Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 I 213



127 I 213

23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
7. September 2001 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des
Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK, Art. 29 Abs. 2 und 3 sowie Art. 32
Abs. 2 BV. Strafverfahren. Verurteilung im Abwesenheitsverfahren; Recht
auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung; Verteidigungsrechte.

    Auch wenn ein Beschuldigter trotz ordnungsgemässer Vorladung und ohne
Entschuldigung zur Verhandlung nicht erscheint, dürfen ihm die in Art. 6
Ziff. 3 lit. c EMRK, Art. 29 Abs. 3 und Art. 32 Abs. 2 BV verankerten
Verteidigungsrechte nicht entzogen werden (E. 3).

    Ist der in Abwesenheit Verurteilte, der auf sein Anwesenheitsrecht
verzichtet hat, nie (wirksam) verteidigt worden, so ist eine Neubeurteilung
grundsätzlich zu bewilligen (E. 4).

Sachverhalt

    Mit Entscheid vom 15. Februar 1996 verurteilte das Strafgericht des
Kantons Basel-Landschaft den schweizerisch-französischen Doppelbürger
B. in Abwesenheit wegen mehrfacher qualifizierter Veruntreuung zu einer
unbedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 16 Monaten. Der Angeklagte,
der sich dem noch offenen Vollzug von früher im Kanton Basel-Stadt gegen
ihn ausgesprochenen Freiheitsstrafen durch Auswanderung nach Frankreich
entzogen hatte und sich zum Zeitpunkt des Baselbieter Strafverfahrens
dort aufhielt, appellierte gegen dieses Urteil beim Obergericht des
Kantons Basel-Landschaft. Gestützt auf § 168 Abs. 1 des damals geltenden
basel-landschaftlichen Gesetzes betreffend die Strafprozessordnung vom
30. Oktober 1941 (aStPO) nahm das Obergericht mit Urteil vom 17. September
1996 an, B. habe wegen seines Nichterscheinens zur Verhandlung auf die
Appellation verzichtet und erklärte dieses Rechtsmittel als dahingefallen.
Der Angeklagte war sowohl zur Verhandlung vor Strafgericht wie auch
vor Obergericht ordnungsgemäss vorgeladen worden. Er begründete sein
Fernbleiben im Vorfeld der angesetzten Verhandlungen jeweils schriftlich
damit, dass seine Sicherheit bei einer Einreise in die Schweiz nicht
gewährleistet sei. Der Angeklagte war wegen den im Kanton Basel-Stadt
ausgefällten Freiheitsstrafen zur Fahndung ausgeschrieben gewesen und sein
Gesuch um freies Geleit war vom Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt
am 12. Februar 1996 abgewiesen worden. Bei einer Festnahme wäre er dem
basel-städtischen Strafvollzug zugeführt worden. Aufgrund der französischen
Staatsbürgerschaft des Angeklagten hatten die schweizerischen Behörden
dessen Auslieferung nicht erwirken können. Der Angeklagte ersuchte
sowohl für die Gerichtsverhandlung vor Strafgericht als auch für jene
vor Obergericht um amtliche Verteidigung. Vor erster Instanz wurde deren
Gewährung gemäss der damaligen basel-landschaftlichen Gerichtspraxis vom
persönlichen Erscheinen des Angeklagten an der Hauptverhandlung abhängig
gemacht. Vor der Rechtsmittelinstanz wurde die Offizialverteidigung
zwar bewilligt, die Appellation indessen trotz gegenteiligen Antrags der
an der Verhandlung anwesenden Verteidigerin wegen Nichterscheinens des
Angeklagten als dahingefallen erklärt.

    Am 7. Juni 2000 ersuchte B. - zwischenzeitlich in Basel-Stadt in
Haft - in Bezug auf das basel-landschaftliche Obergerichtsurteil vom
17. September 1996 um Neubeurteilung (Restitution). Das Obergericht
des Kantons Basel-Landschaft wies das Restitutionsgesuch am 20. Februar
2001 ab.

