Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 446



127 III 446

76. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Juli 2001
i.S. Eidgenössische Invalidenversicherung gegen Versicherung X. (Berufung)
Regeste

    Gefälligkeit als Grund für eine Haftungsreduktion.

    Auch nach der anlässlich der Revision vom 20. März 1975 erfolgten
Streichung von Art. 59 Abs. 3 SVG ist die Gefälligkeit des Halters
gegenüber Fahrzeugentlehnern als die Schadenersatzpflicht herabsetzender
"Umstand" im Sinne von Art. 43 Abs. 1 OR zu qualifizieren (E. 4b/bb).

Sachverhalt

    A. verursachte am 11. September 1992 in einer scharfen Linkskurve
mit dem von ihm gelenkten Audi 100 einen Unfall. Der Lenker erlitt
dabei erhebliche Verletzungen und wurde arbeitsunfähig. Seit dem
1. September 1993 bezahlt ihm die Eidgenössische Invalidenversicherung
(Klägerin) eine volle IV-Rente, eine Zusatzrente für die Ehefrau
und zwei Kinderrenten. Halter des Fahrzeugs ist der Cousin des
verunfallten Lenkers, B., der bei der Versicherung X. (Beklagte)
obligatorisch haftpflichtversichert ist. Die Klägerin nahm für ihre
Leistungen Regress auf die Beklagte und belangte diese am 27. Januar
1999 auf Zahlung von Fr. 712'381.80 nebst 5 % Zins ab 1. November
1998 vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich, welches die Klage am 5.
Dezember 2000 abwies. Mit eidgenössischer Berufung beantragt die Klägerin
im Wesentlichen die Aufhebung des Urteils des Handelsgerichts des Kantons
Zürich vom 5. Dezember 2000, die Rückweisung der Sache zur Ergänzung des
Sachverhalts und die Gutheissung der Klage.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Die Vorinstanz billigte dem Halter gestützt auf Art. 43 Abs. 1
OR eine weitere Haftungsreduktion von 30% zu, weil er dem Geschädigten
mit der ohne Eigeninteresse erfolgten unentgeltlichen Überlassung des
Fahrzeugs eine Gefälligkeit erwies, die das selbst unter Verwandten
allgemein übliche Mass an Grosszügigkeit überstieg. Das Handelsgericht
hob hervor, der Sachverhalt gestalte sich wesentlich anders als in BGE 117
II 609, wo eine Gefälligkeit verneint wurde. Das Fahrzeug sei vorliegend
nicht von einem Lebenspartner, sondern von einem Cousin zur Verfügung
gestellt worden. Die unentgeltliche Überlassung des Autos sei daher nicht
von vornherein selbstverständlich. Zudem wurde es nicht nur für wenige
Stunden, sondern für immerhin acht bis zehn Tage übergeben, in denen eine
erhebliche Strecke zurückgelegt werden sollte. Die Vorinstanz ging daher
von einer haftungsreduzierenden Gefälligkeit aus. Bei der Bemessung der
Herabsetzung würdigte sie namentlich den Grad der Uneigennützigkeit und
erwog, das Mitführen von Gegenständen für die Eltern des Halters stelle
seinerseits eine Selbstverständlichkeit dar und sei nicht Bedingung der
Wagenleihe gewesen. Sie veranschlagte den Haftungsabzug zufolge der
Gefälligkeit auf 30% und setzte die Schadenersatzpflicht des Halters
insgesamt auf 40% des Gesamtschadens fest.

    b) Die Klägerin beanstandet diese Herabsetzung im Grundsatz und der
Höhe nach.

    aa) Soweit sie sich dabei auf einen gegenüber dem von der
Vorinstanz festgestellten erweiterten Sachverhalt stützt und daraus
auf die Selbstverständlichkeit der Fahrzeugüberlassung schliesst, ist
auf ihr Vorbringen nicht einzutreten. Sodann verkennt die Klägerin die
Argumentation der Vorinstanz zum (fehlenden) Eigeninteresse des Halters,
wenn sie meint, es sei abzuklären, ob ein Warentransport stattgefunden
habe. Nach Auffassung der Vorinstanz wurde dies als gegeben unterstellt,
jedoch nicht als geeignet befunden, die grosszügige Geste des Halters
herabzuwürdigen. Eine Verletzung von Art. 8 ZGB ist daher nicht
auszumachen.

