Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 362



125 V 362

58. Auszug aus dem Urteil vom 21. Juni 1999 i.S. G. gegen Regionales
Arbeitsvermittlungszentrum Ob- und Nidwalden und Verwaltungsgericht des
Kantons Nidwalden Regeste

    Art. 30a Abs. 1, Art. 85 Abs. 1 lit. i und Art. 85b Abs. 1 AVIG:
Verfügungskompetenz der regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV).
Übertragung einer Aufgabe der kantonalen Amtsstelle (Entzug des
Leistungsanspruchs gemäss Art. 30a Abs. 1 AVIG) auf das RAV.

    Art. 16 Abs. 2 lit. i, Art. 24 Abs. 2, Art. 30a Abs. 1 und
Art. 72 Abs. 1 AVIG: Zwischenverdienst; wiederholte Widersetzlichkeit
gegen die Teilnahme an einer arbeitsmarktlichen Massnahme; Entzug
des Leistungsanspruchs. Widersetzt sich ein Versicherter, welcher
eine Zwischenverdiensttätigkeit ausübt, wiederholt der Teilnahme an
einem Beschäftigungsprogramm, so besteht kein Raum für den Entzug des
Leistungsanspruchs. Denn der Ausübung einer ausgleichsberechtigenden
Zwischenverdienstarbeit kommt Priorität vor einer vorübergehenden
Beschäftigung im Sinne von Art. 72 Abs. 1 AVIG zu.

Sachverhalt

    A.- Der 1949 geborene G. meldete sich anfangs Oktober 1995 zur
Arbeitsvermittlung sowie zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung
an. Am 13. Dezember 1996 wurde er verfügungsweise für 32 Tage
in der Anspruchsberechtigung eingestellt, da er eine im Rahmen
des Beschäftigungsprogramms X zugewiesene Stelle nicht angetreten
hatte. Seit März 1997 erzielt G. bei der Firma C. AG teilzeitlich einen
Zwischenverdienst. Nachdem er drei weiteren Aufforderungen (eine im Februar
1997 und zwei im Juli 1997), sich beim erwähnten Beschäftigungsprogramm
zu bewerben, keine Folge geleistet hatte, entzog ihm das Regionale
Arbeitsvermittlungszentrum Ob- und Nidwalden (RAV) mit Verfügung vom 1.
September 1997 den Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung
ab 5. August 1997.

    B.- Die gegen die Verfügung des RAV vom 1. September 1997 eingereichte
Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden ab (Entscheid
vom 2. Februar 1998).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt G., der kantonale
Entscheid und die Verfügung des RAV vom 1. September 1997 seien
aufzuheben. (...).

    Das RAV verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Wirtschaft
und Arbeit (BWA) lässt sich nicht vernehmen.

    D.- Am 26. Januar 1999 unterbreitete der Instruktionsrichter dem
RAV eine Anfrage über die Verfügungskompetenz, welches mit Schreiben vom
29. Januar 1999 antwortete.

    Im Hinblick auf diese Aktenergänzung wurde ein zweiter Schriftenwechsel
durchgeführt. Während sich G. nicht vernehmen liess, erachtete das BWA
den am 1. September 1997 durch das RAV verfügten Leistungsentzug als
rechtmässig.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist der Entzug des Leistungsanspruchs
gemäss dem am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Art. 30a Abs. 1
AVIG. Danach entzieht die kantonale Amtsstelle dem Versicherten den
Leistungsanspruch, wenn er sich nach Ablauf der gestützt auf Art. 30 Abs. 1
lit. d AVIG verfügten Einstellungsdauer immer noch der Teilnahme an einem
Beratungsgespräch oder an einer arbeitsmarktlichen Massnahme widersetzt.

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall hat nicht die kantonale Amtsstelle
(Arbeitsamt Nidwalden), sondern das RAV den Leistungsanspruch mit Verfügung
vom 1. September 1997 entzogen. Es stellt sich daher vorab die Frage
nach der Verfügungszuständigkeit.

    b) Gemäss Art. 85b Abs. 1 Satz 2 AVIG können die Kantone den regionalen
Arbeitsvermittlungszentren Aufgaben der kantonalen Amtsstellen und der
Gemeindearbeitsämter übertragen. Von dieser Kompetenz haben die Kantone
Ob- und Nidwalden in der Vereinbarung über ein gemeinsames regionales
Arbeitsvermittlungszentrum vom 15. Januar 1996 Gebrauch gemacht. Die
Aufgaben des RAV wurden dabei nicht abschliessend geregelt. Vielmehr
sieht Art. 2 lit. k der erwähnten Vereinbarung - analog Art. 85 Abs. 1
lit. i AVIG - auch den Vollzug weiterer als der in Art. 2 lit. a bis
i explizit übertragenen Aufgaben vor. Die Zuweisung erfolgt durch die
Aufsichtskommission (Art. 6 Abs. 2 lit. g der interkantonalen Vereinbarung
vom 15. Januar 1996).

