). Eine Verletzung des Grundsatzes der
Öffentlichkeit (Satz 1; vgl. FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,
Kehl/Strassburg/Arlington 1996, Rz 117 zu Art. 6 EMRK; HAEFLIGER/SCHÜRMANN,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl.,
Bern 1999, S. 190 ff.; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Aufl., Zürich 1999, Rz 443 ff.) ist
indessen zu verneinen. Einerseits wurde die auf den 21. Oktober 1999
festgesetzte partei- und publikumsöffentliche Verhandlung gemäss der
Vorladung vom 9. August 1999 durchgeführt. Andererseits wurde das Prinzip
der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung nicht dadurch verletzt,
dass die Vorinstanz den Verhandlungstermin, nach Rücksprache mit dem
Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, festgesetzt sowie gestützt
auf sachliche Gründe (einfaches und rasches Verfahren, vgl. Art. 108
Abs. 1 lit. a UVG; zeitliche Belastung des Gerichts; fehlender Nachweis
kostenintensiver Dispositionen im Zusammenhang mit der geltend gemachten
Ferienabwesenheit) bereits mit Verfügung vom 20. September 1999 eine
Verschiebung der Verhandlung abgelehnt hat. Analoges gilt hinsichtlich der
Frage, ob die Vorinstanz dem Gebot der Fairness im Verfahren (fair trial;
Satz 1) zuwider handelte (vgl. FROWEIN/PEUKERT, aaO, Rz 71 ff. zu Art. 6
EMRK; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, aaO, S. 179 ff.; VILLIGER, aaO, Rz 473 ff.). In
Prozessen über zivilrechtliche Ansprüche gewährleistet Art. 6 Ziff. 1 EMRK
nicht generell, jedoch dann einen Anspruch auf persönliches Erscheinen oder
mündliche Anhörung vor Gericht, wenn dies für die Entscheidung der Sache
von unmittelbarer Bedeutung ist (RKUV 1996 Nr. U 246 S. 167 Erw. 6 c/bb

mit Hinweisen). Wie es sich damit verhält, wenn in einer
unfallversicherungsrechtlichen Streitigkeit die Würdigung
medizinischer Akten in Frage steht und die Beschwerdeführerin
sich durch ihren Rechtsvertreter im kantonalen Verfahren mehrfach
schriftlich äusseren konnte (Beschwerde, Replik, Stellungnahme samt
Ergänzungsfragen/Zusatzaufträge zum vom Gericht in Auftrag gegebenen
polydisziplinären Gutachten), braucht nicht beurteilt zu werden, da die
Vorinstanz der Beschwerdeführerin mit Vorladung vom 9. August 1999 auch
das Recht zur persönlichen Teilnahme an der öffentlichen Verhandlung vom
21. Oktober 1999 eingeräumt hatte. Die Erörterung des Prozessstoffes
im Rahmen der persönlichen Beteiligung am Verfahren steht in engem
Zusammenhang mit der beweisrechtlichen Frage, ob die Vorinstanz zu Recht
auf eine Parteibefragung verzichtet hat. Zu prüfen bleibt deshalb,
ob der Verzicht auf diese eine Gehörsverletzung darstellt. Das ist
konventions- (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, aaO, S. 187
ff.) wie verfassungsrechtlich (Art. 4 aBV; Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 126
V 130) zu verneinen. Die Beschwerdeführerin konnte sich, wie bereits
dargelegt, im Rahmen des zweifachen Schriftenwechsels und im Zusammenhang
mit der Erstattung des Gerichtsgutachtens Gehör verschaffen. Inwieweit die
persönliche Befragung den Sachverhalt weiter hätte klären können, ist nicht
ersichtlich, weshalb im Verzicht auf die persönliche Befragung und in der
damit verbundenen antizipierten Beweiswürdigung keine Gehörsverletzung
erblickt werden kann (BGE 122 V 162 ff. Erw. 1d und 2 mit Hinweisen),
zumal das rechtliche Gehör im Rahmen des Äusserungsrechts keinen Anspruch
auf mündliche Anhörung verleiht (BGE 125 I 219 Erw. 9b). Die Behauptung,
wonach die Vorinstanz mit Schreiben vom 20. September 1999 die persönliche
Befragung der Beschwerdeführerin als entscheidrelevant erachtet habe,
trifft nicht zu.

    c) Eine Verletzung anderen Bundesrechts liegt ebenfalls nicht
vor. Die Vorinstanz hat insbesondere kantonales Recht (§ 35 VRG) nicht
willkürlich angewandt, wenn sie implizit einen ausreichenden Grund für
die Verschiebung der öffentlichen Verhandlung verneinte, da es sich
nach Art. 108 Abs. 1 lit. a UVG um ein einfaches und rasches Verfahren
handelte, der Gerichtstermin nach Rücksprache mit dem Rechtsvertreter
der Beschwerdeführerin festgelegt wurde und die Verschiebung der geltend
gemachten Ferien keine (kostenintensiven) Dispositionen (Annulation von
Flügen oder sonstiger Buchungen) bedingt hätte.

    d) Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht weder Art. 6 Ziff. 1
EMRK noch anderes Bundesrecht verletzt (Art. 104 lit. a OG), indem es die
Verschiebung der öffentlichen Verhandlung vom 21. Oktober 1999 abgelehnt
und auf eine persönliche Befragung der Beschwerdeführerin verzichtet hat.