Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 113



127 V 113

18. Urteil vom 9. April 2001 i. S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
M. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 29septies Abs. 1, Art. 43bis Abs. 1 AHVG; Art. 42 Abs. 1 IVG:
Betreuungsgutschriften bei Bezug einer Hilflosenentschädigung der
Unfallversicherung. Betreuungsgutschriften sind auch anzurechnen,
wenn die betreute Person die in der Unfallversicherung identischen
Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit
mindestens mittleren Grades der Alters- und Hinterlassenen- oder
der Invalidenversicherung erfüllt, eine solche indessen auf Grund
koordinationsrechtlicher Bestimmungen nicht bezieht.

Sachverhalt

    A.- Die 1952 geborene M. ersuchte die Ausgleichskasse des Kantons
Bern am 20. November 1997 um die Anrechnung einer Betreuungsgutschrift,
da sie ihren Ehemann pflege. Mit Verfügung vom 5. März 1998 lehnte die
Ausgleichskasse das Gesuch ab mit der Begründung, der Ehemann beziehe
nicht eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen- oder
der Invalidenversicherung, wie dies gemäss Gesetz für den Anspruch auf
die Anrechnung von Betreuungsgutschriften vorausgesetzt wäre, sondern
eine solche der Unfallversicherung.

    B.- Beschwerdeweise liess M. beantragen, die Kasse sei, in
Aufhebung der Verfügung, zu verpflichten, ihr für das Jahr 1997
Betreuungsgutschriften anzurechnen. In teilweiser Gutheissung der
Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom
28. April 1999 die Verfügung auf und wies die Akten an die Kasse zurück,
damit diese nach weiteren Abklärungen (Prüfung der Anrechnung einer
Erziehungsgutschrift) über den Anspruch auf eine Betreuungsgutschrift
neu befinde; im Übrigen wies es die Beschwerde ab.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale
Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung wiederherzustellen.

    Während M. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet die Ausgleichskasse auf Stellungnahme unter Hinweis auf ihre
Vernehmlassung im kantonalen Verfahren.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach dem mit der 10. AHV-Revision am 1. Januar 1997 in
Kraft getretenen Art. 29septies Abs. 1 AHVG haben Versicherte, welche
im gemeinsamen Haushalt Verwandte in auf- oder absteigender Linie oder
Geschwister mit einem Anspruch auf Hilflosenentschädigung der Alters-
und Hinterlassenen oder der Invalidenversicherung für mindestens mittlere
Hilflosigkeit betreuen, Anspruch auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift
(Satz 1). Sie müssen diesen Anspruch jährlich schriftlich anmelden
(Satz 2). Verwandten sind Ehegatten, Schwiegereltern und Stiefkinder
gleichgestellt (Satz 3).

    b) Gemäss Art. 42 Abs. 1 Satz 1 IVG haben Versicherte mit Wohnsitz und
gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung, sofern ihnen keine Hilflosenentschädigung nach dem
Bundesgesetz über die Unfallversicherung oder nach dem Bundesgesetz über
die Militärversicherung zusteht. Als hilflos gilt, wer wegen Invalidität
für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der
persönlichen Überwachung bedarf (Art. 42 Abs. 2 IVG). Die Entschädigung
wird nach dem Grad der Hilflosigkeit bemessen (Art. 42 Abs. 3 Satz
1 IVG), wobei drei Hilflosigkeitsgrade (schwer, mittelschwer, leicht)
unterschieden werden (Art. 36 IVV; vgl. hiezu BGE 124 II 247 f. Erw.
4c, 124 V 168 Erw. 2a, 121 V 90 Erw. 3a mit Hinweisen).

    c) Nach Art. 43bis AHVG haben Bezüger von Altersrenten mit Wohnsitz und
gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die in schwerem oder mittlerem Grad
hilflos sind und keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung nach dem
Bundesgesetz über die Unfallversicherung oder nach dem Bundesgesetz über
die Militärversicherung besitzen, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
(Abs. 1 Satz 1). Für den Begriff und die Bemessung der Hilflosigkeit sind
die Bestimmungen des IVG sinngemäss anwendbar (Abs. 5 Satz 1). Gestützt auf
die ihm in Art. 43bis Abs. 5 Satz 3 AHVG eingeräumte Befugnis zum Erlass
ergänzender Vorschriften erklärte der Bundesrat in Art. 66bis Abs. 1 AHVV
für die Bemessung der Hilflosigkeit Art. 36 IVV für sinngemäss anwendbar.

    d) Gemäss Art. 26 Abs. 1 UVG besteht Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung, wenn der Versicherte wegen der Invalidität für
die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der
persönlichen Überwachung bedarf. Die Höhe der Hilflosenentschädigung
bemisst sich nach dem Grad der Hilflosigkeit, wobei wiederum drei Stufen
unterschieden werden (Art. 38 UVV). Der Anspruch richtet sich in der
Unfallversicherung nach denselben Kriterien wie in der Invaliden- (in
Rechtsprechungsbericht der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
1991 Nr. 5 S. 9 erwähntes Urteil L. vom 19. August 1991, U 19/91) und
in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (vgl. auch THOMAS LOCHER,
Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997, § 42 N 3).

Erwägung 2

    2.- a) Es steht fest und ist unbestritten, dass der Ehemann der
Beschwerdegegnerin die (in der Unfallversicherung identischen; vgl. Erw. 1d
hievor) Voraussetzungen für die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung erfüllt, von deren Bezug indessen ausgeschlossen
ist wegen der (zur Vermeidung der gleichzeitigen Auszahlung einer
Hilflosenentschädigung der Invaliden- und der Unfallversicherung
geschaffenen) Koordinationsnorm von Art. 42 Abs. 1 Satz 1 IVG (für die
Alters- und Hinterlassenenversicherung: Art. 43bis Abs. 1 Satz 1 AHVG;
vgl. hiezu MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl.,
Bern 1989, S. 533).

    b) Streitig und zu prüfen ist, ob Betreuungsgutschriften auch
anzurechnen sind, wenn die betreute Person, wie vorliegend, nicht eine
Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades der
Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung, sondern eine
solche der Unfallversicherung bezieht.

    Während die Vorinstanz dies bejaht unter Annahme einer planwidrigen
Unvollständigkeit des Gesetzes, vertritt das Beschwerde führende BSV
die Auffassung, die den Kreis der Berechtigten eingrenzende Bestimmung
des Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG sei als klare Festlegung im Rahmen
des Gesetzgebungsverfahrens zu betrachten.

Erwägung 3

    3.- a) Mit der Auslegung der Bestimmung des Art. 29septies Abs.
1 Satz 1 AHVG hat sich das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 126 V 435
befasst. Dabei ging es um die Anrechnung von Betreuungsgutschriften
bei einer Versicherten, welche im Jahr 1997 für ihre pflegebedürftige
Mutter gesorgt hatte, die bereits mehrere Jahre vor der Anmeldung
eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades hätte
beanspruchen können, eine solche indessen wegen verspäteter Anmeldung
erst für die Zeit ab 1. November 1997 zugesprochen erhielt.

    Das Gericht erkannte, dass die betreute Person nach dem Wortlaut
des deutschen Gesetzestextes Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung für
mindestens mittlere Hilflosigkeit haben müsse, indessen nicht verlangt
werde, dass sie diese auch tatsächlich beziehe. Demgegenüber setzten
die französische ("au bénéfice d'une allocation de l'AVS ou de l'AI
pour impotent") und die italienische Fassung ("che beneficiano di un
assegno dell'AVS o dell'AI per grandi invalidi") für die Anrechnung
von Betreuungsgutschriften voraus, dass die betreute Person die
Hilflosenentschädigung auch tatsächlich empfange (BGE 126 V 439
Erw. 3a). Die Materialien (Amtl.Bull. 1993 N 207 ff., 215, 233 und 256;
Amtl.Bull. 1994 S 550 und 560) sowie der Sinn und Zweck der Bestimmung
(die Berücksichtigung der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger,
die regelmässig zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten
führt, als fiktives Einkommen bei der Rentenberechnung und damit die
Verhinderung einer Schmälerung des individuellen Rentenanspruches
durch die unentgeltliche Verrichtung von Betreuungsarbeit für nahe
Angehörige) stützten indessen die auf dem deutschen Wortlaut des Art.
29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG basierende Auslegung, wonach der Anspruch
auf Hilflosenentschädigung für mindestens mittlere Hilflosigkeit für
die Anrechenbarkeit von Betreuungsgutschriften genüge und der Bezug
der Hilflosenentschädigung nicht vorausgesetzt werde. Das Gericht sah
dieses Auslegungsergebnis durch die Grundsätze der verfassungskonformen
oder verfassungsbezogenen Auslegung bestätigt, da das Abstellen auf die
französische oder italienische Fassung der Norm zu einer sachlich nicht
gerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen den Versicherten, welche eine
Person betreuen, die zwar einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
für Hilflosigkeit mittleren Grades hat, die Hilflosenentschädigung aber
nicht bezieht, und denjenigen, welche eine Person betreuen, die in den
Genuss einer Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades
kommt, führen würde, weil Pflegebedürftigkeit und -aufwand in beiden
Fällen gleich gross seien (BGE 126 V 441 Erw. 4a).

