Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 18



127 V 18

3. Auszug aus dem Urteil vom 15. Januar 2001 i. S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen M. und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau Regeste

    Art. 3a Abs. 7 lit. a, Art. 3c Abs. 1 lit. g und h ELG; Art. 1 Abs. 3
und 4 ELV: Anrechenbares Einkommen getrennt lebender Ehegatten. Die
in Art. 1 Abs. 3 ELV vorgesehene Anrechnung des den Existenzbedarf
übersteigenden Einkommens des nicht in die Ergänzungsleistungsberechnung
einbezogenen, getrennt lebenden Ehegatten als familienrechtlicher
Unterhaltsbeitrag ist gesetzwidrig.

Sachverhalt

    A.- Der 1925 geborene M. lebt seit 1994 von seiner Ehefrau B.
getrennt. Im Juni 1998 meldete er sich zum Bezug einer Ergänzungsleistung
zur Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung an. Die EL-Stelle
des Kantons Thurgau ermittelte die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren
Einnahmen. Gestützt darauf errechnete sie einen Einnahmenüberschuss und
wies das Leistungsgesuch mit Verfügung vom 11. September 1998 ab. Auf
Grund einer Neuberechnung bestätigte sie mit Verfügung vom 30. November
1998 die Gesuchsabweisung. Der Einnahmenüberschuss ergab sich unter anderem
daraus, dass M. ein hypothetischer, familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag
in der Höhe des den Existenzbedarf der Ehefrau übersteigenden Einkommens
im Betrag von 3'135 Franken angerechnet wurde.

    B.- Die von M. dagegen erhobene Beschwerde hiess die
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 27. April
1999 in dem Sinne teilweise gut, als es die Verfügung vom 30. November 1998
aufhob und die Sache an die EL-Stelle zurückwies, damit diese zusätzliche
Abklärungen in Bezug auf die anrechenbaren Vermögenswerte vornehme und
hernach, unter Nichtanrechnung familienrechtlicher Unterhaltsbeiträge und
des reduzierten Zinses, im Sinne der Erwägungen über einen allfälligen
Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu verfüge.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche
Rückweisungsentscheid sei insoweit aufzuheben, als damit die
Nichtanrechnung familienrechtlicher Unterhaltsbeiträge angeordnet
worden sei.

    M. beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, (...). Die
Rekurskommission schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Die EL-Stelle lässt sich in gutheissendem Sinne vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Schweiz wohnhafte Schweizer Bürger, die eine Altersrente
der Alters- und Hinterlassenenversicherung beziehen, haben gemäss Art. 2
Abs. 1 ELG Anspruch auf Ergänzungsleistungen, wenn die von diesem Gesetz
anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Die jährliche
Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben
die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 3a Abs. 1 ELG). Die im
Sinne von Art. 2 Abs. 1 ELG anrechenbaren Einnahmen sind nach Massgabe
des Art. 3c ELG zu bestimmen. Als Einnahmen anzurechnen sind danach
unter anderem Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist
(Art. 3c Abs. 1 lit. g ELG) sowie familienrechtliche Unterhaltsbeiträge
(Art. 3c Abs. 1 lit. h ELG). Über die Berechnung der Ergänzungsleistungen
im Falle der Ehetrennung enthält das ELG keine Bestimmung.

    Art. 1 Abs. 3 ELV sieht in diesem Zusammenhang vor, dass, solange
die Unterhaltspflicht gerichtlich nicht geregelt ist, Einkommen, das den
Existenzbedarf des nicht in die Ergänzungsleistungsberechnung einbezogenen
Ehegatten übersteigt, voll als familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag
angerechnet wird. Als getrennt lebend gelten Ehegatten - abgesehen von
der gerichtlichen Ehetrennung oder der Hängigkeit einer Scheidungs-
oder Trennungsklage - wenn eine tatsächliche Trennung mindestens ein
Jahr ohne Unterbruch gedauert hat oder glaubhaft gemacht wird, dass eine
tatsächliche Trennung längere Zeit dauern wird (Art. 1 Abs. 4 ELV).

Erwägung 3

    3.- Im Streit liegt einzig die Frage, ob dem Beschwerdegegner bei
der Ergänzungsleistungsberechnung ein den Existenzbedarf der Ehefrau
übersteigendes Einkommen von 3'135 Franken als familienrechtlicher
Unterhaltsbeitrag anzurechnen ist.

