Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 361



125 I 361

33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22.
Juni 1999 i.S. K. gegen Bezirksanwaltschaft Bülach und Bezirksgericht
Bülach (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit; § 58 Abs. 2 des zürcherischen Gesetzes betreffend
den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH).

    Anforderungen an die gesetzliche Grundlage des Haftgrundes der
Wiederholungsgefahr im Allgemeinen (E. 4a).

    Der Haftgrund der Ausführungsgefahr bei dringendem Verdacht eines
in strafbarer Weise versuchten oder vorbereiteten Verbrechens nach §
58 Abs. 2 StPO/ZH darf - in den gebotenen engen Grenzen - auch bei in
Bezug auf die Begründung der Gefahr der Ausführung eines Verbrechens
in jeder Hinsicht vergleichbaren Anlasstaten (hier Tötungsdrohungen)
angewendet werden (E. 4b und c).

    Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme der Ausführungsgefahr (E. 5).

    Dauer der Untersuchungshaft (E. 6).

Sachverhalt

    K. wurde am 23. April 1999 wegen des Verdachts, gegenüber seinen
Schwiegereltern am 15. und 21. April 1999 telefonisch die Tötung
verschiedener Familienangehöriger angedroht zu haben, sowie wegen
Kollusionsgefahr festgenommen und auf Antrag der Bezirksanwaltschaft
Bülach vom Haftrichter des Bezirks Bülach am 26. April 1999 in
Untersuchungshaft versetzt. Am 10. Mai 1999 ersuchte K. um Entlassung
aus der Untersuchungshaft. Der Haftrichter des Bezirks Bülach wies
diesen Antrag am 14. Mai 1999 mit der Begründung ab, es bestehe aufgrund
verschiedener Vorfälle sowie der momentanen Lebenssituation von K. der
dringende Verdacht, dieser würde, in Freiheit belassen, die gegenüber
seinen Schwiegereltern im April 1999 geäusserten Drohungen in die Tat
umsetzen; gleichzeitig befristete der Haftrichter die Untersuchungshaft
einstweilen bis zum 30. Juni 1999.

    Gegen die Verfügung des Haftrichters führt K. staatsrechtliche
Beschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen
Verfügung sowie die Anordnung der unverzüglichen Haftentlassung. Zur
Begründung beruft er sich auf das Grundrecht der persönlichen Freiheit
sowie auf Art. 4 BV und macht geltend, die Voraussetzungen für die
Aufrechterhaltung der Haft wegen Ausführungsgefahr seien nicht gegeben.

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit
es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Nach § 58 Abs. 2 des zürcherischen Gesetzes betreffend den
Strafprozess vom 4. Mai 1919 (Strafprozessordnung, StPO/ZH) ist die
Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der
Angeschuldigte dringend verdächtigt wird, ein Verbrechen in strafbarer
Weise versucht oder vorbereitet zu haben, und wenn aufgrund bestimmter
Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, er werde die Tat ausführen.

    b) Der Haftrichter erwog in der angefochtenen Verfügung, die
telefonischen Drohungen, wonach der Beschwerdeführer sich selbst, seine
Frau und seine Kinder sowie seine Schwiegereltern töten werde, seien
nicht bestritten und müssten aufgrund der konkreten Lebensumstände des
Beschwerdeführers ernst genommen werden. Dieser lebe von seiner Frau,
die sich gegen seinen Willen von ihm scheiden lassen wolle, seit August
1998 getrennt. Damals hätte ihn die Frau zusammen mit den Kindern nach
einer heftigen Auseinandersetzung verlassen, in deren Verlauf er den Kopf
seiner Frau an die Wand geschlagen und sie mit einem Fleischmesser bedroht
haben soll. Weiter habe der Beschwerdeführer gegenüber Drittpersonen
mehrfach Selbstmordgedanken geäussert und nach seinen eigenen Aussagen
entsprechende Abschiedsbriefe geschrieben. Schliesslich berücksichtigte der
Einzelrichter für die Beurteilung der Ernsthaftigkeit der Drohungen auch
die Tatsache, dass der Beschwerdeführer Mitglied der religiösen Gruppierung
«X.» ist, bei welcher es sich um eine christliche Gemeinschaft handle,
deren Lehren unter anderem die Unterordnung der Frau unter den Mann und
die Untrennbarkeit der Ehe beinhalteten.

