Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 IV 215



127 IV 215

36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 31. Juli 2001
i.S. A. und B. gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

    Art. 8 ZGB, Art. 47 OR, Art. 8 und 9 OHG; Zivilansprüche des Opfers,
Behauptungs- und Beweispflicht.

    Das OHG verpflichtet die kantonalen Behörden nicht, Zivilansprüche
nach der Untersuchungsmaxime zu beurteilen. Zur Bestimmung der Rechte und
Pflichten der Parteien bleibt grundsätzlich das kantonale Verfahrensrecht
massgebend (E. 2d).

    Verlangt der Geschädigte eine höhere Genugtuungssumme,
als veröffentlichte Gerichtspraxis und die dem Gericht bekannten
Entscheidungsgrundlagen nahelegen, ist er beweispflichtig für jene
Elemente, die eine Erhöhung rechtfertigen könnten (E. 2e).

Sachverhalt

    Am 12. Januar 1997 beging X. einen Raubüberfall auf ein Wohnhaus zum
Vollzug der Halbfreiheit, wobei er auf grausame Weise C. ermordete und
O. schwer verletzte. C., geboren 1962, war am Geschehen nicht beteiligt
und nur am Tatort erschienen, um im Rahmen des Vollzugs einer vierjährigen
Zuchthausstrafe in das Wohnhaus überzutreten.

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 22. November
2000 wegen vollendeten und versuchten Mordes sowie Raubes zu einer
lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Die Freiheitsstrafe wurde zugunsten
einer Verwahrung aufgeschoben. X. wurde verpflichtet, nebst Schadenersatz
der Witwe von C., A., Fr. 50'000.- und dem Sohn B. Fr. 30'000.- als
Genugtuung zu bezahlen, zuzüglich Zins zu 5 % ab 12. Januar 1997.

    A. und B. führen eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
ihnen eine Genugtuung von Fr. 80'000.- bzw. Fr. 50'000.- zuzüglich Zinsen
zuzusprechen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer machen geltend, die Vorinstanz habe
das ihr zustehende Ermessen bei der Festsetzung der Genugtuung in
unbilliger bzw. in stossender Weise ausgeübt. Sie habe die massgeblichen
Bemessungskriterien nicht hinreichend gewichtet, insbesondere das
überdurchschnittlich schwere Verschulden des Täters und seine Verurteilung
wegen Mordes, des schwersten Tötungsdeliktes des Gesetzes. Die zumeist
auf fahrlässigen Tötungsdelikten beruhenden Genugtuungsbeträge, von denen
die Vorinstanz ausgegangen sei, hätten im vorliegenden Fall noch weiter
erhöht werden müssen.

    a) Bei Tötung eines Menschen kann der Richter unter Würdigung der
besonderen Umstände den Angehörigen des Getöteten eine angemessene
Geldsumme als Genugtuung zusprechen (Art. 47 OR). Bemessungskriterien
sind dabei vor allem die Art und Schwere des Eingriffs, die Intensität
und Dauer der Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen
sowie der Grad des Verschuldens des Schädigers. Die Festlegung der
Höhe der Genugtuung beruht auf richterlichem Ermessen. Ob der kantonale
Richter sein Ermessen richtig ausgeübt hat, ist eine Rechtsfrage, die das
Bundesgericht im Berufungsverfahren bzw. im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde frei überprüft. Das Bundesgericht beachtet dabei

jedoch praxisgemäss, dass dem Sachrichter ein eigener weiter Spielraum des
Ermessens zusteht. Dementsprechend auferlegt es sich bei der Überprüfung
Zurückhaltung und schreitet nur ein, wenn der Sachrichter grundlos von den
in Lehre und Rechtsprechung ermittelten Bemessungsgrundsätzen abgewichen
ist, wenn er Tatsachen berücksichtigt hat, die für den Entscheid im
Einzelfall keine Rolle spielen, oder wenn er andererseits Umstände ausser
Betracht gelassen hat, die er in seinen Entscheid hätte mit einbeziehen
müssen. Es greift ausserdem in Ermessensentscheide ein, wenn sich diese
als offensichtlich unbillig bzw. als in stossender Weise ungerecht erweisen
(BGE 125 III 412 E. 2a mit Hinweisen).

    b) Die Vorinstanz stützt ihren Entscheid auf die Umstände der
Tat, deren rechtliche Qualifikation, den Verwandtschaftsgrad der
Beschwerdeführer zum Opfer und das Alter des Kindes zum Tatzeitpunkt. Sie
berücksichtigt die massgeblichen Kriterien, ohne sachfremde Überlegungen
einzubeziehen. Bei der Bemessung der Genugtuungssummen geht sie von
einem Basisbetrag von Fr. 30'000.- für die Witwe und von Fr. 20'000.-
für den Sohn aus, was ebenfalls nicht gegen Bundesrecht verstösst.

    c) Das Verhältnis der Ehegatten wird nur sehr knapp erwähnt. Die
Vorinstanz geht mangels anderer Angaben von einer normalen, weder besonders
engen noch besonders lockeren ehelichen Beziehung aus. Weitere Angaben
fehlen. Insbesondere ist unbekannt, wie sich der Vollzug der dem Ehemann
auferlegten vierjährigen Freiheitsstrafe auf die familiäre Situation, die
gegenseitigen Beziehungen und die Zukunftspläne ausgewirkt hat. Ebensowenig
sind Feststellungen vorhanden, wie schwer der Tod des Ehegatten bzw. des
Vaters die Beschwerdeführer getroffen hat und wie sie den Verlust zu
verarbeiten vermögen. Die Vorinstanz weist darauf hin, dass derartige
Elemente die Genugtuung erhöhen können, aber von den Beschwerdeführern
zu behaupten und zu beweisen wären.

    d) Das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom
4. Oktober 1991 (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) will die Stellung der
Opfer von Straftaten unter anderem dadurch verbessern, dass sie ihre
zivilrechtlichen Ansprüche im Strafverfahren geltend machen können.
Das Opfer soll in einem einfachen und möglichst raschen Verfahren ohne
grosses Kostenrisiko zu seinem Recht kommen und nicht neben dem oft
belastenden Strafprozess noch in einem zweiten Prozess mit den Folgen
der Straftat konfrontiert werden (BGE 123 IV 78 E. 2a; Botschaft zum OHG,
BBl 1990 II 986). Durch die Vorschriften des OHG wird in die Hoheit der
Kantone über das

Prozessrecht eingegriffen. Dieser Eingriff soll nach dem Willen des
Gesetzgebers so geringfügig wie möglich, respektive nur so gross wie zur
Erreichung der Ziele des OHG nötig ausfallen. Bei den vom OHG gewährten
Rechten handelt es sich um Mindestgarantien (BGE 124 IV 137 E. 2d; 123 IV
78 E. 2a; BERNARD CORBOZ, Les droits procéduraux de la LAVI, in: SJ 1996
S. 55; Botschaft, aaO, S. 967, 970, 985 mit Hinweisen zur Vernehmlassung
zum weiter gehenden Vorentwurf). Die Regelung des Verfahrens bleibt Sache
der Kantone (BGE 123 IV 78 E. 2a; CORBOZ, aaO, S. 73; EVA WEISHAUPT, Die
verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Zürich 1998,
S. 242 f.).

    Dies gilt auch für die Zivilansprüche des Opfers. Bei der in Frage
stehenden Genugtuung geht es um eine Forderung zivilrechtlicher Natur,
womit die Beweislast für die anspruchsbegründenden Sachverhaltselemente die
Kläger trifft (Art. 8 ZGB; vgl. auch BGE 114 II 289 E. 2a mit Hinweisen).
Das Bundesrecht greift insoweit ein, als der Strafrichter, welcher
adhäsionsweise über die Zivilansprüche des Opfers urteilt oder später
darüber entscheidet, an seine eigenen Feststellungen im Strafverfahren
rechtlich gebunden ist (BGE 120 Ia 101 E. 2e S. 108, unabhängig von den
Bestimmungen des OHG; Weishaupt, aaO). Für die Rechte und Pflichten der
Parteien bleiben aber die Bestimmungen des kantonalen Verfahrensrechts
massgebend. Das OHG schreibt nicht vor, dass bei der Beurteilung der
Zivilansprüche des Opfers nach Art. 8f OHG der Untersuchungsmaxime
zu folgen ist. Inwieweit die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen
abzuklären hat oder der Verhandlungsmaxime folgen soll, bleibt dem
kantonalen Verfahrensrecht überlassen. Eine Verletzung des kantonalen
Verfahrensrechts oder verfassungsmässiger Rechte ist mit staatsrechtlicher
Beschwerde zu rügen (BGE 120 Ia 101 E. 3a S. 109 f.). Im Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde bleibt das Bundesgericht an die
tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Behörde gebunden (Art. 269
Abs. 2, Art. 277bis Abs. 1 BStP).

    Die Vorinstanz hat alle ihr bekannten Elemente zur Beurteilung der
Genugtuungsforderung unter Einschluss der durch das Strafverfahren
gewonnenen Erkenntnisse gewürdigt. Sie weist darauf hin, dass die
Beschwerdeführer weitere Elemente zu behaupten und zu beweisen hatten. Die
Beschwerdeführer haben keine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
kantonalen Verfahrensrechts geführt (zum Verfahrensrecht des Kantons
Zürich in dieser Frage vgl. Weishaupt, aaO, S. 263). Massgebend bleiben

damit die Entscheidungsgrundlagen, wie die Vorinstanz sie aufgeführt hat.

    e) Die Vorinstanz hat aufgrund der bekannten Elemente den
Beschwerdeführern eine Genugtuung zugesprochen, indem sie von den
publizierten Werten der Rechtsprechung ausgeht und diese in Anbetracht
der Umstände der Tat erhöht. Damit verletzt sie kein Bundesrecht und
missbraucht auch nicht das ihr zustehende Ermessen (BGE 125 III 269
E. 2a, 412 E. 2a). Die Genugtuungssumme darf nicht nach festen Tarifen
festgesetzt, sondern muss dem Einzelfall angepasst werden. Das schliesst
aber den Rückgriff auf Präjudizien im Sinne von Richtwerten nicht aus. Der
seelische Schmerz entzieht sich in jedem Fall einer genauen geldmässigen
Bemessung. Der Richter wird eine Genugtuung aussprechen, wenn sich die
erlittene seelische Unbill auf die allgemeine Lebenserfahrung abstützen
lässt (BGE 120 II 97 E. 2b; ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 1998, N. 21,
62 zu Art. 47 OR; vgl. auch MAX SIDLER, Die Genugtuung und ihre Bemessung,
N. 10.43, in: Peter Münch/Thomas Geiser, Schaden - Haftung - Versicherung,
Basel 1999).

    Verlangt der Geschädigte eine Genugtuung, die über die Summe
hinausgeht, welche nach der allgemeinen Lebenserfahrung, den publizierten
Werten und den bekannten Umständen der Tat zuzusprechen ist, obliegt es
ihm, die entsprechenden Elemente im kantonalen Verfahren darzutun und
zu beweisen, die eine solche Erhöhung nahelegen. Die Beschwerdeführer
begnügen sich damit, die bekannten und von der Vorinstanz bereits
gewürdigten Tatumstände erneut vorzubringen. Die von den Beschwerdeführern
geltend gemachten Urteile des Bundesgerichts (BGE 121 III 252) und des
Einzelrichters in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich (welches noch nicht
rechtskräftig ist) vermögen am Ergebnis nichts zu ändern. Die Festlegung
einer Genugtuung erweist sich noch nicht als bundesrechtswidrig, weil das
Bundesgericht oder eine kantonale Instanz in einem konkreten Fall einen
höheren oder tieferen Betrag für angebracht hielt.