    Mit Schreiben vom 22. April 1999 bestätigte der Präsident der
Aufsichtskommission gegenüber dem BWA, dass es die Absicht beider
Kantone gewesen sei, den Vollzug des AVIG vollumfänglich dem RAV zu
übertragen; davon ausgenommen seien lediglich die Kurzarbeits- und
Schlechtwetterentschädigung. Damit oblag der in Art. 2 der Vereinbarung
nicht ausdrücklich aufgeführte - da erst nach deren Inkrafttreten (nach
Zustimmung beider Kantonsparlamente am 29. Februar 1996 [Obwalden]
und am 27. März 1996 [Nidwalden]) ins AVIG aufgenommene - Entzug des
Leistungsanspruchs gemäss Art. 30a Abs. 1 AVIG im Rahmen der Generalklausel
des Art. 2 lit. k der Vereinbarung dem RAV. Dessen Verfügungszuständigkeit
erweist sich daher als rechtens.

Erwägung 4

    4.- a) Das kantonale Gericht anerkannte zwar die vom Versicherten
angeführten Gründe, welche es ihm verunmöglichten, sich am
13. Februar 1997, 24. Juli 1997 und 5. August 1997 beim Leiter des
Beschäftigungsprogramms X für die zugewiesene Stelle zu bewerben;
am 13. Februar 1997 und 5. August 1997 war er krank, am 24. Juli 1997
konnte er seitens der C. AG nicht freigestellt werden. Dessen ungeachtet
kam es zum Schluss, dass dem Beschwerdeführer der Leistungsanspruch
zu Recht entzogen worden sei. Zum einen finde er trotz seiner
Zwischenverdiensttätigkeit von lediglich rund vier Stunden im Tag
keine Zeit, sich für das Beschäftigungsprogramm vorzustellen oder seine
Arbeitskraft für 50% zur Verfügung zu halten. Zum andern gehe aus der
Beschwerde hervor, dass er nach wie vor nicht gewillt und bereit sei,
im Beschäftigungsprogramm X mitzuarbeiten.

    b) Den vorinstanzlichen Erwägungen kann nicht beigepflichtet werden.

    Die vorübergehende Beschäftigung nach Art. 72 Abs. 1 AVIG ist
subsidiärer Natur. Sie kommt erst in Frage, wenn dem Versicherten
keine zumutbare Beschäftigung zugewiesen werden kann und keine
andere arbeitsmarktliche Massnahme angezeigt ist (Art. 72a Abs. 1
AVIG; NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 666). Dabei muss der Versicherte
während der entsprechenden Zeitspanne vermittlungsfähig sein und seine
Arbeitsbemühungen fortsetzen. Denn nicht die Teilnahme an der Massnahme
- die ausgeübten Beschäftigungen liegen grundsätzlich ausserhalb
privatwirtschaftlicher Tätigkeit (NUSSBAUMER, aaO, Rz. 663) -, sondern
die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben geniesst Vorrang (Art. 72 Abs. 1
AVIG). Eine vorübergehende Beschäftigung muss daher in Nachachtung der
in Art. 17 Abs. 1 AVIG statuierten Schadenminderungspflicht jederzeit zu
Gunsten einer Arbeitsstelle beendet werden. Dies gilt auch hinsichtlich
einer zumutbaren Zwischenverdiensttätigkeit, zumal deren Annahme nicht
im Belieben des Versicherten steht (Art. 16 Abs. 1 AVIG unter der
Voraussetzung von Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG [in der seit 1. Januar
1996 bzw. in der Zeit vom 1. Januar 1997 bis 30. November 1997 gemäss
dringlichem Bundesbeschluss vom 13. Dezember 1996 gültigen Fassung;
vom 1. April 1993 bis 31. Dezember 1995: Art. 16 Abs. 1bis AVIG]; BGE
122 V 39 Erw. 4b, 254 Erw. 3e/bb, 114 V 347 f. Erw. 2b; ARV 1998 Nr. 9
S. 47 Erw. 4 in fine). Umgekehrt folgt daraus, dass bei der Ausübung
einer ausgleichsberechtigenden Zwischenverdienstarbeit dieser Priorität
vor einer vorübergehenden Beschäftigung zukommt. Schliesslich ist
der Versicherte verpflichtet, eine lediglich finanziell unzumutbare
Zwischenverdiensttätigkeit beizubehalten, solange ihm keine andere
(Dauer-)Stelle zugesichert ist und ihm ein Verbleiben an der Arbeitsstelle,
an der er Zwischenverdienst erzielt, zugemutet werden kann (ARV 1998 Nr. 9
S. 45 Erw. 2d; nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 26. November 1998
[in Bezug auf den mit Wirkung ab 1. Januar 1996 revidierten Art. 16 AVIG]).

    Für die Vorrangigkeit der Zwischenverdiensttätigkeit spricht aber
auch der Umstand, dass die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm
zwar eine beitragspflichtige Tätigkeit darstellt (Art. 81b Abs. 2
AVIV). Indes kann der Versicherte damit gemäss Änderung des AVIG vom
23. Juni 1995 - im Gegensatz zu einer Zwischenverdienstarbeit - für die
nächste Rahmenfrist keine Beitragszeit erwerben, weil mit Ablauf der
ersten Rahmenfrist der Versicherungsschutz dahinfallen soll (Art. 13
Abs. 2quater AVIG [in Kraft seit 1. Januar 1997]; vgl. die Protokolle
der parlamentarischen Beratung: Amtl.Bull. 1994 N 1567 f. und Amtl.Bull.
1995 S 94); Beschäftigungsprogramme, die innerhalb der Rahmenfrist
durchgeführt werden, bilden nicht mehr Grundlage für neue Taggeldansprüche
in der nachfolgenden Rahmenfrist (NUSSBAUMER, aaO, Rz. 673).

    Dazu kommt, dass eine Zwischenverdiensttätigkeit nicht nur zur Schonung
der von der Versichertengemeinschaft aufgebrachten Mittel beiträgt. Denn
während sich bei der Zwischenverdienstarbeit die Entschädigung nach
dem Prinzip des Verdienstausfalles bemisst (Art. 24 Abs. 2 AVIG), wird
im Rahmen von Beschäftigungsprogrammen für jeden effektiv geleisteten
Arbeitstag das ganze (besondere) Taggeld in der Form des Nettolohnes
ausgerichtet (Art. 81b Abs. 3 AVIV). Vielmehr dient die Ausübung einer
auf die Erzielung eines Zwischenverdienstes gerichteten Tätigkeit auch
der Erhaltung der Arbeitsqualifikation (GERHARDS, Grundriss des neuen
Arbeitslosenversicherungsrechts, Bern 1996, S. 119, N. 111), weist
sie doch in der Regel mehr Nähe zu den beruflichen Fähigkeiten des
Versicherten auf als eine Tätigkeit in einem Beschäftigungsprogramm, was
die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben gezielter zu fördern vermag. Zum
einen liegt die vorübergehende Tätigkeit wegen des Verbots der direkten
Konkurrenzierung der Privatwirtschaft vor allem im Bereich Umweltschutz
und Gesundheitswesen (Amtl.Bull. 1995 S 111 f.): z.B. Bau von Radwegen,
Waldsäuberungen, Alpmeliorationen, Markierungen von Wanderwegen, Erstellen
von Fotoarchiven, Sozialdienst in Altersheimen oder Räumungsarbeiten
nach Überschwemmungen (vgl. Beilage 2 zu Teil G des Kreisschreibens über
die arbeitsmarktlichen Massnahmen, gültig ab 1. Juni 1997). Zum andern
gelten für die Zuweisung einer vorübergehenden Beschäftigung herabgesetzte
Anforderungen an die Zumutbarkeit, muss die Arbeit doch nur dem Alter,
den persönlichen Verhältnissen und dem Gesundheitszustand des Versicherten
angemessen sein (Art. 72a Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2
lit. c AVIG).

    Überdies haben Versicherte, welche einen Zwischenverdienst erzielen,
erhöhte Chancen auf ein baldiges Ende ihrer Arbeitslosigkeit, besteht doch
bei ihnen die Möglichkeit, dass sie auf Grund ihres Wirkungsbereiches -
wie hier in Aussicht gestellt wird - innerhalb des Betriebes, bei welchem
sie die Zwischenverdiensttätigkeit ausüben, eine zur Beendigung der
Arbeitslosigkeit führende (Vollzeit-)Stelle erhalten.

    c) Bei dieser Rechts- und Sachlage blieb im vorliegenden Fall seit März
1997 kein Raum, dem Beschwerdeführer eine vorübergehende Beschäftigung
zuzuweisen. Sein Verhalten gegenüber dem Beschäftigungsprogramm X ist
ihm deshalb nicht vorzuwerfen. Der verfügte, vorinstanzlich bestätigte
Leistungsentzug widerspricht dem Bundesrecht. Ob der Beschwerdeführer sonst
die Voraussetzungen der Anspruchsberechtigung ab 5. August 1997 erfüllt,
ist nicht in diesem Verfahren zu prüfen.