Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 IV 135



127 IV 135

21. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 15. Mai 2001
i.S. Bezirksstatthalteramt Arlesheim gegen Generalprokurator des Kantons
Bern Regeste

    Art. 350 Ziff. 1 StGB; Bestimmung des Gerichtsstandes beim
Schuldinterlokut.

    Beim Schuldinterlokut (im Sinne von Art. 294 StrV/BE) gilt der Täter
noch als verfolgt, solange nicht erstinstanzlich über den Strafpunkt
entschieden ist (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Behörden des Kantons Basel-Landschaft führen seit Oktober
2000 eine Strafuntersuchung gegen B. insbesondere wegen Diebstahls,
Betruges und Veruntreuung.

    Die Behörden des Kantons Basel-Stadt führen ebenfalls seit Oktober
2000 gegen B. eine Strafuntersuchung insbesondere wegen mehrfacher
Zechprellerei. Dieses Verfahren wurde am 28. März 2001 durch das
Bezirksstatthalteramt Arlesheim/BL übernommen.

    Die Behörden des Kantons Bern führen gegen B. seit längerem eine
Strafuntersuchung wegen sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB),
eventuell Versuchs dazu, und Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB),
angeblich begangen 1996, eventuell 1997. Gestützt auf den übereinstimmenden
Überweisungsbeschluss der Untersuchungsrichterin und des Prokurators
vom 11. Januar 2001 sprach das Kreisgericht VIII Bern-Laupen B. wegen
dieser Delikte mit Urteil vom 23./24. Oktober 2000 im Sinne eines
Schuldinterlokutes im Sinne von Art. 294 StrV/BE schuldig.

    B.- Am 21. Dezember 2000 ersuchte das Bezirksstatthalteramt
Arlesheim/BL die Behörden des Kantons Bern, das bisher durch dieses
Amt geführte Verfahren zu übernehmen. Am 5. Januar 2001 lehnte der
Generalprokurator des Kantons Bern eine Übernahme des Verfahrens ab. Ein
Meinungsaustausch zwischen den beiden Behörden führte zu keiner Einigung
in der Frage des Gerichtsstandes.

    C.- Mit Gesuch vom 28. März 2001 beantragt das Bezirksstatthalteramt
Arlesheim/BL, die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Bern berechtigt
und verpflichtet zu erklären, die B. vorgeworfenen strafbaren Handlungen
zu verfolgen und zu beurteilen.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, das Gesuch abzuweisen
und die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Basel-Landschaft zuständig
zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter
strafbarer Handlungen verfolgt, so sind die Behörden des Ortes, wo die
mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt worden ist, auch für die
Verfolgung und Beurteilung der anderen Taten zuständig (Art. 350 Ziff. 1
Abs. 1 StGB).

    b) Die mit der schwersten Strafe bedrohte, dem Beschuldigten
vorgeworfene strafbare Handlung ist die von ihm angeblich im Kanton Bern
verübte Vergewaltigung. Dass der Beschuldigte damit in Anwendung von
Art. 350 Ziff. 1 StGB im Kanton Bern zu verfolgen wäre, ist unbestritten.
Der Gesuchsgegner vertritt jedoch die Auffassung, es sei im Kanton Bern
mit dem Schuldspruch vom 24. Oktober 2000 bereits ein Strafurteil ergangen,
womit diese Vergewaltigung bei Anhebung des Meinungsaustausches betreffend
den Gerichtsstand am 21. Dezember 2000 im Kanton Bern nicht mehr verfolgt
worden sei.

    c) Der Gesuchsteller beruft sich demgegenüber auf BGE 111 IV 45. Nach
diesem Urteil gilt der Täter wegen der ihm zur Last gelegten strafbaren
Handlungen erst dann nicht mehr als verfolgt, wenn ein Sachurteil vorliegt,
mit anderen Worten wenn über den Schuld- und den Strafpunkt entschieden
und damit das Verfahren mindestens vor einer Instanz abgeschlossen ist. In
jenem Urteil erkannte die Anklagekammer des Bundesgerichts, ein solcher
Verfahrensabschluss liege nicht vor, wenn das Gericht das Urteil aussetze,
bis ein Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten vorliege
und damit über die Sanktion entschieden werden könne; dies gelte auch,
wenn der Beschuldigte in den Erwägungen des Gerichts im Sinne der Anklage
schuldig gesprochen worden sei; der Beschuldigte müsse auch in diesem Fall
noch als verfolgt gelten. Die Anklagekammer des Bundesgerichts begründete
dies damit, dass sich erst auf Grund des Expertenberichts entscheiden
lasse, ob das Verfahren ohne neue Hauptverhandlung abgeschlossen werden
könne; das Gutachten stelle nämlich ein neues Beweismittel dar, mit
welchem neue Tatsachen ins Verfahren eingeführt werden könnten, zu denen
der Angeklagte Anspruch auf Stellungnahme habe.

    Der Gesuchsteller ist nun der Auffassung, auch im vorliegenden Fall
sei mit dem Teilurteil über die Folgen des Schuldspruches noch nicht
entschieden worden, da noch das Ergebnis eines in Auftrag gegebenen
psychiatrischen Obergutachtens abgewartet werden soll. Auch der Umstand,
dass nach bernischem Recht das gefällte Teilurteil erst nach dem noch zu
erlassenden ganzen Urteil durch Rechtsmittel weitergezogen werden könne,
spreche dafür, dass der Beschuldigte noch als verfolgt im Sinne von
Art. 350 StGB zu gelten habe.

    d) Mit dem Schuldinterlokut im Sinne von Art. 294 StrV/BE wird in einer
ersten Verhandlung und Beratung ein Teilurteil über die Schuldfrage und
damit über die Frage der Tatbegehung gefällt. In einem zweiten Urteil
wird sodann nur noch über die Folgen des Schuld- oder Freispruches
verhandelt und beraten. Gegenstand des Schuldinterlokutes ist somit die
reine Tatfeststellung, das heisst die Feststellung, ob der Beschuldigte
die ihm zur Last gelegte Tat begangen habe (BEATRICE BILAND-ZIMMERMANN,
Das Schuldinterlokut in der Hauptverhandlung, Diss. Zürich 1975, S. 2). In
diesem ersten Verhandlungsabschnitt werden nach einhelliger Auffassung
der objektive und subjektive Tatbestand sowie Vorsatz oder Fahrlässigkeit
beurteilt; auch Rechtfertigungsgründe sind hier zu erörtern (BEAT WOLFFERS,
Das Schuldinterlokut in der Schweiz, insbesondere im Kanton Bern, in:
ZStrR 117/1999 S. 225; BILAND-ZIMMERMANN, aaO, S. 75 f.). In der Praxis von
Bedeutung ist das Schuldinterlokut vor allem in Fällen, in denen besondere
Beweiserhebungen zur Festsetzung der Strafe erfolgen müssen, wie etwa die
nachträgliche Anordnung einer psychiatrischen Expertise (BILAND-ZIMMERMANN,
aaO, S. 114). Im Kanton Bern hat das (zudem sehr selten zur Anwendung
gelangende) Schuldinterlokut absolute Bindungswirkung, das heisst, alle
Prozessbeteiligten sind an den Entscheid gebunden und ein Zurückkommen
darauf ist im laufenden Verfahren ausgeschlossen (WOLFFERS, aaO, S. 226
mit Hinweis auf JÜRG AESCHLIMANN, Einführung in das Strafprozessrecht,
Bern 1997, Rz. 1554, und THOMAS MAURER, Das neue bernische Strafverfahren,
Bern 1996, S. 85).

    e) Die in Art. 349 und 350 StGB umschriebenen Gerichtsstände sind
Erscheinungsformen eines vom Gesetz zwar nicht ausdrücklich aufgestellten,
aber doch vorausgesetzten prozessualen Vereinigungsprinzips, das
einerseits auf dem Gebot der prozessualen Zweckmässigkeit beruht
(einheitliche Beweisführung und Verteidigung etc.) und andererseits eine
einheitliche Anwendung der materiell-rechtlichen Strafzumessungsgrundsätze
ermöglichen und erlauben soll, dass insbesondere die in Art. 68 Ziff. 1
StGB vorgesehene Gesamtstrafe ausgesprochen werden kann (vgl. Art. 350
Ziff. 2 StGB). Der Gerichtsstand ist daher grundsätzlich so zu bestimmen,
dass dieses Ziel erreicht werden kann. Das Vereinigungsprinzip
findet nur dort eine Einschränkung, wo seine Beachtung nicht mehr
die bezweckte Erleichterung, sondern eine Erschwerung des Verfahrens
bewirkt und prozessual unzweckmässig ist (SCHWERI, Interkantonale
Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N. 10).

    Dass das bernische Schuldinterlokut nach Auffassung der oben erwähnten
Autoren grundsätzlich absolute Bindungswirkung entfaltet, ändert nichts
daran, dass mit dem Schuldspruch allein das erstinstanzliche Verfahren
noch nicht abgeschlossen ist. Solange die Strafe noch nicht festgelegt
ist, kann immer noch eine einheitliche Strafzumessung für neu bekannt
gewordene strafbare Handlungen des Beschuldigten erreicht werden. Die
Bindungswirkung des Schuldinterlokuts betrifft allein die Delikte,
die Gegenstand der ihm zu Grunde liegenden Anklage bildeten. Sie steht
daher einer Beurteilung anderer strafbarer Handlungen auf Grund einer
neuen und zusätzlichen Anklage in der zweiten oder im zweiten Teil der
Hauptverhandlung nicht entgegen. Es muss daher auch beim Schuldinterlokut
- wo stets noch eine Hauptverhandlung bzw. ein zweiter Abschnitt
derselben stattfindet (Art. 294 StrV/BE; ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Aufl., Basel 1999, § 82 N 29) -
dabei bleiben, dass der Täter erst nicht mehr als verfolgt gelten kann,
wenn auch über den Strafpunkt erstinstanzlich entschieden ist. Dies
entspricht nicht nur am besten dem Vereinigungsprinzip, sondern stellt
in aller Regel auch die prozessökonomischere Lösung dar.

    Das Argument des Gesuchsgegners, anders als in BGE 111 IV 45, wo
noch kein Teilurteil gefällt worden sei, sei im vorliegenden Fall eine
gemeinsame Beurteilung aller dem Beschuldigten zur Last gelegten strafbaren
Handlungen in einem Gerichtsverfahren nicht mehr möglich, da sich nach
dem Schuldinterlokut auch im Kanton Bern ein neues Gericht mit den noch
nicht beurteilten und zu übernehmenden strafbaren Handlungen - die zudem
ausschliesslich in einem anderen Kanton verübt worden seien - befassen
müsste, ist unbehelflich. Denn Art. 350 StGB gilt auch innerkantonal
(BGE 113 Ia 165 E. 3) und geht allfälligen entgegenstehenden kantonalen
Bestimmungen vor (BGE 122 IV 250 E. 3b). Damit sind auch die durch den
Beschuldigten in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft verübten
Delikte durch dasselbe bernische Gericht zu beurteilen, welches die
Delikte dieses Täters bereits mit dem Schuldinterlokut beurteilte.

    f) Triftige Gründe für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand
werden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich. Denn
nachdem zunächst noch eine psychiatrische (Ober-)Begutachtung des Täters
erforderlich ist, um die Sanktion festlegen zu können, könnten auch die
Behörden des Kantons Basel-Landschaft das bisher durch sie geführte
Verfahren nicht durch Urteil zum Abschluss bringen, bevor dieses
Obergutachten vorliegt.