Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 345



125 V 345

54. Urteil vom 12. April 1999 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen W. und Verwaltungsgericht des Kantons
Schwyz Regeste

    Art. 106 Abs. 1, Art. 110 UVG: Einrede der Rechtshängigkeit
(Litispendenz). Tritt die kantonale Rechtsmittelinstanz auf die
Beschwerde gegen einen Einspracheentscheid wegen Formmangels nicht ein
und wird dieser Nichteintretensentscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ans Eidg. Verwaltungsgericht weitergezogen, bleibt die Rechtshängigkeit
bis zum Erlass des letztinstanzlichen Urteils bestehen, mit der Folge,
dass eine zweite, nunmehr formgerechte Beschwerde gegen den nämlichen
Einspracheentscheid auch dann nicht mehr zulässig ist, wenn die
Rechtsmittelfrist noch läuft.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 5. Juli 1995 stellte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) die Leistungen an die am 11. Juli 1993
verunfallte W. auf den 9. Juli 1995 ein, woran sie mit Einspracheentscheid
vom 21. August 1997 festhielt. Auf die hiegegen erhobene Beschwerde trat
das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 5. November
1997 androhungsgemäss nicht ein, nachdem der Rechtsvertreter, Rechtsanwalt
S., innert angesetzter Frist die ungebührliche Äusserungen enthaltende
Beschwerdeschrift vom 16. Oktober 1997 nicht verbessert hatte, und
auferlegte Rechtsanwalt S. eine Ordnungsbusse von 400 Franken. Die
hiegegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde (vom 19. Dezember 1997)
wies das Eidg. Versicherungsgericht mit Urteil vom 15. Mai 1998 ab,
soweit darauf einzutreten war. In Erw. 5 hielt es fest, die Frage, ob
die Vorinstanz die zweite, vom Rechtsvertreter bei ihr (am 20. November
1997) eingereichte Beschwerde in gleicher Sache materiell zu prüfen habe,
sei nicht im vorliegenden Prozess zu entscheiden.

    B.- Mit Entscheid vom 30. September 1998 trat das Verwaltungsgericht
auf die zweite Beschwerde vom 20. November 1997 ein, hiess diese gut,
hob den Einspracheentscheid vom 21. August 1997 auf und hielt fest,
dass die SUVA über den 9. Juli 1995 hinaus die gesetzlichen Leistungen
zu erbringen habe.

    C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Weiter wird beantragt, es
sei festzustellen, dass die Eingaben der Gegenpartei vom 20. November
1997 und insbesondere auch jene vom 17. September 1998 den prozessualen
Anstand verletzen, weshalb die Vorinstanz zur Ausfällung einer angemessenen
Ordnungsbusse anzuweisen sei.

    W. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während das Verwaltungsgericht auf eine Vernehmlassung verzichtet und
sich das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) nicht vernehmen lässt.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach ständiger Rechtsprechung prüft das
Eidg. Versicherungsgericht von Amtes wegen die formellen
Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage,
ob die Vorinstanz zu Recht auf eine Beschwerde oder Klage eingetreten
ist. Dies gilt auch für die so genannte negative Prozessvoraussetzung,
d.h. die Berücksichtigung einer bereits anderweitig rechtshängig
gemachten oder einer rechtskräftig entschiedenen Streitsache (GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 72 f.). Hat die Vorinstanz
übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte, und hat sie
materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu
berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufzuheben
ist, verbunden mit der Feststellung, dass auf das Rechtsmittel mangels
Prozessvoraussetzung nicht eingetreten werden kann (BGE 122 V 322 Erw. 1
und 329 Erw. 5; SVR 1998 ALV Nr. 12 S. 37 Erw. 2).

    b) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die materielle
Rechtskraft, d.h. die Verbindlichkeit eines Urteils für spätere Prozesse,
eine Frage des Bundesrechts, sofern der zu beurteilende Anspruch
darauf beruht (BGE 121 III 476 f. Erw. 2 mit Hinweisen). Soweit es
einen bundesrechtlichen Anspruch vor einem widersprüchlichen Urteil zu
schützen gilt, muss Bundesrecht auch darüber befinden, ob und inwieweit
es die Einrede der Rechtshängigkeit zulassen will (BGE 114 II 186
Erw. 2a). Diese im Zivilrecht entwickelten Grundsätze gelten analog auch
im Verwaltungsrecht.