    a) Die Rekurskommission verneint dies unter anderem mit der Begründung,
Art. 1 Abs. 3 ELV sei mit den Grundsätzen nicht vereinbar, wonach der
Entscheid über die Unterhaltspflicht und die Höhe der Unterhaltsbeiträge
ausschliesslich dem Zivilrichter vorbehalten sei und nicht durch
einen Ermessensentscheid der Sozialversicherungsbehörden ersetzt
werden könne. Von einem ergänzungsleistungsrechtlichen Verzicht auf
familienrechtliche Unterhaltsbeiträge und mithin von der Anrechenbarkeit
eines hypothetischen Einkommens könne nur dann ausgegangen werden,
wenn der entsprechende Prozess gute Erfolgsaussichten habe und eine
Prozessführung zumutbar sei. Irgendwelche Gründe, welche eine davon
abweichende Behandlung bei getrennt lebenden Ehegatten mit je einem
separaten Ergänzungsleistungsanspruch rechtfertigen könnten, seien nicht
auszumachen. Abgesehen davon sei das in der Verordnungsbestimmung
statuierte Vorgehen auch gar nicht praktikabel, indem sich der
hypothetische Unterhaltsbeitrag nach dem Existenzbedarf des nicht in die
Ergänzungsleistungsberechnung einbezogenen Ehegatten richte und nicht
definiert sei, wie dieser Begriff zu interpretieren und die Berechnung
vorzunehmen sei. Art. 1 Abs. 3 ELV sei gesetzwidrig und gehe weit über
den Rahmen der dem Bundesrat in Art. 3a Abs. 7 ELG eingeräumten Kompetenz
hinaus.

    b) Das BSV hält die fragliche Verordnungsbestimmung für gesetzmässig.
Es beruft sich dabei auf Art. 3a Abs. 7 lit. a ELG, welcher dem
Bundesrat ein weites Ermessen in der Ausgestaltung einräume. Eine
entsprechende Regelung sei bereits in der Wegleitung von 1979 enthalten
gewesen und habe 1990 Eingang in die ELV gefunden. Bisher habe sich
diese Lösung bewährt. Bei faktischer Trennung sei es für die Ehegatten
oft einfacher, finanzielle Fragen nicht regeln zu müssen. Solange sie
keine Ergänzungsleistungen beanspruchen würden, stehe ihnen dies auch
frei. Wenn indessen ein Ehegatte solche Leistungen anbegehren wolle,
müssten sich die Ehepartner über die Unterhaltsbeiträge verständigen. Die
Verordnungsbestimmung erweise sich als geeignete Massnahme zur Verhinderung
von Missbräuchen. Solange es an einer gerichtlichen Festlegung der
Unterhaltsbeiträge fehle, sei der Einnahmenüberschuss voll beim anderen
Ehegatten anzurechnen. Falls die betroffene Person mit diesem Vorgehen
nicht einverstanden sei, könne sie gestützt auf Art. 176 ZGB an den
Zivilrichter gelangen, dessen Entscheid für die EL-Stelle verbindlich sei.

Erwägung 4

    4.- a) (Überprüfung von Verordnungen des Bundesrates durch das Eidg.
Versicherungsgericht; vgl. BGE 127 V 7, je Erw. 5a mit Hinweisen).

    b) Das Ergänzungsleistungsgesetz ermächtigt den Bundesrat nicht
zum Erlass ergänzender (gesetzesvertretender) Vorschriften über die
Anrechnung von Unterhaltsbeiträgen. Damit steht ihm nur das Recht zu,
Ausführungsvorschriften zu erlassen. Ausführungs- bzw. Vollzugsverordnungen
kommt die Funktion zu, die gesetzlichen Bestimmungen zu konkretisieren
und gegebenenfalls untergeordnete Lücken zu füllen, soweit dies für den
Vollzug des Gesetzes erforderlich ist. Die Ausführungsbestimmungen müssen
sich jedoch an den gesetzlichen Rahmen halten und dürfen insbesondere keine
neuen Vorschriften aufstellen, welche die Rechte der Bürger beschränken
oder ihnen neue Pflichten auferlegen, selbst wenn diese Regeln mit dem
Zweck des Gesetzes vereinbar wären. Vollzugsbestimmungen sind zudem
nur in dem Umfang zulässig, als das Gesetz dafür Raum lässt und nicht
bewusst auf eine präzisere Regelung der betreffenden Frage verzichtet
(BGE 126 II 291 Erw. 3b, 125 V 273 Erw. 6b).

    c) Die Vorinstanz geht - ohne dies näher zu begründen - davon aus,
Art. 1 Abs. 3 ELV stütze sich auf Art. 3a Abs. 7 und Art. 3c Abs. 1
lit. h ELG.

