Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 32



125 V 32

5. Auszug aus dem Urteil vom 5. Januar 1999 i.S. S. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 4 Abs. 1 BV; Art. 105 Abs. 1 UVG: Unentgeltliche Verbeiständung im
Verwaltungsverfahren. Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung hängt
weder entscheidend davon ab, ob ein Verfahren streitige Elemente enthält,
noch lässt er sich unter Berücksichtigung der jeweiligen Verfahrensordnung
generell zeitlich beschränken (Präzisierung der Rechtsprechung in BGE
117 V 408 und 114 V 234 Erw. 5). Für das an den Einspracheentscheid
anschliessende Verwaltungsverfahren der Unfallversicherung besteht
grundsätzlich ein unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung.

Sachverhalt

    A.- S. (geb. 1958) erlitt am 15. November 1992 einen Verkehrsunfall.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), bei der er
obligatorisch gegen Unfall und Berufskrankheit versichert war, erbrachte
zunächst die gesetzlichen Leistungen. Mit Verfügung vom 28. Januar 1994
stellte sie die Taggeld- und Heilkostenleistungen auf den 13. Dezember
1993 bzw. auf Ende Januar 1994 ein. Zudem lehnte sie die Ausrichtung
einer Invalidenrente ab. Dagegen sprach die SUVA dem Versicherten mit
Verfügung vom 1. Februar 1994 eine Integritätsentschädigung von 15% zu.

    Auf Einsprache hin hob die SUVA die Verfügungen insoweit auf,
als weitere Versicherungsleistungen für die Folgen des bestehenden
psychischen Beschwerdebildes abgelehnt worden waren, und übernahm
die Kosten der psychotherapeutischen Behandlung des Versicherten. Für
das Einspracheverfahren wurde die unentgeltliche Verbeiständung durch
Rechtsanwalt P. gewährt (Entscheid vom 5. August 1994).

    Am 8. Dezember 1994 liess S. beantragen, es seien ihm rückwirkend
ab 13. Dezember 1993 und weiterhin volle Taggelder zu bezahlen, eventuell
sei ihm eine volle Rente zuzusprechen, sowie Rechtsanwalt P. sei als
unentgeltlicher Rechtsvertreter einzusetzen und zu entschädigen. Nachdem
die Kreisagentur R. am 19. Dezember 1994 einen Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung verneint hatte, trat die Sektion Einsprachen der SUVA mit
Verfügung vom 4. Januar 1995 auf ein gleich lautendes Gesuch nicht ein.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. Mai
1997 unter Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das kantonale
Verfahren ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. beantragen, in Aufhebung
des kantonalen Entscheides und der Verfügung vom 4. Januar 1995 sei die
SUVA zu verpflichten, ihm die unentgeltliche Verbeiständung für die Zeit
nach dem Einspracheentscheid vom 5. August 1994 bis zur Erledigung des
Rentenverfahrens zu gewähren.

    Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer für
das an den Einspracheentscheid anschliessende Verwaltungsverfahren der
Unfallversicherung Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung hat.

    b) Da es sich beim angefochtenen Entscheid nicht um die Bewilligung
oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidg.
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung besteht im Einspracheverfahren
gemäss Art. 105 Abs. 1 UVG, welches wie das Anhörungsverfahren der
Invalidenversicherung Elemente eines streitigen Verfahrens aufweist,
ein unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung. Dabei ist bei der Prüfung der sachlichen Voraussetzungen
(Bedürftigkeit, fehlende Aussichtslosigkeit, erhebliche Tragweite der
Sache, Schwierigkeit der aufgeworfenen Fragen, mangelnde Rechtskenntnisse
des Versicherten) ein strenger Massstab anzulegen. Hohe Anforderungen sind
insbesondere an die Notwendigkeit der Verbeiständung zu stellen. Eine
anwaltliche Mitwirkung drängt sich nur in Ausnahmefällen auf, wenn
schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig
erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter,
Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen
nicht in Betracht fällt (BGE 117 V 408 Erw. 5a, 114 V 235 Erw. 5b).

    Zusätzlich zu diesen engen sachlichen Voraussetzungen ist der Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung auch zeitlich begrenzt. Bei Eingang
des Leistungsgesuches bzw. bei Beginn des Verwaltungsverfahrens ist in
der Regel noch völlig ungewiss, welche Leistungen überhaupt in Betracht
fallen. Es können somit in diesem Verfahrensstadium regelmässig noch keine
Verfahrensaussichten festgestellt werden (BGE 114 V 236 Erw. 5b). Beachtet
werden diese zeitlichen Schranken, wenn der Anspruch frühestens ab Beginn
des Einspracheverfahrens geltend gemacht wird (BGE 117 V 410 Erw. 5b).

Erwägung 4

    4.- a) Seit BGE 112 Ia 14 anerkennt das Schweizerische Bundesgericht
einen unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Anspruch der bedürftigen Partei
auf unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren der Verwaltungsbeschwerde
und Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Unter Hinweis auf BGE 114 V 228
hat es diesen Rechtsschutz auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren
ausgedehnt, zunächst auf das Verfahren um strafrechtliche Rückversetzung
in den Massnahmenvollzug (BGE 117 Ia 277), sodann auf Verfahren des
Zwangsvollstreckungsrechts wie das Konkursbegehren des Schuldners durch
Insolvenzerklärung (BGE 118 III 27) oder jenes des vorschusspflichtigen
Gläubigers (BGE 118 III 33). Gemäss BGE 119 Ia 265 Erw. 3a und seither
ständiger Rechtsprechung besteht der Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege unabhängig von der Rechtsnatur der Entscheidungsgrundlagen
für jedes staatliche Verfahren, in welches der Gesuchsteller einbezogen
wird oder dessen er zur Wahrung seiner Rechte bedarf (BGE 123 I 146
Erw. 2b/aa; 122 I 271 Erw. 2a; 121 I 62 Erw. 2a/bb, 315 Erw. 2b; 119 Ia
265 Erw. 3a, je mit Hinweisen). Unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV ist
das Armenrecht nicht von vornherein für bestimmte Verfahrensarten generell
ausgeschlossen (BGE 121 I 315 Erw. 2b; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 134 Rz. 373;
RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungsrecht
des Bundes, Basel/Frankfurt am Main 1996, S. 54 N. 254; BÜHLER, Die neuere
Rechtsprechung im Bereich der unentgeltlichen Rechtspflege, in: SJZ 94/1998
S. 226; KLEY-STRULLER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege:
Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 4 Abs. 1 BV und
der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention zu Art. 6 EMRK, in:
AJP 1995 S. 179 ff., insbesondere S. 186 f.; FORSTER, Der Anspruch auf
unentgeltliche Rechtsverbeiständung in der neueren bundesgerichtlichen
Rechtsprechung, in: ZBl 93/1992 S. 463 ff.; vgl. dagegen MEYER-BLASER,
Die Bedeutung von Art. 4 BV für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR
111/1992, II. Halbband, S. 439 ff.).

    b) Der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltliche anwaltliche
Verbeiständung besteht jedoch nicht voraussetzungslos. Verlangt ist in
jedem Falle Bedürftigkeit des Rechtsuchenden und Nichtaussichtslosigkeit
des verfolgten Verfahrensziels. Entscheidend ist darüber hinaus
die sachliche Gebotenheit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im
konkreten Fall (BGE 119 Ia 265 Erw. 3b, 117 V 408 Erw. 5a, 114 V 235 Erw. 5
b). Es sind die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren
Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens
zu berücksichtigen. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und
der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen
liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren
zurechtzufinden (SCHWANDER, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495).
Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen
droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss,
wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche
Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine
gestellt nicht gewachsen ist (BGE 119 Ia 265 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b;
BÜHLER, aaO, S. 226).

    Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen,
dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem
Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist,
an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE
119 Ia 266 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b/bb; SCHWANDER, aaO, S. 495). Die
Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter
denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist,
einen strengen Massstab anzulegen (BGE 122 I 10 Erw. 2c mit Hinweisen,
114 V 235 Erw. 5b).

    c) Im Lichte der seit BGE 114 V 228 und 117 V 408 ergangenen
Rechtsprechung kann die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht
entscheidend davon abhängen, ob ein Verfahren streitige Elemente aufweist
(MOOR, Droit administratif, Bd. II, 1991, S. 195 f.). Der Anspruch
lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung der jeweils anwendbaren
Verfahrensordnung generell zeitlich beschränken (KNAPP, Précis de
droit administratif, 4. Aufl., S. 158 Nr. 721; KIESER, Unentgeltliche
Rechtsverbeiständung und Parteientschädigung, in: Verfahrensfragen in
der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 216 f.).

    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein aus Art. 4 Abs. 1 BV
abgeleiteter Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung auch für das
an den Einspracheentscheid anschliessende Verwaltungsverfahren der
Unfallversicherung grundsätzlich zu bejahen ist. Die Kernfunktion der
unentgeltlichen Verbeiständung verlangt, dem bedürftigen Gesuchsteller
die zweckdienliche Wahrung seiner Ansprüche auch im Verwaltungsverfahren
der Sozialversicherung unter den durch die Rechtsprechung geschaffenen,
vorstehend umschriebenen Voraussetzungen zu ermöglichen.