Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 V 102



127 V 102

15. Auszug aus dem Urteil vom 2. März 2001 i. S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen J. und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Regeste

    Art. 6 Abs. 1 UVG: Adäquanzbeurteilung. Es ist nicht zulässig,
im Rahmen der Adäquanzprüfung einen je nach der konkret zur Diskussion
stehenden Leistung (Rente oder Heilbehandlung) unterschiedlichen Massstab
anzulegen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- b) aa) Der Begriff der adäquaten Kausalität ist in allen
Rechtsgebieten identisch (BGE 123 V 103 Erw. 3d; vgl. auch BGE 119 Ib 342
Erw. 3c und 345 Erw. 5b). Hingegen unterscheiden sich die gesetzlichen
Haftungsvoraussetzungen. Dies führt mit Rücksicht auf die Besonderheiten
des jeweiligen Rechtsgebietes, z.B. des Zivil- und des Strafrechts,
notwendigerweise dazu, dass der Grundsatz der adäquaten Kausalität
unterschiedlich angewendet wird, und hat namentlich auch zur Folge, dass
im Recht der sozialen Unfallversicherung der Adäquanz als Wertungselement
im Hinblick auf eine versicherungsmässig vernünftige und gerechte
Abgrenzung haftungsbegründender und haftungsausschliessender Unfälle
(BGE 122 V 417 Erw. 2c mit Hinweisen) andere Beurteilungskriterien und
Massstäbe zu Grunde gelegt werden als im Haftpflichtrecht (BGE 123 III
111 Erw. 3, 123 V 104 Erw. 3d, EVGE 1960 S. 264 Erw. 2). Zu beachten
gilt es in diesem Zusammenhang, dass die zivilrechtliche Praxis selbst
bei weitgehender Preisgabe der steuernden oder begrenzenden Funktion des
Adäquanzbegriffs im Gegensatz zum Sozialversicherungsrecht nach Art. 43
f. OR die Möglichkeit zu einem differenzierten Schadensausgleich hat,
wenn die Haftungsvoraussetzungen im Grundsatz bejaht werden. Demgegenüber
ist mit dem Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984 das bisherige
Kürzungskorrektiv des Art. 91 KUVG durch den neuen Art. 36 UVG stark
eingeschränkt worden (MEYER-BLASER, Kausalitätsfragen auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts, in: SZS 1994 S. 97).

    bb) Innerhalb des Sozialversicherungsrechts spielt die Adäquanz als
rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang
ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich klar ausgewiesener
organischer Unfallfolgen praktisch keine Rolle (BGE 123 V 102 Erw. 3b,
118 V 291 f. Erw. 3a, 117 V 365 Erw. 5d/bb mit Hinweisen). Bei der
Beurteilung der Adäquanz von organisch nicht (hinreichend) nachweisbaren
Unfallfolgeschäden ist wie folgt zu differenzieren: Es ist zunächst
abzuklären, ob die versicherte Person beim Unfall ein Schleudertrauma
der Halswirbelsäule, eine dem Schleudertrauma äquivalente Verletzung
(SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) oder ein Schädel-Hirntrauma erlitten
hat. Ist dies nicht der Fall, gelangt die Rechtsprechung gemäss BGE 115 V
140 Erw. 6c/aa zur Anwendung. Ergeben die Abklärungen indessen, dass die
versicherte Person eine der soeben erwähnten Verletzungen erlitten hat,
muss beurteilt werden, ob die zum typischen Beschwerdebild einer solchen
Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen (vgl. dazu: BGE 119 V 337 Erw. 1,
117 V 360 Erw. 4b) zwar teilweise vorliegen, im Vergleich zur psychischen
Problematik aber ganz in den Hintergrund treten. Trifft dies zu, sind
für die Adäquanzbeurteilung ebenfalls die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa
für Unfälle mit psychischen Folgeschäden aufgestellten Grundsätze
massgebend; andernfalls erfolgt die Beurteilung der Adäquanz gemäss
den in BGE 117 V 366 Erw. 6a und 382 Erw. 4b festgelegten Kriterien
(BGE 123 V 99 Erw. 2a). Bei psychischen Fehlentwicklungen im Anschluss
an Berufskrankheiten hat die Adäquanzprüfung nach haftpflichtrechtlichen
Grundsätzen zu erfolgen (BGE 125 V 456).

    c) Während sich die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
auf den Standpunkt stellt, die Adäquanz als Voraussetzung des
Heilbehandlungsanspruchs beurteile sich nach den gleichen Kriterien
wie im Zusammenhang mit dem Invalidenrentenanspruch, rechtfertigt es
sich nach Auffassung der Vorinstanz, den adäquaten Kausalzusammenhang
zwischen Unfall und psychischer Fehlentwicklung im Hinblick auf die
Leistungspflicht für vorübergehende, zeitlich beschränkte Leistungen
nach einem milderen Massstab zu beurteilen als für Dauerleistungen, auf
welche sich die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zur Adäquanz
psychogener Unfallfolgen gemäss BGE 115 V 133 in erster Linie beziehe. Ob
bestimmte Leiden dem Unfall zuzuordnen und entsprechende Leistungen
dem Unfallversicherer zu überbinden seien, brauche für die beiden
Leistungsarten keineswegs gleich beantwortet zu werden. Die Möglichkeit
einer Differenzierung zwischen den Leistungsarten im Hinblick auf die
Beurteilung der Adäquanz leitet die Vorinstanz unter Hinweis auf BGE 123 V
105 Erw. 3 aus der Funktion des Adäquanzbegriffs als Haftungsbegrenzung ab.

    Zu erwähnen bleibt Art. 36 UVG, welcher für den Fall, dass die
Gesundheitsschädigung nur teilweise Folge eines Unfalles ist, ebenfalls
eine Unterscheidung nach Leistungsart trifft: Die Pflegeleistungen und
Kostenvergütungen sowie die Taggelder und Hilflosenentschädigungen werden
nicht (Abs. 1), die Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen und die
Hinterlassenenrenten werden angemessen gekürzt (Abs. 2 Satz 1). Für das
Anlegen eines milderen Massstabes könnte auch angeführt werden, dass die
Durchführung aller Erfolg versprechenden Heilbehandlungen und die damit
allenfalls bewirkte Verhinderung einer Invalidität am ehesten gewährleistet
ist, wenn die Tragung der Verantwortung des Unfallversicherers für die
Heilbehandlung nicht durch strenge Adäquanzgesichtspunkte eingeschränkt
wird.

    d) Lehre und Rechtsprechung lassen den sozialen Unfallversicherer für
Schäden nur dann einstehen, wenn diese sowohl in einem natürlichen wie auch
in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehen.
Die zur Adäquanz entwickelte Praxis (Erw. 5b/bb hievor) differenziert
einerseits nach der Art des eingetretenen Schadens (so unter anderem
danach, ob eine psychische Fehlentwicklung mit oder ohne zum typischen
Beschwerdebild eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule, einer dem
Schleudertrauma äquivalenten Verletzung oder eines Schädel-Hirntraumas
gehörende Beeinträchtigungen vorliegt) und anderseits nach der Art des
schädigenden Ereignisses (Unfall oder Berufskrankheit). Der im Einzelfall
in Betracht zu ziehenden Leistung kommt im Rahmen der Prüfung der Adäquanz
keine Massgeblichkeit zu. Denn die Frage nach der Leistungsart stellt
sich erst, wenn ein leistungsbegründender adäquater Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall oder der Berufskrankheit einerseits und der
Gesundheitsschädigung anderseits zu bejahen ist. Entsprechend verhält es
sich im Übrigen auch mit der in Art. 36 UVG getroffenen Regelung. Diese
setzt die Prüfung - und in der Folge die Bejahung - der Kausalität bereits
voraus (BGE 123 V 103 Erw. 3c).

    e) Nach dem Gesagten kann somit bei der Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhangs - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - kein
"milderer Massstab" zur Anwendung kommen, wenn die Frage im Raum steht,
ob vorübergehende Leistungen zu gewähren seien. Unabhängig davon ist
einzuräumen, dass die differenzierende Praxis zur Adäquanz auf Fälle
ausgerichtet ist, in denen die Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhangs
einige Zeit nach dem Unfallereignis stattfindet. Dies zeigt sich
darin, dass verschiedene Adäquanzkriterien einen Zeitfaktor beinhalten
(ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung, Dauerbeschwerden,
Dauer der Arbeitsunfähigkeit etc.). Ob sich deshalb eine Weiterentwicklung
der Rechtsprechung rechtfertigt, welche es erlaubt, dem Zeitpunkt Rechnung
zu tragen, in welchem die Adäquanzprüfung stattfindet, muss allerdings
hier nicht beantwortet werden, wie sich aus dem Folgenden ergibt. In der
Regel stellt sich die Frage nach dem adäquaten Kausalzusammenhang zwischen
schädigendem Ereignis und psychischen Fehlentwicklungen erst nach einer
längeren ärztlichen Behandlung und/oder nach einer länger dauernden,
vollen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit. Während es sich bei solchen
Gesundheitsbeschwerden um evolutive Geschehnisse handelt, welche meist
nicht bereits kurz nach dem Unfall auftreten, stehen unmittelbar nach dem
schädigenden Ereignis regelmässig somatische Beschwerden im Vordergrund. So
verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Die psychische Störung, welche
zufolge der medizinischen Akten auf das Ereignis vom 19. April 1991
zurückzuführen ist, wurde erstmals am 28. Juni 1993 von der Ärztin der
Beruflichen Abklärungsstelle der Invalidenversicherung wahrgenommen. Für
die Prüfung des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für die Behandlung der
psychischen Fehlentwicklung ist der Sachverhalt massgebend, wie er sich bis
zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides (16. Juni 1995) darstellt (BGE 121
V 366 Erw. 1b mit Hinweisen). Das Vorliegen der Adäquanzkriterien lässt
sich somit anhand einer über vierjährigen Entwicklung beurteilen. Einer
Anwendung der bisherigen Rechtsprechung zur Abklärung des adäquaten
Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall vom 19. April 1991 und der
psychischen Fehlentwicklung steht deshalb nichts entgegen.