    Der Beschwerdeführer legt dar, der Haftrichter habe das
Haftentlassungsgesuch in willkürlicher Auslegung des § 58 Abs. 2 StPO/ZH
abgewiesen. Zum einen bestünden keine konkreten Anhaltspunkte für die
Befürchtung, er werde sich und seine Familie töten; zum andern beschränke
sich der Gegenstand der Strafuntersuchung auf den Tatbestand der Drohung
gemäss Art. 180 StGB. Dass der Beschwerdeführer - wie es nach § 58
Abs. 2 StPO/ZH für die Annahme der Ausführungsgefahr vorausgesetzt
werde - jemals ein Verbrechen in strafbarer Weise versucht oder
vorbereitet hätte, sei ihm von den kantonalen Behörden nie vorgeworfen
worden. Entgegen den Ausführungen des Haftrichters stellten auch die beiden
telefonischen Drohungen keine strafbaren Vorbereitungshandlungen für ein
Tötungsdelikt dar, weshalb es für die Aufrechterhaltung der Haft an einer
gesetzlichen Grundlage fehle. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend,
den Aussagen seiner Frau und seiner Schwiegereltern habe der Haftrichter
mehr Glauben geschenkt als der eigenen Schilderung der Situation; damit
liege ein Verstoss gegen das Willkürverbot vor. Schliesslich erachtet
der Beschwerdeführer die bisherige Haftdauer als unverhältnismässig.

Erwägung 4

    4.- a) Nach der Rechtsprechung bedarf ein Eingriff in die persönliche
Freiheit, gleich wie die Einschränkung eines jeden Freiheitsrechts,
einer hinreichend bestimmten Grundlage in einem Rechtssatz. Der Grad der
erforderlichen Bestimmtheit lässt sich freilich nicht abstrakt festlegen,
sondern hängt von der fraglichen Materie ab. Die Rechtsnorm soll so
präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten
bzw. die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen
entsprechenden Grad an Gewissheit voraussehen kann. Dieses Erfordernis
schliesst es nicht aus, dass ein Rechtssatz der anwendenden Behörde einen
Beurteilungsspielraum einräumt, wenn das Ziel der Regelung hinreichend
bestimmt ist, um eine angemessene Kontrolle der Handhabung der Norm
zu ermöglichen. Der Gesetzgeber kann nicht völlig darauf verzichten,
allgemeine Begriffe zu verwenden, die formal nicht eindeutig generell
umschrieben werden können und die an die Auslegung durch die Behörde
besondere Anforderungen stellen; denn ohne die Verwendung solcher Begriffe
könnte er der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse nicht Rechnung tragen (BGE
123 I 112 E. 7a S. 124 f. mit Hinweisen; 117 Ia 472 E. 3e S. 479 f. mit
Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S.
Tolstoy Miloslavsky c. Vereinigtes Königreich vom 13. Juli 1995, Serie A,
Band 316 B, Ziff. 37). Eine besondere Bedeutung kommt der Bestimmtheit von
Normen zu, die durch Androhung von Sanktionen unmittelbar das Verhalten
des Einzelnen steuern sollen. Umgekehrt sind die Anforderungen weniger
streng, wenn unterschiedlich gelagerte Sachverhalte zu regeln sind, bei
denen im Interesse der Flexibilität oder der Einzelfallgerechtigkeit
Differenzierungen angebracht sind. Ausserdem kann dem Bedürfnis nach
Rechtsgleichheit auch durch eine gleichmässige und den besonderen Umständen
Rechnung tragende Behördenpraxis entsprochen werden (BGE 123 I 1 E. 4b
S. 6; vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs i.S. Kruslin c. Frankreich
vom 24. April 1990, Serie A, Band 176 A, Ziff. 29).