    Gegen den obergerichtlichen Beschluss hat B. beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er sieht sich in seinen Rechten auf
persönliche Teilnahme an der Verhandlung sowie auf Offizial- und wirksame
Verteidigung als verletzt. Er beantragt Aufhebung des angefochtenen
Entscheides.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Als wesentliches Element des Rechts auf ein faires Verfahren
garantiert Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) den Anspruch des Beschuldigten,
persönlich an der Verhandlung teilzunehmen (EGMR-Urteil Colozza
c. Italien vom 12. Februar 1985, Serie A Nr. 89, Ziff. 27; BGE 126 I
36 E. 1a S. 38 f.; JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische
Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl., 1996, Art. 6 N. 94). Ein
entsprechendes Recht ergibt sich auch aus dem verfassungsrechtlichen
Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. BGE 117
Ib 337 E. 5a S. 343; nicht veröffentlichte Urteile des Bundesgerichts
vom 2. November 1994 i.S. L., E. 2a und vom 16. Mai 1994 i.S. B., E.
2a). Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung ist indessen
nicht absolut. Nach der Praxis des Bundesgerichts und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte sind Abwesenheitsverfahren zulässig,
sofern der in Abwesenheit Verurteilte nachträglich (grundsätzlich auch
nach Eintritt der Vollstreckungsverjährung) verlangen kann, dass ein
Gericht, nachdem es ihn zur Sache angehört hat, nochmals überprüft,
ob die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen begründet sind (BGE 126 I 36
E. 1a S. 39; 122 I 36 E. 2 S. 37; 122 IV 344 E. 4c S. 349, E. 5c und d
S. 352 f. [zur Verjährungsfrage]; 117 Ib 337 E. 5a und b S. 343 f.; 113
Ia 225 E. 2a S. 230; EGMR-Urteile Medenica c. Schweiz vom 14. Juni 2001,
Ziff. 54; Krombach c. Frankreich vom 13. Februar 2001, Ziff. 85; Poitrimol
c. Frankreich vom 23. November 1993, Serie A Nr. 277-A, Ziff. 31; Colozza,
aaO, Ziff. 29). Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV gewähren
dem in Abwesenheit Verurteilten allerdings kein bedingungsloses Recht,
eine Neubeurteilung zu verlangen. Eine solche kann von der Einhaltung
bestimmter Formen und Fristen seitens des Gesuchstellers abhängig gemacht
werden. Ferner ist es mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV
vereinbar, wenn eine Neubeurteilung deswegen abgelehnt wird, weil der in
Abwesenheit Verurteilte sich geweigert hat, an der Verhandlung

teilzunehmen oder er die Unmöglichkeit, dies zu tun, selber verschuldet hat
(BGE 126 I 36 E. 1b S. 39; 113 Ia 225 E. 2a S. 231; Urteil Medenica, aaO,
Ziff. 58). Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist die Abwesenheit nicht
nur im Falle höherer Gewalt (objektive Unmöglichkeit zu erscheinen) gültig
entschuldigt, sondern auch im Falle subjektiver Unmöglichkeit aufgrund der
persönlichen Umstände oder eines Irrtums (BGE 126 I 36 E. 1b S. 40). Ein
allfälliger Verzicht auf das Recht, persönlich an der Verhandlung
teilzunehmen, muss nach der Strassburger Praxis in unmissverständlicher
Weise erklärt werden und von einem Minimum an Garantien begleitet sein,
welche die Auswirkungen des Verzichts ausgleichen (Urteil Poitrimol, aaO,
Ziff. 31).