Erwägung 2

    2.- Streitig ist zunächst, ob die Vorinstanz zu Recht auf die
Beschwerde vom 20. November 1997 eingetreten ist.

    a) Es steht fest, dass die Beschwerdegegnerin gegen den
Einspracheentscheid vom 21. August 1997 innert der dreimonatigen
Beschwerdefrist (Art. 106 Abs. 1 UVG) sowohl am 16. Oktober 1997 als
auch am 20. November 1997 bei der Vorinstanz je eine Beschwerdeschrift
einreichen liess.

    Auf die erste Beschwerde trat das kantonale Gericht mit Entscheid
vom 5. November 1997 androhungsgemäss nicht ein, nachdem der
Rechtsvertreter sich ausdrücklich geweigert hatte, die ungebührliche
Äusserungen enthaltende Beschwerdeschrift vom 16. Oktober 1997 innert
der bis 28. Oktober 1997 angesetzten Frist zu verbessern. Die hiegegen
erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Eidg. Versicherungsgericht
mit Urteil vom 15. Mai 1998 ab, soweit darauf einzutreten war.

    Unmittelbar nach Zustellung des Nichteintretensentscheides vom
5. November 1997 liess die Beschwerdegegnerin am 20. November bei
der Vorinstanz eine zweite Beschwerdeschrift einreichen, in der
die beanstandeten Passagen wohl grösstenteils eingeschwärzt waren,
ansonsten diese Eingabe mit jener vom 16. Oktober 1997 inhaltlich
übereinstimmte. Die SUVA erhob unter anderem die Einrede der res iudicata,
welche das kantonale Gericht im Wesentlichen mit der Begründung abwies,
im Nichteintretensentscheid vom 5. November 1997 sei nicht materiell über
die angefochtene Verfügung und den angefochtenen Einspracheentscheid
entschieden, sondern lediglich ein Prozessurteil gefällt worden. Ein
solches entfalte Rechtswirkung lediglich insoweit, als es zu (fehlenden)
Prozess- oder Sachurteilsvoraussetzungen Stellung genommen habe.
Vorliegend wirke sich der formell und materiell rechtskräftige
Nichteintretensentscheid dahingehend aus, dass die Beschwerde nicht mehr
in der als fehlerhaft beurteilten Form eingeleitet werden könne. Sofern -
was im vorliegenden Fall zu bejahen sei - die Rechtsmittelfrist noch nicht
abgelaufen sei, stehe einer weiteren - formgerechten - Beschwerdeerhebung
das Prozessurteil nicht entgegen.

    b) aa) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hängt die strittige
Eintretensfrage nicht davon ab, inwieweit ihrem Nichteintretensentscheid
formelle oder materielle Rechtskraft beizumessen ist. Sie übersieht
nämlich, dass der Prozessentscheid vom 5. November 1997 nicht in
Rechtskraft erwachsen ist, wurde er doch fristgerecht (Art. 106 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 132 OG) mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim
Eidg. Versicherungsgericht angefochten. Nach einem allgemeinen prozessualen
Grundsatz kommt der Verwaltungsgerichtsbeschwerde als ordentlichem
Rechtsmittel Devolutiveffekt zu. Das bedeutet, dass mit Einlegung
des Rechtsmittels die Streitsache an die funktionell übergeordnete
Rechtsmittelinstanz geht. Die obere Instanz wird damit zuständig, sich
mit der Angelegenheit zu befassen; auf der anderen Seite verliert die
Vorinstanz mit der Überwälzung der Zuständigkeit die Befugnis, sich der
Sache als Rechtspflegeinstanz anzunehmen, beispielsweise ihren Entscheid in
Ansehung der Rechtsmittelvorbringen zu ändern (GYGI, aaO, S. 189; vgl. auch
KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes,
2. Aufl., S. 146 Rz. 398, S. 236 Rz. 660 und S. 341 Rz. 963; SALADIN,
Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, S. 204 f., Ziff. 22.1).

    bb) Weiter zu beachten gilt es, dass die Einlegung einer Beschwerde
(oder Klage) die Rechtshängigkeit der Sache begründet. Sie bewirkt,
dass sich die angerufene Instanz mit der Sache zu befassen hat. Die
Rechtshängigkeit schliesst auch aus, dass die gleiche Streitsache
gleichzeitig durch eine andere Instanz beurteilt werden darf (Einrede
der Rechtshängigkeit). Die Rechtshängigkeit endet mit dem Urteil oder
dem Erledigungsbeschluss (GYGI, aaO, S. 189).

    cc) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 19. Dezember 1997, welche
nach dem Gesagten den Devolutiveffekt entfaltete und dem kantonalen Gericht
die Rechtsprechungszuständigkeit in dieser Sache entzog, wies das Eidg.
Versicherungsgericht am 15. Mai 1998 mit einem Sachurteil formell
und materiell rechtskräftig ab (Art. 135 in Verbindung mit Art. 38
OG). Die Rechtshängigkeit auf Grund der Beschwerde vom 16. Oktober
1997, die mit der Ergreifung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vom 19. Dezember 1997 als dem ordentlichen Rechtsmittel gegen den
Nichteintretensentscheid vom 5. November 1997 bestehen blieb, endete erst
mit dem verfahrensabschliessenden letztinstanzlichen Urteil vom 15. Mai
1998 (vgl. GYGI, aaO, S. 322). Damit steht fest, dass die Beschwerde vom
20. November 1997 zu einem Zeitpunkt erhoben wurde, als noch die durch
die erste Beschwerde vom 16. Oktober 1997 begründete Rechtshängigkeit
bestand. Da die Beschwerden inhaltlich identisch waren, hätte die
Vorinstanz nach dem Gesagten auf die zweite Beschwerde nicht eintreten
dürfen, weil die Litispendenz von Amtes wegen zu berücksichtigen ist. Daran
ändert nichts, dass im ersten Verfahren - vorerst - nur die Eintretensfrage
beurteilt wurde. Die Identität der beiden Rechtsmittel ergibt sich hier
auch daraus, dass die zweite Beschwerde gegenstandslos geworden wäre,
wenn das Eidg. Versicherungsgericht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegen den Nichteintretensentscheid vom 5. November 1997 gutgeheissen hätte.

    c) Anders als eine fehlerhafte (zivilrechtliche) Klage, die
nach einem zurückweisenden Prozessurteil - sofern inzwischen keine
Klagefrist abgelaufen ist - jederzeit wieder neu erhoben werden kann
(vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 238,
Anm. 49c), scheidet diese Möglichkeit bei einem fehlerhaften Rechtsmittel
im Anfechtungsstreitverfahren der fristgebundenen Beschwerde von vornherein
aus, da der Entscheid, mit dem auf ein Rechtsmittel nicht eingetreten wird,
in aller Regel erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ergeht. Obgleich
einem Nichteintretensentscheid Verbindlichkeitswirkung wohl lediglich
in Bezug auf die fehlenden Prozess- oder Sachurteilsvoraussetzungen
zukommt (vgl. GYGI, aaO, S. 324), scheidet eine zweite prozessual
zulässige Beschwerde gegen die nämliche Verfügung (oder den gleichen
Einspracheentscheid) schon deswegen aus, weil nicht mehr rechtzeitig
Beschwerde eingereicht werden kann, das Anfechtungsrecht mithin verwirkt
ist.

    Dass im vorliegenden Fall das kantonale Gericht den
Nichteintretensentscheid sehr rasch noch vor Ablauf der dreimonatigen
Rechtsmittelfrist fällte, vermag sich vorliegend indessen nicht zu
Gunsten der Beschwerdegegnerin auszuwirken, da die durch die erste
Beschwerde begründete Litispendenz in Verbindung mit dem Devolutiveffekt
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 19. Dezember 1997 ein weiteres
Rechtsmittel ausschliesst (vgl. Erw. 2b/cc). Ob auf die zweite
Beschwerde einzutreten gewesen wäre, wenn die Beschwerdegegnerin
den Nichteintretensentscheid vom 5. November 1997 nicht ans
Eidg. Versicherungsgericht weitergezogen hätte, die Beschwerdeerhebung
damit nach Beendigung der Rechtshängigkeit der ersten Beschwerde erfolgt
wäre, kann offen bleiben, da sich der Sachverhalt nicht derart darstellt.

Erwägung 3

    3.- Hätte die Vorinstanz auf die Beschwerde vom 20. November 1997
bereits nach dem in Erw. 2 Dargelegten nicht eintreten dürfen, erweist
sich die Prüfung der Frage, ob jene Rechtsschrift sowie die Eingabe vom
17. September 1998 den prozessualen Anstand verletzen, als überflüssig.