    Das Bundesgericht hat es in mehreren nicht veröffentlichten Urteilen,
in denen die Rechtsgrundlage für die Anordnung resp. Aufrechterhaltung
der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft wegen des besonderen Haftgrundes
der Wiederholungsgefahr zu prüfen war, unter dem Gesichtspunkt der
genügend bestimmten gesetzlichen Grundlage als ausreichend erachtet,
dass die jeweils einschlägige kantonale Bestimmung diesen Haftgrund
nicht ausdrücklich aufführte und umschrieb, sondern ihn aufgrund einer
nicht abschliessenden Aufzählung von andern Haftgründen oder aufgrund der
Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe anwandte (nicht veröffentlichte
Urteile vom 10. Juli 1996 i.S. D., E. 2, vom 18. Dezember 1991 i.S. H., E.
2, und vom 20. Oktober 1987 i.S. V., E. 2).

    b) Folgt man streng dem Wortlaut von § 58 Abs. 2 StPO/ZH, auf den
der kantonale Haftrichter den Haftgrund der Ausführungsgefahr abstützte,
so wird verlangt, dass der Angeschuldigte dringend verdächtigt wird,
ein Verbrechen in strafbarer Weise versucht oder vorbereitet zu
haben. Der angefochtenen Verfügung lässt sich ein solcher Vorwurf gegen
den Beschwerdeführer nicht entnehmen. Der tätliche Angriff, den der
Beschwerdeführer anlässlich der heftigen Auseinandersetzung mit seiner
Frau im August 1998 begangen haben soll, wird in der haftrichterlichen
Verfügung zwar erwähnt, dem Beschwerdeführer jedoch nicht als strafbarer
Tötungsversuch oder als strafbare Vorbereitung einer Tötung zur Last
gelegt. Der zuständige Bezirksanwalt und mit ihm der Haftrichter werfen
dem Beschwerdeführer vor, mit seinen telefonischen Drohungen ernsthaft
die Absicht bekundet zu haben, sich und verschiedene Familienangehörige zu
töten. Es fragt sich, ob diese Drohungen unter den vorliegenden Umständen
- im Lichte des Erfordernisses einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage
für den Eingriff in die persönliche Freiheit - einem in strafbarer Weise
versuchten oder vorbereiteten Verbrechen gleichgestellt werden können.

    c) Sinn und Zweck von § 58 Abs. 2 StPO/ZH ist primär die Verhütung von
Verbrechen; die Haft ist somit überwiegend Präventiv-haft. Vorausgesetzt
sind konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Angeschuldigte ein in
strafbarer Weise versuchtes oder vorbereitetes Verbrechen, dessen er
dringend verdächtigt wird, ausführen werde (DONATSCH, in: Donatsch/Schmid,
Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 1. Lieferung, März
1996, N. 61 und 64 zu § 58). Der dringende Verdacht eines in strafbarer
Weise versuchten oder vorbereiteten Verbrechens begründet danach - gleich
wie bei der in § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH ebenfalls näher umschriebenen
Wiederholungsgefahr - grundsätzlich die Gefahr, dass ein Angeschuldigter
das Verbrechen tatsächlich begehen bzw. wiederholen könnte. Der Haftgrund
der Ausführungsgefahr ist ausdrücklich auch in Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK
vorgesehen, wonach der Freiheitsentzug zulässig ist, «wenn begründeter
Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, den Betreffenden
an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern».

    Dass der Haftrichter die Tötungsdrohungen, die dem Beschwerdeführer
zur Last gelegt werden, dem Erfordernis der strafbaren Vorbereitungs-
oder Versuchshandlung gemäss § 58 Abs. 2 StPO/ZH gleichsetzte und
damit diesen Haftgrund der Ausführungsgefahr bejahte, entspricht dem
Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung: Bei entsprechender konkreter
Gefahr der Begehung von Verbrechen sollen diese durch die Haftanordnung
verhindert werden. Die gesetzliche Regelung wäre nicht sachgerecht,
wenn sie nicht erlaubte, in Fällen gleicher Gefahrenlage in gleicher
Weise Haft anzuordnen, um Verbrechen zu verhindern. Die Vorschrift ist,
auch wenn in verfassungskonformer Auslegung und Anwendung von einer nicht
abschliessenden Aufzählung der Anlasstaten in Art. 58 Abs. 2 StPO/ZH
auszugehen ist, genügend bestimmt im Sinne der angeführten Rechtsprechung
(s. vorne E. 4a). Das Ziel der Regelung ist klar, weshalb es zulässig
ist, sie - in den gebotenen engen Grenzen - auch bei nicht ausdrücklich
erwähnten, aber in Bezug auf die Begründung der Gefahr der Ausführung eines
Verbrechens in jeder Hinsicht vergleichbaren Anlasstaten anzuwenden. JÖRG
REHBERG/MARKUS HOHL (Die Revision des Zürcher Strafprozessrechts von 1991,
Zürich 1992, S. 33) bejahen die Zulässigkeit eines Analogieschlusses denn
auch, zumindest wenn eine entsprechende Tat bereits vollendet wurde und
eine Vertiefung des Schadens befürchtet werden muss, während DONATSCH
(aaO, N. 62) dies grundsätzlich verneint, allerdings ohne sich mit der
rechtsgleichen Anwendung der Bestimmung und den Anforderungen an eine
genügende gesetzliche Grundlage näher auseinanderzusetzen.