    bb) Das Bundesgericht hat sich in BGE 117 II 609 E. 5c mit der
anlässlich der Revision vom 20. März 1975 erfolgten Streichung von Art. 59
Abs. 3 SVG (SR 741.01), welcher die Gefälligkeit als Reduktions- oder
Ausschlussgrund der Haftung ausdrücklich vorsah, befasst und dargelegt,
dass sich auch nach der Abschaffung von Art. 59 Abs. 3 SVG die Mehrheit
der Autoren in Anwendung von Art. 43 Abs. 1 OR grundsätzlich für eine
Ermässigung der Haftpflicht bei Gefälligkeit ausspricht (vgl. die Nachweise
in BGE 117 II 609 E. 5c/aa S. 618 f.). Es nahm indes nicht abschliessend
Stellung, da es eine Gefälligkeit ohnehin verneinte (BGE 117 II 609
E. 5c/cc S. 619).

    Die Anerkennung der Gefälligkeit als Grund für eine Reduktion der
Haftung stellt einen der Billigkeit entsprechenden Leitgedanken des
Obligationenrechts dar, welcher in Art. 99 Abs. 2 OR und in Art. 248 OR
ausdrücklich kodifiziert wurde (BREHM, Berner Kommentar, N. 55a zu Art.
43 OR; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5. Aufl.,
S. 411 Rz. 69). Nichts steht daher entgegen, die Gefälligkeit des Halters
gegenüber Fahrzeugentlehnern auch nach Aufhebung der entsprechenden
Sonderbestimmung als einen die Schadenersatzpflicht herabsetzenden
"Umstand" im Sinne von Art. 43 Abs. 1 OR zu qualifizieren. Diese
Auffassung herrscht auch in der Lehre vor (GUHL/KOLLER, Das Schweizerische
Obligationenrecht, 9. Aufl., S. 88 Rz. 92; BREHM, Berner Kommentar,
N. 56 zu Art. 43 OR; DÄHLER/SCHAFFHAUSER, Verkehrsunfall, in: Münch/Geiser
[Hrsg.], Schaden - Haftung - Versicherung, S. 511 Rz. 10.39; BUSSY/RUSCONI,
Code Suisse de la circulation routière, 3. Aufl., N. 4.6 zu Art. 59;
OFTINGER/STARK, a.a.O, S. 411 Rz. 69; vgl. auch Rey, Ausservertragliches
Haftpflichtrecht, S. 286 Rz. 1304; a.A. ALFRED KELLER, Haftpflicht
im Privatrecht, Bd. I, 5. Aufl., S. 282). Für die von der Klägerin
vertretene Ansicht, wonach es bei der Abschaffung von Art. 59 Abs. 3
SVG dem gesetzgeberischen Willen entsprochen habe, Kürzungen wegen
Gefälligkeitshandlungen zu unterbinden, lassen sich in den Materialien
jedenfalls für die hier einzig interessierende unentgeltliche Überlassung
des Fahrzeugs keine Belege finden (GEISSELER, Haftpflicht und Versicherung
im revidierten SVG, Diss. Freiburg 1980, S. 19 und S. 41). Art. 62 Abs.
1 SVG, welcher auf die Regeln zur Bemessung des Schadenersatzes auf das
OR und damit namentlich auf Art. 43 Abs. 1 OR verweist (BUSSY/RUSCONI,
aaO, N. 1.5 zu Art. 62 SVG), wurde in der Revision von 1975 denn auch
nicht verändert. Die Berufung ist insoweit unbegründet.

    cc) Weshalb die Vorinstanz aufgrund der festgestellten Gegebenheiten
mit der Annahme einer Gefälligkeit und mit deren Bewertung ihr Ermessen
überschritten haben soll, zeigt die Klägerin nicht auf und ist auch
nicht ersichtlich.