    Das Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht ist von zentraler
Bedeutung sowohl für dessen Recht, gehört zu werden, als auch für die
Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Behauptungen zu überprüfen und
diese den Aussagen des Opfers und der Zeugen gegenüberzustellen. Dem
Gesetzgeber ist es nach der Strassburger Praxis deshalb unbenommen,
Massnahmen vorzusehen, um den Beschuldigten von einem ungerechtfertigten
Fernbleiben von der Verhandlung abzuhalten (Urteile Poitrimol, aaO,
Ziff. 35; Medenica, aaO, Ziff. 54). Indessen erachtet es der Strassburger
Gerichtshof im Hinblick auf ein faires Verfahren als unverhältnismässige
Massnahme, wenn einem Beschuldigten das in Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK
verankerte Recht, von einem Anwalt wirksam verteidigt zu werden, mit der
Begründung entzogen wird, er sei trotz ordnungsgemässer Vorladung und
ohne Entschuldigung zur Verhandlung nicht erschienen. Dies gilt auch für
das Recht auf amtliche Verteidigung (Urteile Poitrimol, aaO, Ziff. 34;
Krombach, aaO, Ziff. 84; Van Geyseghem c. Belgien vom 21. Januar 1999,
Ziff. 33 f.; Lala und Pelladoah c. Niederlande vom 22. September 1994,
Serie A Nr. 297-A bzw. 297-B, Ziff. 33 bzw. 40). Auch die in der
Bundesverfassung verankerten Rechte auf Beizug eines Verteidigers nach
eigener Wahl (Art. 32 Abs. 2 BV), auf amtliche Verteidigung (Art. 32 Abs. 2
und Art. 29 Abs. 3 BV) sowie auf wirksame Verteidigung (Art. 32 Abs. 2 BV)
dürfen einem Beschuldigten nicht wegen einer unentschuldigten Abwesenheit
an der Verhandlung verweigert werden.

    b) Die Frage, ob die Abwesenheit des Verurteilten diesem vorgeworfen
werden kann, ist eine Rechtsfrage, die im Zusammenhang mit der Anwendung
der Konvention bzw. der Verfassung steht und deshalb vom Bundesgericht
frei geprüft wird (BGE 126 I 36 E. 1b S. 40).

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer
Kenntnis von der ordnungsgemäss zugestellten Vorladung zur
Appellationsverhandlung des Obergerichts hatte und später die zehntägige
Restitutionsfrist einhielt. Umstritten ist, ob die drohende Verhaftung
des Beschwerdeführers eine subjektive Unmöglichkeit darstellt, die sein
Nichterscheinen vor Obergericht im Sinne eines unabwendbaren Hindernisses
(§ 166 Abs. 1 aStPO) zu entschuldigen vermag. Umstritten ist ferner, ob
sein Entscheid, der Appellationsverhandlung fernzubleiben, als Verzicht
darauf zu werten ist, persönlich an der Verhandlung teilzunehmen (Art. 6
Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV) sowie von einem Offizialverteidiger
wirksam verteidigt zu werden (Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, Art. 32 Abs. 2
und Art. 29 Abs. 3 BV).

    Der Beschwerdeführer bekundete zwar sein Interesse an der Verhandlung
vor Obergericht, indem er um freies Geleit und um Dispensation
ersuchte. Die selbst bestimmte Abwesenheit aus Furcht vor dem Vollzug
einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe kann jedoch nicht als
subjektive Unmöglichkeit gewertet werden, die ein Nichterscheinen vor
Gericht zu entschuldigen vermöchte. Der Beschwerdeführer mag sich zwar aus
persönlicher Sicht in einer psychischen Notlage befunden haben. Zugute
zu halten ist ihm zudem, dass er sich im Jahre 2000 den Basler Behörden
freiwillig stellte. Dennoch wiegt hier das öffentliche Interesse an der
Durchführung des Strafverfahrens (auch gegen einen Abwesenden) schwerer
als das gegenläufige persönliche Interesse daran, sich einer in einem
anderen Verfahren bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe durch
Flucht zu entziehen. Unbehelflich ist auch das Argument, dass Flucht vor
Strafvollzug und Selbstbegünstigung nicht strafbar seien.