    b) Diese Erwägungen gelten genauso mit Bezug auf den vorliegenden
Sachverhalt: Der von der Versicherten betreute Ehemann erfüllt zwar die
Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit
mindestens mittleren Grades der Invalidenversicherung, bezieht eine solche
aber nicht, dies auf Grund der koordinationsrechtlichen Bestimmung des Art.
42 Abs. 1 Satz 1 IVG, welche die Subsidiarität der Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung gegenüber jener der Unfallversicherung vorsieht
(für die Alters- und Hinterlassenenversicherung: Art. 43bis Abs. 1
Satz 1 AHVG). Würde in derartigen Konstellationen der Anspruch auf
Anrechnung einer Betreuungsgutschrift verneint, führte dies - angesichts
der Tatsache, dass betreffend Pflegebedürftigkeit und -aufwand kein
Unterschied auszumachen ist - zu einer sachlich nicht gerechtfertigten
Ungleichbehandlung zwischen den Versicherten, die eine Person betreuen,
welche die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung für
Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades der Alters- und Hinterlassenen-
oder der Invalidenversicherung erfüllt, indessen eine diesem Anspruch
vorgehende Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung bezieht,
und denjenigen, welche eine Person betreuen, welche im Genuss einer
Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades der
Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung steht. Dass
dies zu stossenden Ergebnissen führen würde, zeigt sich namentlich in
den Fällen, in welchen wegen des unterschiedlichen Anspruchsbeginns in
der Invalidenversicherung (nach einer Wartezeit von einem Jahr [BGE 111
V 227 Erw. 3 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG in der seit
1988 geltenden Fassung]) und in der Unfallversicherung (frühestens
nach Abschluss der Heilbehandlung und bei Beginn eines allfälligen
Rentenanspruchs [Art. 37 UVV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 UVG])
zunächst nur die Leistungsvoraussetzungen der Invalidenversicherung
erfüllt sind, sodass die zuerst entrichtete Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung später durch eine solche der Unfallversicherung
abgelöst wird (vgl. hiezu BGE 124 V 166), womit die Anrechnung von
Betreuungsgutschriften - bei im Übrigen unveränderten Umständen - im
Zeitpunkt der Ablösung entfiele.

    c) Zusammenfassend ergibt sich, dass Betreuungsgutschriften auch
anzurechnen sind, wenn die betreute Person die in der Unfallversicherung
identischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung für
Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades der Alters- und Hinterlassenen-
oder der Invalidenversicherung erfüllt, eine solche indessen nicht
bezieht auf Grund koordinationsrechtlicher Bestimmungen, welche der
Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung den Vorrang vor jener der
Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung einräumen.

    Soweit die streitige Einschränkung auf die Versicherungszweige
der Alters- und Hinterlassenen- sowie der Invalidenversicherung - unter
Ausschluss der Unfallversicherung - in Rz 3004 und 3005 des Kreisschreibens
des BSV über die Betreuungsgutschriften (gültig ab 1. Januar 1997)
Eingang gefunden hat, erweisen sich diese Verwaltungsweisungen als mit
der gesetzlichen Bestimmung von Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG nicht
vereinbar (vgl. BGE 125 V 379 Erw. 1c, 123 V 72 Erw. 4a, 122 V 253 Erw. 3d,
363 Erw. 3c, je mit Hinweisen).

    Wie die Vorinstanz somit im Ergebnis richtig erkannt hat,
ist der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf die Anrechnung einer
Betreuungsgutschrift grundsätzlich - unter Vorbehalt des diesem
vorgehenden, durch die Ausgleichskasse noch zu prüfenden Anspruchs auf
eine Erziehungsgutschrift (Art. 29septies Abs. 2 AHVG) - zu bejahen.

Erwägung 4

    4.- (Gerichtskosten und Parteientschädigung)