Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 127 III 385



127 III 385

65. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Juli 2001
i.S. A. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Berufung) Regeste

    Fürsorgerische Freiheitsentziehung. Verfahren im Kanton (Art. 397e
ZGB); direkter Zugang zum Richter (Art. 397d ZGB). Beschleunigungsgebot
(Art. 397f Abs. 1 ZGB, Art. 5 Ziff. 4 EMRK).

    Das Bundesrecht will mit Rücksicht auf die EMRK den raschen
und direkten Zugang zu einem Gericht sicherstellen. Mit diesen
bundesrechtlichen Vorgaben ist die Luzerner Regelung nicht vereinbar, wenn
sie im Anschluss an eine vorsorgliche Einweisung zunächst die Überprüfung
durch eine Verwaltungsbehörde und erst hernach den Zugang zum Richter
vorsieht (E. 2).

    Welche Verfahren den zeitlichen Anforderungen von Art.  397f Abs. 1
ZGB noch zu genügen vermögen, lässt sich nicht nach einheitlichen und
formalen Kriterien allgemein und abstrakt festlegen. Massgebend sind wie
in der Praxis zu Art. 5 Ziff. 4 EMRK die gesamten Umstände des konkreten
Einzelfalles (E. 3a). Verletzung des Beschleunigungsgebots im vorliegenden
Fall verneint (E. 3b).

Sachverhalt

    Am 2. April 2001 wurde A., geb. am 7. November 1976, zum wiederholten
Mal in die Psychiatrische Klinik Y. eingewiesen. Die Freiheitsentziehung
erfolgte vorsorglich, durch den leitenden Arzt Dr. X., der einen
akuten psychotischen Zustand mit inhärentem, weitschweifigem Denken,
Wahnvorstellungen, Drohungen mit brachialer Aggressivität, einen
dysphorisch-gespannten Zustand und schlechte Ernährung feststellte und
wegen akuter Selbst- und Fremdgefährdung und erheblicher Belastung des
familiären Umfelds eine psychiatrische Behandlung im stationären Rahmen
als notwendig erachtete. Am 3. April 2001 erfolgte die Mitteilung der
Freiheitsentziehung an den Regierungsstatthalter des Amtes Luzern. Dieser
hörte A. am 9. April 2001 an. Mit schriftlichem und gleichentags
verschicktem Entscheid vom 10. April 2001 bestätigte er die Einweisung in
die Psychiatrische Klinik, wies das Entlassungsgesuch ab und ordnete an,
der Klinikaufenthalt dauere solange, wie es der Zustand von A. erfordere.

    Gegen diesen Entscheid erhob A. am 12. April 2001
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
und beantragte die sofortige Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik. Das
Verwaltungsgericht führte am 26. April 2001 eine mündliche Einvernahme
mit A. durch und wies die Beschwerde mit Entscheid vom gleichen Tag ab.

    Mit Eingabe vom 8. Juni 2001 führt A. Berufung beim Bundesgericht. Er
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und seine sofortige
Entlassung. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Berufungskläger macht geltend, die Luzerner Behörden hätten
gegen Art. 397e Ziff. 1 und Ziff. 3 ZGB verstossen. Obwohl diese
Bestimmungen der betroffenen Person das Recht einräumten, den Richter
anzurufen, und obwohl darin festgeschrieben sei, ein entsprechendes
Begehren müsse unverzüglich an den Richter weitergeleitet werden,
habe zuerst der Regierungsstatthalter, d.h. eine Verwaltungsinstanz,
entschieden. § 7 Abs. 3 des kantonalen Gesetzes, der diesen Instanzenzug
vorsehe, sei insofern bundesrechtswidrig.

    a) Gemäss Art. 397e (Ingress) ZGB ordnen die Kantone das allgemeine
Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung unter Vorbehalt der
in den Ziff. 1 bis 5 dieser Bestimmung festgehaltenen bundesrechtlichen
Anforderungen. Diese haben den Charakter von Minimalgarantien (Botschaft
zur Änderung des ZGB betreffend die fürsorgerische Freiheitsentziehung
vom 17. August 1977, in BBl 1977 III 1 ff., 33; GEISER, Basler Kommentar,
N. 2 zu Art. 397e ZGB; SPIRIG, Zürcher Kommentar, N. 6 ff. zu Art. 397e
ZGB). Laut Art. 397e Ziff. 1 ZGB muss die betroffene Person bei jedem
Entscheid über die Gründe der Anordnung unterrichtet und schriftlich darauf
aufmerksam gemacht werden, dass sie den Richter anrufen kann. Nach Ziff.
2 dieser Vorschrift besteht bei jedem Anstaltseintritt eine schriftliche
Mitteilungspflicht über die Möglichkeit, bei Zurückbehaltung oder
bei Abweisung eines Entlassungsgesuchs den Richter anzurufen. Ziff. 3
von Art. 397e ZGB bestimmt sodann, dass ein Begehren um gerichtliche
Beurteilung unverzüglich an den zuständigen Richter weiterzuleiten ist.
Art. 397d ZGB (i.V.m. Art. 397a ZGB) schreibt im Weiteren fest, dass gegen
den Entscheid über die Unterbringung in einer Anstalt oder die Abweisung
eines Entlassungsgesuchs innert zehn Tagen nach der Mitteilung schriftlich
der Richter angerufen werden kann.

    Der Kanton Luzern hat das Verfahren der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung in den § 6 ff. des Gesetzes vom 10. März 1981 über die
Betreuung Erwachsener und die fürsorgerische Freiheitsentziehung (BetrG)
geregelt. Danach entscheiden über die Einweisung in eine Anstalt und über
die Entlassung grundsätzlich der Gemeinderat oder der Regierungsstatthalter
(§ 6 und 8 BetrG). Liegt Gefahr im Verzug, so kann die Freiheitsentziehung
vorsorglich angeordnet werden; zu solcher Einweisung sind insbesondere auch
die zur Berufsausübung im Kanton Luzern berechtigten Ärzte berechtigt (§
7 Abs. 1 BetrG). Die vorsorgliche Anordnung ist freilich dem Gemeinderat
oder dem Regierungsstatthalter sofort zu melden (§ 7 Abs. 2 BetrG). Diese
haben sie unverzüglich zu überprüfen und durch einen schriftlichen
Entscheid zu bestätigen oder zu widerrufen (§ 7 Abs. 3 BetrG).

    b) Die bundesrechtlichen Vorgaben unterscheiden hinsichtlich des Rechts
zur Anrufung des Richters und der diesbezüglichen Mitteilungspflicht nicht
zwischen Fällen vorsorglicher Einweisung und solchen der Unterbringung für
voraussichtlich längere Dauer. Der Zugang zum Richter besteht in beiden
Fällen (BBl 1977 III 18, 21, 28 und 33; GEISER, aaO, N. 3 zu Art. 397d ZGB;
SPIRIG, aaO, N. 29 zu Art. 397d ZGB).

    Das scheint der Luzerner Gesetzgeber verkannt zu haben (vgl.
§ 9 Abs. 1 BetrG und die Fn. 4 dazu, wonach der Bundesrat im
Genehmigungsbeschluss zum BetrG vom 23. April 1981 eine entsprechende
Klarstellung angebracht hat). Das Bundesrecht will in den erwähnten Fällen
mit Rücksicht auf die EMRK den raschen und direkten Zugang zu einem Gericht
sicherstellen (vgl. BBl 1977 III 18 und 34 ff.; GEISER, aaO, N. 13 zu
Art. 397b ZGB, mit Hinweisen auf die parlamentarische Beratung). Mit diesen
bundesrechtlichen Vorgaben ist die Luzerner Regelung nicht vereinbar, wenn
sie im Anschluss an eine vorsorgliche Einweisung zunächst die Überprüfung
durch eine Verwaltungsbehörde und erst hernach den Zugang zum Richter
vorsieht (GEISER, aaO, N. 1 zu Art. 397d ZGB). Das in § 7 Abs. 2 und
3 BetrG vorgesehene Vorgehen kann auch nicht als bedingte Einweisung
im Sinne einer erlaubten Vormassnahme nach kantonalem Recht verstanden
werden (vgl. dazu GEISER, aaO, N. 20 zu Art. 397a ZGB), da eine weitere
Konkretisierung der Einweisung nicht erforderlich ist und das Bundesrecht
kein Nebeneinander von Einweisungen wegen drohender Gefahr (Art. 397b
ZGB) und vorsorglicher Anstaltsunterbringung nach kantonalem Recht aus
dem gleichen Grund vorsieht; es schliesst kantonale Regelungen insoweit
aus (BGE 122 I 18 S. 28 f.; BBl 1977 III 32). Der Luzerner Gesetzgeber
scheint im Übrigen gewisse Mängel seiner Regelung selber erkannt zu
haben. Jedenfalls hat er nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts
mit Wirkung auf den 1. Januar 2002 neu beschlossen, dass eine vorsorglich
eingewiesene Person nach bestimmter Zeitdauer zu entlassen ist, wenn die
Einweisung nicht durch eine ordentliche Unterbringung abgelöst worden ist
(vgl. Vernehmlassung des Verwaltungsgerichts, S. 2 f.; dazu auch GEISER,
aaO, N. 13 zu Art. 397b ZGB).

    Es ergibt sich, dass die Einwände des Berufungsklägers gegen die
Regelung des kantonalen Verfahrens (kein direkter Zugang zum Richter)
grundsätzlich berechtigt sind. Das führt freilich nicht zur Gutheissung
der Berufung und zu seiner Entlassung, da die Einweisung mittlerweile
gerichtlich, in der vom Bundesrecht vorgesehenen Form, bestätigt worden
ist.

Erwägung 3

    3.- Der Berufungskläger rügt weiter, die kantonalen Behörden hätten den
Anspruch auf ein einfaches und rasches Verfahren gemäss Art. 397f Abs. 1
ZGB missachtet, da er vom 4. April bis zum 9. Mai 2001, d.h. während
37 Tagen, auf einen begründeten Entscheid habe warten müssen. Auch der
Zeitraum von 22 Tagen bis zur Anhörung sei unannehmbar.

    a) Zunächst ist festzuhalten, dass der Anspruch auf ein einfaches
und rasches Verfahren gemäss Art. 397f Abs. 1 ZGB das Verfahren vor dem
Richter betrifft und nicht ein allfälliges vorgängiges Verwaltungsverfahren
(vgl. den Randtitel von Art. 397f ZGB; GEISER, aaO, N. 1 zu Art. 397f
ZGB). Dass das vorgelagerte Verfahren vor dem Regierungsstatthalter
aus anderen Gründen nicht bundesrechtskonform war, ist bereits gesagt
worden (oben, E. 2). Es versteht sich von selbst, dass es - weil vor der
gerichtlichen Beurteilung unzulässig - zu einer Verzögerung und damit zu
einer Verletzung der sich aus Art. 397a ff. ZGB ergebenden allgemeinen
Beschleunigungsgrundsätze geführt hat. Welche Verfahren den zeitlichen
Anforderungen von Art. 397f Abs. 1 ZGB noch zu genügen vermögen,
lässt sich nicht nach einheitlichen und formalen Kriterien allgemein und
abstrakt festlegen. Massgebend sind wie in der Praxis zu Art. 5 Ziff. 4
EMRK die gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles (vgl. mit Blick
auf die fürsorgerische Freiheitsentziehung das Urteil des Bundesgerichts
1P.793/1991 vom 12. Dezember 1991 i.S. V. gegen G., publ. in: EuGRZ 1991
S. 526, mit Verweisungen auf die Rechtsprechung und Lehre; BGE 122 I 18
E. 2d S. 31 ff.). Zu berücksichtigen ist, dass sich die Verfahrensdauer
nicht für alle Arten der Freiheitsentziehung nach den gleichen Massstäben
beurteilt. Das Bundesgericht hat im erwähnten, nicht amtlich publizierten
Entscheid unter Hinweis auf die Praxis der Strassburger Organe ausgeführt,
dass psychiatrische Einweisungen oft schwierigere Fragen aufwerfen als
Fälle der Untersuchungshaft. Verletzungen des Beschleunigungsgebots sind
daher nicht schon allein deswegen zu bejahen, weil ein Verfahren längere
Zeit (unter Umständen mehrere Monate) in Anspruch genommen hat. Als
massgebend muss vielmehr gelten, ob das Verfahren in Anbetracht der auf
dem Spiel stehenden Interessen zügig durchgeführt worden ist und die
Gerichtsbehörden insbesondere keine unnütze Zeit haben verstreichen lassen.

    b) Im Anschluss an die Bestätigung der Einweisung durch
den Regierungsstatthalter (Entscheid vom 10. April 2001) hat der
Berufungskläger am Gründonnerstag, den 12. April 2001, um gerichtliche
Beurteilung ersucht. Am nächstfolgenden Werktag, dem 17. April 2001
(Dienstag nach Ostern), hat das Verwaltungsgericht die Krankengeschichte,
einen Arztbericht und eine Vernehmlassung verlangt, und am 18. April hat es
die Verhandlung angesetzt (übrigens nach Absprache mit dem Rechtsvertreter
des Berufungsklägers). Am Freitag der gleichen Woche, 20. April 2001, ist
die Krankengeschichte eingegangen, am darauf folgenden Montag (23. April)
der Arztbericht und die Vernehmlassung. Am 26. April 2001 hat das
Verwaltungsgericht die Vorakten erhalten. Gleichentags hat es telefonisch
mit dem behandelnden Assistenzarzt Kontakt aufgenommen, die Verhandlung in
Anwesenheit des Berufungsklägers und seines Rechtsvertreters durchgeführt,
noch während der Verhandlung mit dem Psychologen des Psychiatrischen
Ambulatoriums über die Freisprechanlage ein Telefongespräch geführt,
sein Urteil gefällt und dieses dem Berufungskläger per Fax eröffnet. Es
ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Begründung, dass das
Verwaltungsgericht damit den Anforderungen von Art. 397f Abs. 1 ZGB in
jeder Hinsicht nachgelebt hat. Dass die schriftliche Urteilsbegründung
einige Tage auf sich hat warten lassen (Versand am 8. Mai 2001), ändert
daran nichts, zumal es sich um eine nicht einfache Angelegenheit handelte,
das begründete Urteil 13 Seiten umfasst, und der Berufungskläger laut dem
Urteil ohnehin auf unbestimmte Zeit in der Klinik zu verbleiben hat. Die
Berufung ist insoweit unbegründet.

    Die Kritik des Berufungsklägers an der Verfahrensdauer hätte im
Übrigen selbst dann nicht zu seiner Entlassung führen können, wenn sie
berechtigt gewesen wäre. Denn eine materiell nach wie vor gerechtfertigte
Klinikeinweisung kann nicht mit dem Hinweis auf die zu lange Dauer ihrer
Überprüfung durch die Gerichtsbehörden zu Fall gebracht werden. In dieser
Hinsicht berechtigte Vorwürfe können bloss bewirken, dass die Arbeit der
Gerichte beanstandet wird.