    Der Beschwerdeführer verzichtete sowohl vor erster als auch vor der
Appellationsinstanz ausdrücklich und in unmissverständlicher Weise auf
sein Recht, persönlich an den Verhandlungen teilzunehmen. Indes ersuchte
er sowohl vor Straf- als auch vor Obergericht um amtliche Verteidigung.
Zudem erklärte er dem Obergericht schriftlich, dass sein Nichterscheinen
nicht als Verzicht gelte, womit - im Zusammenhang gelesen - wohl gemeint
war, dass er auf die Appellation nicht verzichte. Der Beschwerdeführer
verzichtete zwar auf sein Recht auf persönliche Anwesenheit, nicht jedoch
auf sein Recht, durch einen Offizialverteidiger vertreten zu werden.
Dass die Voraussetzungen für die Gewährung der amtlichen Verteidigung
nach kantonalem Recht vorlagen, wird nicht bestritten. Wie bereits

oben (E. 3a) dargelegt, kann der Gesetzgeber Massnahmen vorsehen,
um Beschuldigte von einem ungerechtfertigten Fernbleiben von der
Gerichtsverhandlung abzuhalten. Die Versagung von Verteidigungsrechten
im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK bzw. Art. 32 Abs. 2 und
Art. 29 Abs. 3 BV wegen unentschuldigter Säumnis stellt jedoch eine
unverhältnismässige Massnahme dar. Wegen der zentralen Bedeutung der
persönlichen Anwesenheit des Beschuldigten für ein faires Strafverfahren
muss zudem der Verzicht auf das Anwesenheitsrecht soweit möglich durch
die Sicherstellung einer wirksamen Verteidigung ausgeglichen werden,
sofern der Beschuldigte - ausserhalb des Bereiches der notwendigen
Verteidigung - nicht auch darauf verzichtet. Im vorliegenden Fall wurde
dem Beschwerdeführer vor Strafgericht die amtliche Verteidigung verwehrt,
da er nicht persönlich zur Verhandlung erschien. Vor Obergericht war ihm
zwar eine Offizialverteidigerin beigegeben worden. Die Appellation wurde
jedoch wegen Nichterscheinens des Beschwerdeführers als dahingefallen
betrachtet und somit gar nicht materiell behandelt.

    Angesichts des Umstandes, dass der Angeklagte in Abwesenheit zu einer
unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt wurde,
ohne dass er weder vor erster noch wirksam vor zweiter Instanz verteidigt
wurde, hätte eine konventions- und verfassungskonforme Auslegung von § 166
Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO geboten, in der vorliegenden
Konstellation die Neubeurteilung zu bewilligen. § 168 Abs. 1 aStPO wäre
einer konventions- bzw. verfassungskonformen Auslegung auch zugänglich
gewesen, sieht diese Bestimmung doch vor, dass wegen Nichterscheinens
des Angeklagten Verzicht auf die Appellation dann angenommen wird, wenn
sich der Angeklagte erst nach Fällung des Urteils des Strafgerichts
durch Flucht der Vollstreckung entzogen hat. Im vorliegenden Fall war
der Beschwerdeführer bereits vor der erstinstanzlichen Verhandlung,
allerdings wegen einer im Kanton Basel-Stadt gegen ihn ausgesprochenen
Freiheitsstrafe, geflohen. Die Bewilligung einer Neubeurteilung hätte
den Mangel, dass der in Abwesenheit Verurteilte nie verteidigt wurde,
zu heilen vermocht.

    Da sich § 166 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO im
vorliegenden Fall konventions- bzw. verfassungskonform auslegen lassen,
braucht nicht geprüft zu werden, ob sich diese Bestimmungen als solche
mit der Konvention bzw. der Verfassung vereinbaren lassen. Immerhin
ist anzumerken, dass § 197 Abs. 2 des neuen Gesetzes betreffend die
Strafprozessordnung vom 3. Juni 1999

(StPO) im Abwesenheitsverfahren vor dem Strafgericht vorsieht, dass die
Verteidigung am Verfahren teilnehmen kann, wenn die angeklagte Person
eine solche hat. Diese Bestimmung bietet Raum dafür, eine Konstellation,
wie sie hier vorliegt, zu vermeiden.

    Zusammenfassend ergibt sich eine Verletzung von Art. 6 Ziff.  1 in
Verbindung mit Ziff. 3 lit. c EMRK sowie eine Missachtung von Art. 29
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV.