Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 312



125 V 312

49. Urteil vom 6. Mai 1999 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen F. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 39 UVG; Art. 50 UVV: Canyoning. Das Canyoning, bei dem versucht
wird, stets dem Weg des Baches am oder im Wasser folgend eine Schlucht der
Länge nach zu durchschreiten, stellt bei einem Schwierigkeitsgrad von C2
(mässig schwierig) kein absolutes Wagnis dar; relatives Wagnis unter den
konkret zu berücksichtigenden Umständen ebenfalls verneint.

Sachverhalt

    A.- Der 1952 geborene F. ist seit Februar 1978 bei der Firma
G. AG, einem der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
unterstellten Betrieb, als Carrosseriespengler tätig und gestützt auf
dieses Arbeitsverhältnis obligatorisch gegen Unfall versichert. Am 16. Juli
1994 rutschte er beim so genannten Canyoning in der Schlucht des Riale di
Mulitt im Centovalli/TI beim Überqueren eines Baches aus und fiel in die
Tiefe, wobei er sich eine Torsionsfraktur der linken Tibia zuzog. Die SUVA
anerkannte grundsätzlich ihre Leistungspflicht, kürzte jedoch mit Verfügung
vom 5. Oktober 1994 die Geldleistungen wegen Vorliegens eines Wagnisses um
50%. Nachdem das Versicherungsgericht des Kantons Aargau am 5. Juli 1995
einen ersten ablehnenden Einspracheentscheid vom 12. Januar 1995 aufgehoben
und die Sache zu ergänzenden Abklärungen an die SUVA zurückgewiesen hatte,
hielt die Anstalt an ihrem Standpunkt am 24. Mai 1996 verfügungsweise und,
auf erneute Einsprache hin, mit Entscheid vom 28. Januar 1997 fest.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 15. Oktober 1997 gut und wies die
SUVA an, F. ungekürzte Versicherungsleistungen auszurichten.

    C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Kürzung der Geldleistungen
um 50% zu bestätigen.

    F. schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung beantragt.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen zum Begriff
des Wagnisses (Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 UVV), welcher
mit jenem identisch ist, der unter der Herrschaft des bis 31. Dezember
1983 in Kraft gestandenen KUVG gültig war, sowie die dazu entwickelte
Rechtsprechung, welche zwischen absoluten und relativen Wagnissen
unterscheidet (BGE 112 V 47 Erw. 2a und 300 Erw. 1b, je mit Hinweisen;
siehe auch BGE 113 V 223 Erw. 3c und SVR 1997 UV Nr. 81 S. 294 Erw. 3a),
zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.

Erwägung 2

    2.- Das Canyoning, bei dem versucht wird, stets dem Weg des Baches
am oder im Wasser folgend eine Schlucht der Länge nach zu durchschreiten
(vgl. WINKLER & SPILKER, Basiswissen für Draussen, Canyoning, S. 7),
birgt, worauf die SUVA zu Recht hinweist, zahlreiche Gefahren. Vor
allem im Hinblick darauf, dass aus mehr oder weniger grosser Höhe in
Bäche gesprungen wird, deren Grund sich einerseits verändert (Geschiebe,
Steine, Äste etc.) und andererseits allenfalls beim Springen nicht oder
jedenfalls nicht deutlich gesehen werden kann, handelt es sich klarerweise
um eine gefährliche Sportart, was im Übrigen auch vom Beschwerdegegner
anerkannt wird. Dessen ungeachtet ist entgegen der Ansicht der SUVA nicht
von vornherein von einem absoluten Wagnis auszugehen.

    a) Nach der Rechtsprechung zu verschiedenen gefährlichen Sportarten
gelten zunächst solche als absolute Wagnisse, die wettkampfmässig
betrieben werden und bei denen es auf die Geschwindigkeit ankommt
(Motocross-Rennen: RKUV 1991 Nr. U 127 S. 221; Auto-Bergrennen: BGE 113
V 222, 112 V 44; Karting-Rennen: nicht veröffentlichtes Urteil N. vom
4. November 1964). Im Weitern gelten Boxwettkämpfe als absolutes Wagnis,
da die Angriffe direkt auf den Körper zielen (EVGE 1962 S. 280). Die
Ausübung anderer Sportarten kann je nach Beeinflussbarkeit des Risikos
einmal ein absolutes, ein andermal - bei weiteren gegebenen Umständen -
ein relatives Wagnis darstellen (Auto-Rallye: BGE 106 V 45; Deltasegeln:
BGE 104 V 19, nicht veröffentlichte Urteile J. vom 1. Juli 1980 und D. vom
27. September 1978; Höhlentauchen: BGE 96 V 100; Klettern: BGE 97 V 72 und
86; Pneuschlitteln: nicht veröffentlichtes Urteil C. vom 8. April 1999).

    b) Insoweit Canyoning nicht wettkampfmässig und auf Geschwindigkeit
betrieben wird, stellt im Lichte der in Erw. 2a dargelegten Rechtsprechung
nicht jede Form der Ausübung dieses Sports ein absolutes Wagnis dar. Als
ungeeignet für die Abgrenzung ist dabei die von der Vorinstanz gewählte
Unterteilung in "schwimmendes" (absolutes Wagnis) und "technisches"
(relatives Wagnis) Canyoning zu bezeichnen, da einerseits die
entsprechenden Übergänge fliessend sind und andererseits eine Tour in
der Regel eine Mischform der beiden Varianten darstellt, worauf die SUVA
und das BSV zu Recht hinweisen. Auch würde eine solche Unterteilung
unberücksichtigt lassen, dass auch bei einem "schwimmenden" Canyoning
die Risiken mit entsprechenden Massnahmen (Einhaltung der elementaren
Grundregeln wie Verzicht auf Sprünge ins unbekannte Wasser und auf
Schwimmen bei zu grosser Wassermenge) auf ein annehmbares Mass gesenkt
werden können, während demgegenüber auch beim "technischen" Canyoning ein
absolutes Wagnis nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Vielmehr ist
wie beim Bergsteigen (vgl. BGE 97 V 79 Erw. 3 unten) zunächst zu prüfen,
ob die konkrete Tour a priori ein Wagnis an sich sei und bei Verneinung
dieser Frage weiter, ob nach den konkreten Umständen des Einzelfalles
ein relatives Wagnis vorliege.

Erwägung 3

    3.- a) Es ist unbestritten, dass die erste Etappe der Tour im Riale
di Mulitt - in dem sich der Unfall ereignete - oft auch von Gruppen
begangen wird. In der entsprechenden Fachliteratur wird diese Tour
ausführlich beschrieben (ZAUNHUBER, Canyoning, Bergsport im Wasser,
S. 55 ff.) und insgesamt als nicht besonders gefährlich bezeichnet;
in der von C1 (unschwierig) bis C6 (extrem schwierig) reichenden
Skala wird ihr ein Schwierigkeitsgrad von C2 (mässig schwierig)
zugeordnet. Diesen Schwierigkeitsgrad weist eine Canyonwanderung mit
leichteren Kletterstellen, Sprüngen bis zu 3 Metern Höhe und vereinzelt
flotten Strömungen auf; eine solche ist von sportlichen Einsteigern
begehbar (ZAUNHUBER, aaO, S. 100). Ein absolutes Wagnis stellt
die Begehung des ersten Abschnittes dieser Tour somit nicht dar. Der
Wagnischarakter von Touren mit höherem Schwierigkeitsgrad kann vorliegend
offen gelassen werden. Auch ist der schützenswerte Charakter einer solchen
sportlichen Betätigung zu bejahen, sind doch die Gemeinsamkeiten mit
dem nach der Rechtsprechung als schützenswert geltenden Bergsteigen und
Klettersport (BGE 97 V 79 Erw. 3) augenfällig und liesse sich deshalb
eine unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigen.

    b) Demnach bleibt zu prüfen, ob die konkreten Umstände - im
Besonderen die Wetterverhältnisse, der Wasserstand, die Ausrüstung
sowie die Ausbildung und Erfahrung des Beschwerdegegners - den objektiv
vorhandenen Risiken und Gefahren angemessen waren, damit diese auf ein
vertretbares Mass herabgesetzt wurden.

    aa) Am 16. Juli 1994 war das Wetter für eine derartige Tour gut und der
Bach führte sehr wenig Wasser. Ebenso gaben Ausrüstung und Material der
Gruppe zu keinerlei Beanstandungen Anlass. Der Beschwerdegegner verfügte
als Trekkingteamleiter auch über grosse Erfahrung im Canyoning und war
u.a. von D., einem berufsmässigen Führer begleitet. Die Gruppe war somit
für die konkrete - mässig schwierige - Tour bestens qualifiziert sowie
ausgerüstet, und es herrschten gute äussere Bedingungen. Bei diesen
Verhältnissen liegt auch kein relatives Wagnis vor. Daran ändert der
Umstand nichts, dass die Gruppe am Unfalltag die Schlucht auskundschaften
und für geführte Touren (weiter) einrichten oder die bestehenden
Einrichtungen überprüfen wollte, war doch die Tour den Sportlern bestens
bekannt und erhöhte sich dadurch der Schwierigkeitsgrad nicht.

    bb) Schliesslich ergibt sich allein aus dem Umstand, dass der
Beschwerdegegner an der Unfallstelle beim Überqueren des Baches auf dem
glitschigen Untergrund ausgerutscht und in die Tiefe gestürzt ist, nichts
Abweichendes. Denn daraus kann nicht geschlossen werden, diese Stelle
sei besonders gefährlich gewesen und der Beschwerdegegner sei durch die
unterlassene Sicherung mittels Seil ein Wagnis eingegangen. Insbesondere
war der Gruppe durchaus bewusst, dass ein Überwinden der Klippe nur
mittels Abseilen erfolgen konnte. Übereinstimmend gaben der Versicherte und
D. bei der Befragung durch die SUVA zu Protokoll, dass sie an geeignetem
Ort eine Abseilstelle einrichten wollten. Ob der Beschwerdegegner erst
beim Einhängen des Seiles ausrutschte, wie die Auskunftsperson darlegt,
oder gemäss eigener Aussage bereits beim Überqueren des Baches an einer
flachen Stelle, als er zu einer Abseilstelle gelangen wollte, kann
offen bleiben. So oder anders rutschte er nicht beim Versuch aus, die
als nur durch Abseilen überwindbar erkannte Stelle frei kletternd oder
springend zu passieren, sondern bei der Vorbereitung der erforderlichen
Abseilvorrichtung. Der erfahrene Beschwerdegegner hat die konkrete
örtliche Situation, um zur Abseilvorrichtung zu gelangen oder eine solche
ausfindig zu machen, als ungefährlich eingeschätzt und ein Sichern am Seil
für entbehrlich gehalten. Das hat sich im Nachhinein als unzutreffend
erwiesen, lässt aber nicht den Schluss zu, er habe leichtsinnig oder
gar verwegen gehandelt. Es finden sich auch keine Anhaltspunkte in den
Akten, wonach der Sicherungsversuch im Rahmen der gesamten Tour etwas
Aussergewöhnliches gewesen wäre, weshalb dieser einzelne Handlungsabschnitt
im Rahmen der Wagnisbeurteilung ohnehin nicht gesondert zu betrachten ist
(vgl. BGE 97 V 83 f. Erw. 6a).

    c) Da nach dem Gesagten der zum Unfall führenden Canyoning-Tour
der Wagnischarakter fehlt, ist der angefochtene Entscheid im Ergebnis
zu bestätigen.