    Dass der Haftrichter hier die Tötungsdrohungen, die dem Be-
schwerdeführer zur Last gelegt werden, dem Erfordernis der strafbaren
Vorbereitungs- oder Versuchshandlung gemäss § 58 Abs. 2 StPO/ZH
gleichsetzte, hält nach dem Gesagten vor dem Legalitätsprinzip stand.

Erwägung 5

    5.- Was die konkreten Anhaltspunkte betrifft, die nach § 58 Abs. 2
StPO/ZH für die Annahme der Ausführungsgefahr vorausgesetzt werden, so ist
es nicht erforderlich, dass der Verdächtige konkrete Anstalten getroffen
hat, um das befürchtete Verbrechen zu vollenden. Vielmehr genügt es, wenn
sich aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Verdächtigen sowie der
Umstände ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung als sehr
hoch erachtet werden muss. Die Abschätzung des Wahrscheinlichkeitsgrades
ist aufgrund einer Gesamtwertung aller massgeblichen Aspekte zu treffen
(vgl. BGE 125 I 60 E. 3a; vgl. DONATSCH, aaO, N. 66 f. zu § 58).

    Diese Voraussetzung ist hier beim gegenwärtigen Stand der
Untersuchung erfüllt. Die vom Haftrichter angeführten, teils
bestrittenen, teils zugegebenen Vorfälle sowie die aktuellen
Lebensumstände des Beschwerdeführers rechtfertigen den Schluss, es
bestehe die konkrete Gefahr, dieser könnte aufgrund seiner abwehrenden
Haltung zur bevorstehenden Ehescheidung sowie der Uneinigkeit über die
Kinderzuteilung in einer heftigen Erregung seine Drohung wahrmachen,
mithin ihm nahestehende Personen töten. Die Rüge, für die Annahme der
Ausführungsgefahr bestünden keine konkreten Anzeichen, ist demnach
unbegründet.

Erwägung 6

    6.- Der Beschwerdeführer befindet sich seit rund zwei Monaten
in Untersuchungshaft. Angesichts der Schwere der im Falle der
Freilassung zu befürchtenden Straftaten erweist sich diese Dauer
nicht als unverhältnismässig. Ein wirksamer Schutz der Angehörigen
des Beschwerdeführers, gegen die sich seine Drohungen richten, ist
vorderhand nur mit der Aufrechterhaltung der Haft gewährleistet. Wie
die Bezirksanwaltschaft in ihrer Stellungnahme darlegt, wird der
Beschwerdeführer innert Kürze psychiatrisch begutachtet, so dass bis Ende
Juni 1999 erste fachliche Erkenntnisse über dessen Zustand zu erwarten
sind. Es darf deshalb davon ausgegangen werden, dass die notwendigen
Schritte in die Wege geleitet sind, um rasch die bestmögliche Klarheit
darüber zu erlangen, wie Ende Juni 1999, wenn die in der angefochtenen
Verfügung festgelegte Hafterstreckung abgelaufen ist, weiter vorzugehen
sein wird. Insbesondere wird zu prüfen sein, ob es im Falle einer
Haftentlassung im Interesse des Beschwerdeführers sowie seiner Angehörigen
angezeigt ist, anderweitige Massnahmen, etwa solche fürsorgerischer Natur,
anzuordnen.

    Die Aufrechterhaltung der Haft verstösst damit nicht gegen das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit.