Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 529



127 III 529

89. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Juli 2001
i.S. Erben der A.R. sel. gegen Erben des B.R. sel. (Berufung)

Regeste

    Ehevertrag; Formungültigkeit der erbrechtlichen Anordnungen;
richterliche Ergänzung des Vertrages.

    Die gesetzlichen Formvorschriften beziehen sich auf die
Regelung des Vertragsinhaltes durch die Vertragsparteien
und nicht auf die vertragsergänzende Tätigkeit des Richters.
Dieser ist auch bei formbedürftigen Verträgen befugt, "konstruktiv"
bzw. "modifizierend" einzugreifen, wenn dies als notwendig und sinnvoll
erscheint. Massgeblichkeit des hypothetischen Willens der Vertragsparteien
(E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die kinderlosen Eheleute A.R. und B.R.  schlossen am 15. März
1956 einen mit "Ehevertrag" überschriebenen Vertrag ab, welcher von der
Vormundschaftsbehörde genehmigt wurde. Auf eine Eintragung des Vertrags
im Güterrechtsregister und auf die Publikation wurde ausdrücklich
verzichtet. Sie wählten den ehelichen Güterstand der Gütergemeinschaft
gemäss aArt. 215 ZGB (Ziff. 1) und trafen Regelungen auf ihr Ableben hin
(Ziff. 2). Sie vereinbarten im Wesentlichen die Zuweisung des beweglichen
Vermögens des einen Ehegatten an den Überlebenden (Ziff. 2 lit. a) sowie
eine entsprechende Zuweisung der Liegenschaften, diese jedoch mit der
Einschränkung, dass der überlebende Ehegatte die jeweils vom anderen
stammende(n) Liegenschaft(en) nicht veräussern dürfe; letztere sollten
vielmehr nach dem Tode beider Ehegatten je an deren Erben fallen (Ziff. 2
lit. b).

    Der Ehemann verstarb 1964, worauf sich die Ehefrau 1988 im Grundbuch
als Alleineigentümerin der von ihrem Ehemann stammenden Liegenschaften
eintragen liess; sie selbst verstarb 1994.

    B.- In der Folge erhoben die Erben des Ehemannes beim Kantonsgericht
Glarus Klage auf Herausgabe und grundbuchliche Eintragung als Eigentümer
der vom Ehemann stammenden Liegenschaften. Die Beklagten beriefen
sich auf Ungültigkeit der vertraglichen Vereinbarung, denn was mit den
Liegenschaften nach dem Tode beider Ehegatten zu geschehen habe, sei
erbrechtlicher Natur und hätte daher der qualifizierten öffentlichen
Beurkundung von Art. 512 Abs. 2 ZGB (Zeugen) bedurft. Mit Urteil
vom 2. März 1999 hiess das Kantonsgericht die Klage gut und erliess
entsprechende Anordnungen gegenüber dem Grundbuchamt. Auf Berufung
der Beklagten bestätigte das Obergericht des Kantons Glarus das
erstinstanzliche Urteil mit Entscheid vom 27. Oktober 2000.

    C.- Die Beklagten haben gegen das obergerichtliche Urteil Berufung
eingereicht und beantragen im Wesentlichen, dieses sei aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Gerügt wird in der Berufung einzig, die Rechtsauffassung
der Vorinstanz sei unzutreffend, wonach die Eheleute A.R. und B.R. im
Wissen um die Ungültigkeit der erbrechtlichen Vereinbarung die je eigenen
Liegenschaften nicht zum Gesamtgut erhoben hätten; eine Ergänzung des
Vertrages gestützt auf den hypothetischen Parteiwillen dergestalt, dass
bezüglich der Liegenschaften kein Gesamtgut begründet worden wäre, hätte
nicht vorgenommen werden dürfen. Dabei machen die Beklagten gestützt auf
zwei Literaturstellen im Berner Kommentar (KRAMER, N. 260 zu Art. 18 OR,
und MERZ, N. 163/164 zu Art. 2 ZGB) geltend, die von der Vorinstanz
vorgenommene Ergänzung des Ehevertrages (Herausnahme der fraglichen
Liegenschaften aus dem Gesamtgut) hätte angesichts der Formbedürftigkeit
des Ehevertrages eines klaren Anhaltspunktes im formgerecht vereinbarten
Teil des Ehevertrages bedurft, was nicht der Fall sei. Es liege demnach
eine schlichte Teilnichtigkeit vor und keine sogenannte modifizierte,
wie die Vorinstanz angenommen habe.

    b) Der hypothetische Wille als solcher wird von den Beklagten nicht
infrage gestellt, keinesfalls aber genügend (Art. 55 Abs. 1 lit. b und
c OG; zu den Begründungsanforderungen: BGE 116 II 745 E. 3 S. 748/749
und zur Kognition des Bundesgerichts hinsichtlich der Ermittlung des
hypothetischen Parteiwillens: BGE 120 II 35 E. 4b S. 41).

    c) In der Literatur ist umstritten, ob die richterliche Ergänzung
eines gültigen formbedürftigen Vertrages, um zulässig zu sein,
ihre Grundlage in entsprechenden Anhaltspunkten der vorhandenen,
formgerechten Parteivereinbarungen haben müsse (für die Notwendigkeit
solcher Anhaltspunkte: MERZ, Berner Kommentar, N. 163/164 zu Art. 2 ZGB,
und besonders KRAMER, Berner Kommentar, N. 260 zu Art. 18 OR; ferner
WIEGAND, Basler Kommentar, N. 88 zu Art. 18 OR; vgl. auch WEIMAR, Berner
Kommentar, Einleitung zum 14. Titel "Die Verfügungen von Todes wegen",
N. 72 und besonders N. 78-82; gegenteilig: JÄGGI/GAUCH, Zürcher Kommentar,
N. 546 zu Art. 18 OR; DESCHENAUX, Schweizerisches Privatrecht, Bd. II,
S. 173 und besonders GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweiz. Obligationenrecht,
Allgemeiner Teil, 7. Aufl., Zürich 1998, N. 1278/1279; vgl. auch RASELLI,
Erklärter oder wirklicher Wille des Erblassers?, in: AJP 1999 S. 1265 ff.,
und DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 4. Aufl., Bern 1997, § 12 N. 16,

S. 148, sowie BREITSCHMID, Erbrecht, in: Die Rechtsentwicklung
an der Schwelle zum 21. Jahrhundert [Hrsg. Gauch/Schmid, Zürich
2001], S. 129/130). Dabei wird von diesen Autoren nicht speziell auf
Teilnichtigkeit (Art. 20 Abs. 2 OR) Bezug genommen, obwohl die erwähnte
Streitfrage in diesem Zusammenhang einen besonderen Anwendungsfall
hat, worauf die Beklagten an sich zu Recht hinweisen. Die ersterwähnte
Meinung wird wohl eine "modifizierte" Teilnichtigkeit (vgl. zu dieser
allgemein namentlich GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, aaO, N. 703-705) bei
formbedürftigen Verträgen im Falle fehlender Anhaltspunkte im Sinne
des Gesagten ausschliessen und nur eine "einfache" Teilnichtigkeit
zulassen. Während sich GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY (aaO, N. 1278/1279) vor
allem darauf berufen, dass sich die gesetzlichen Formvorschriften auf
die Regelung des Vertragsinhaltes durch die Vertragsparteien bezögen und
nicht auf die vertragsergänzende Tätigkeit des Richters, weist KRAMER
(aaO, N. 260 zu Art. 18 OR) auf den Formzweck (etwa Übereilungsschutz
oder Gewährleistung der Transparenz der Vertragsbedingungen für die
Öffentlichkeit) hin. Die Meinung von GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY erscheint
als die überzeugendere. Auch ist nicht einzusehen, warum es dem Richter
gerade bei der Beurteilung formbedürftiger Verträge, im Unterschied
zu allen anderen Verträgen, verwehrt sein sollte, "konstruktiv"
bzw. "modifizierend" einzugreifen, wenn dies als notwendig und sinnvoll
erscheint, zumal auch die blosse Auslegung formbedürftiger Verträge
nach den gleichen Grundsätzen zu erfolgen hat wie diejenige formfreier
(BGE 122 III 361 E. 4 S. 366; RASELLI, aaO, S. 1264). Im Übrigen zeigt
gerade der vorliegende Fall, dass die aus dem Formzweck abgeleiteten
Argumente von KRAMER nicht stichhaltig sind: Es geht bei der vorliegenden
richterlichen Vertragsergänzung nicht etwa um (hypothetische) zusätzliche
vertragliche Verpflichtungen der Parteien, sondern gegenteils um die
Herausnahme bestimmter Grundstücke aus den gegenseitigen vertraglichen
Verpflichtungen (Einschränkungen des Vertrages), weshalb die Frage des
Übereilungsschutzes a priori nicht aktuell ist; ebenso spielt vorliegend
die Transparenz der Vertragsbedingungen für die Öffentlichkeit überhaupt
keine Rolle, da die Vertragsparteien im vorliegenden Fall ausdrücklich
auf jede Kundbarmachung ihres Vertrages gegenüber Dritten verzichtet haben.

    Die Massgeblichkeit des hypothetischen Willens der Eheleute A.R. und
B.R. (Herausnahme der Liegenschaften des Ehemannes aus dem Gesamtgut)
gemäss vorinstanzlichem Urteil ist mithin

unter dem geltend gemachten Gesichtspunkt der Form nicht zu
beanstanden. Das muss bei Verfügungen von Todes wegen jedenfalls für
Erbverträge gelten, die auch bezüglich Auslegung den Verträgen unter
Lebenden und nicht den Testamenten gleichgestellt werden (vgl. BGE 99 II
382 E. 4a S. 385 ff. und hiezu auch RIEMER, in: recht 3/94 S. 125). Ob
dagegen auch bei Testamenten nötigenfalls auf die Andeutungsregel
verzichtet und "konstruktiv" bzw. "modifizierend" eingegriffen werden
darf, ist vorliegend nicht zu entscheiden.

    d) Unter diesen Umständen ist die Berufung abzuweisen und das
vorinstanzliche Urteil zu bestätigen.