    Unter der Überschrift "Berechnung und Höhe der jährlichen
Ergänzungsleistung" gibt Art. 3a Abs. 7 lit. a ELG dem Bundesrat unter
anderem die Kompetenz, die Zusammenrechnung der anerkannten Ausgaben und
anrechenbaren Einnahmen von Familiengliedern zu regeln; er kann Ausnahmen
von der Zusammenrechnung insbesondere bei Kindern, die einen Anspruch auf
eine Kinderrente der AHV oder IV begründen, vorsehen. Die Zusammenrechnung
von anrechenbaren Einnahmen und anerkannten Ausgaben beinhaltet zwei
verschiedene Schritte. Zuerst ist festzustellen, welche Einnahmen und
welche Ausgaben beim Ehegatten, der Ergänzungsleistungen anbegehrt, zu
berücksichtigen sind. Was zu den anerkannten Ausgaben und den anrechenbaren
Einnahmen zu zählen ist, bestimmen die Art. 3b und 3c ELG. Stehen die
Einnahmen und die Ausgaben im konkreten Fall fest, ist in einem zweiten
Schritt eine Zusammenrechnung vorzunehmen. So bestimmt Art. 3a Abs. 4 ELG,
dass die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten,
Personen mit rentenberechtigten oder an der Rente beteiligten Kindern sowie
von Waisen, die im gleichen Haushalt leben, zusammenzurechnen sind. Auf
Grund von Art. 3a Abs. 7 lit. a ELG ist der Bundesrat ermächtigt, dazu
Vorschriften zu erlassen. Von dieser Kompetenz hat er namentlich in den
Art. 1b und 1c ELV sowie in Art. 8 bis 10 ELV Gebrauch gemacht.

    Art. 1 Abs. 3 ELV regelt dagegen nicht die Zusammenrechnung von
Ausgaben und Einnahmen, sondern die Anrechenbarkeit von familienrechtlichen
Unterhaltsbeiträgen im Sinne von Art. 3c Abs. 1 lit. h ELG. In dieser
Verordnungsbestimmung legt der Bundesrat nämlich fest, in welchem Umfang
Einnahmen demjenigen Ehegatten anzurechnen sind, der Ergänzungsleistungen
verlangt, indem er Einkommen, das den Existenzbedarf des nicht in die
Ergänzungsleistungsberechnung einbezogenen Ehegatten übersteigt, beim
Gesuchsteller voll als familienrechtlichen Unterhaltsbeitrag anrechenbar
erklärt.

    Hinzu kommt, dass getrennt lebende Ehegatten, die - wie hier -
je eine eigene Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung haben,
einen selbstständigen Anspruch auf Ergänzungsleistungen begründen (Art. 1
Abs. 1 ELV). Ihre Einnahmen und Ausgaben werden gesondert berechnet
und es wird für beide je der Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf für
Alleinstehende angewandt (ERWIN CARIGIET, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV,
Supplement 2000, S. 80). Eine Zusammenrechnung von anerkannten Ausgaben
und anrechenbaren Einnahmen ist in einem solchen Fall somit naturgemäss
ausgeschlossen, weshalb die Anrechnung von Einkünften des nicht in die
Ergänzungsleistungsberechnung einbezogenen Ehepartners einzig unter dem
Titel der familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge gemäss Art. 3c Abs. 1
lit. h ELG erfolgen könnte.

    d) Zu prüfen ist daher weiter, ob die gesetzliche Grundlage von Art. 1
Abs. 3 ELV in Art. 3c Abs. 1 lit. h ELG erblickt werden kann. Nach dieser
Gesetzesbestimmung sind familienrechtliche Unterhaltsbeiträge als Einnahmen
anzurechnen. Dabei sind unter dem Begriff "Unterhaltsbeiträge" die
effektiven, auf den Franken genau bestimmten Einnahmen zu verstehen. Dies
ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Bestimmung, sondern auch
aus dem im Ergänzungsleistungsbereich geltenden Grundsatz, wonach
bei der Anspruchsberechtigung die tatsächlich vereinnahmten Einkünfte
und vorhandenen Vermögenswerte zu berücksichtigen sind (BGE 121 V 205
Erw. 4a). Soll dagegen beispielsweise ein Pauschalbetrag berücksichtigt
werden, muss dies der Gesetzgeber ausdrücklich vorsehen. Von der Regel
genau bestimmter Beträge darf der Verordnungsgeber daher nur abweichen,
wenn er ausdrücklich dazu ermächtigt wird. Dies ist namentlich bei
Art. 16a und 16b ELV der Fall, indem der Gesetzgeber in Art. 3a Abs. 7
lit. g und h ELG bezüglich der Heiz- und Nebenkosten ausnahmsweise
von einem Pauschalbetrag ausgeht und die Festsetzung der Höhe der
Pauschale der Verordnung überlässt. Art. 1 Abs. 3 ELV, welcher vom
Grundsatz der Berücksichtigung der effektiv erzielten Einnahmen bei
der Anrechenbarkeit von familienrechtlichen Unterhaltsbeiträgen eines
getrennt lebenden Ehegatten abweicht, hält vor dem Gesetz daher nur dann
stand, wenn dieses dem Bundesrat ausdrücklich die Ermächtigung erteilt,
auf Verordnungsstufe eine entsprechende Regelung zu treffen. Da sich
eine solche Delegationsnorm im Ergänzungsleistungsgesetz nicht findet,
überschreitet Art. 1 Abs. 3 ELV den vom Gesetz vorgegebenen Rahmen.

    Die Anrechnung eines hypothetischen familienrechtlichen
Unterhaltsbeitrages erweist sich somit als bundesrechtswidrig, wie die
Rekurskommission im Ergebnis zutreffend festgestellt hat.