Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 255



125 IV 255

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Oktober 1999 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Versuchte Tötung (Art. 22 StBG, Art. 111 StGB). Übertragung des
HI-Virus durch ungeschützten Sexualkontakt.

    Tötungsversuch im konkreten Fall verneint.

Sachverhalt

    Zum Sachverhalt siehe BGE 125 IV 243.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Geschworenengerichts
sei wegen Verletzung von Bundesrecht (Art. 18 Abs. 2 und Art. 111 StGB)
aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin hatte im kantonalen Verfahren beantragt,
der Beschwerdegegner sei wegen Verbreitens menschlicher Krankheiten und
mehrfachen Versuchs dazu sowie wegen mehrfachen Versuchs der Tötung (Art.
22 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 111 StGB) zu verurteilen.

    a) Die Vorinstanz lehnt eine Verurteilung wegen Tötungsversuchs unter
Hinweis auf die Lehre sowie auf die Rechtsprechung in Deutschland ab. Zwar
seien im Falle einer HIV-Infektion der Ausbruch der Immunschwäche AIDS
und daran anschliessend der Tod sehr wahrscheinlich, doch verstreiche bis
dahin in der Regel eine lange Zeit von vielen Jahren. Der als Spätfolge
des Handelns zu erwartende wahrscheinliche Tod sei - im Unterschied zur
Infektion, die gleichsam an der Handlung klebe - nur noch lose mit dem
Täterverhalten verknüpft. Im Regelfall einverständlicher Sexualkontakte sei
daher der Tötungsvorsatz des Infizierten mangels objektiver Zurechenbarkeit
der allfälligen Todesfolge zu verneinen. Allerdings sei die Subsumtion
der Übertragung des HI-Virus auf einen andern Menschen unter die
(versuchten) Tötungsdelikte nicht grundsätzlich ausgeschlossen; sie
sei aber auf direktvorsätzliche Verhaltensweisen bzw. auf so genannte
Desperado-Fälle zu beschränken. Der Beschwerdegegner habe indessen
weder mit direktem Vorsatz noch aus Hass oder Rache gehandelt. Gegen
die Annahme eines Tötungsvorsatzes spreche im Übrigen, dass der
Beschwerdegegner zur Zeit der ungeschützten Sexualkontakte mit Y. und
mit Z. schon seit über einem Jahr um seine Seropositivität gewusst, aber
keine gravierenden Symptome körperlicher Art bei sich festgestellt habe
und uneingeschränkt arbeitsfähig gewesen sei. Der Tod als Folge einer
Infizierung mit dem HI-Virus habe für den Beschwerdegegner zur Zeit
der inkriminierten Verhaltensweisen somit nicht so nahe gelegen, dass
auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden müsse. Schliesslich gäben die
spektakulären Fortschritte in der Medizin Anlass zu berechtigten Hoffnungen
auf eine deutlich verbesserte Langzeitprognose für HIV-Infizierte.

    b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, nach Rechtsprechung
und Lehre würden direkter Vorsatz und Eventualvorsatz grundsätzlich
gleich behandelt, so auch bei den Tötungsdelikten und diesbezüglichen
Versuchen. Sogar eventualvorsätzlicher Mord und Mordversuch seien
möglich. Daher sei es schon aus dogmatischen Gründen nicht gerechtfertigt,
im Falle einer HIV-Übertragung etwa durch ungeschützte Sexualkontakte
nur bei direktvorsätzlichem Handeln des Täters Tötung bzw. Tötungsversuch
anzunehmen. Dass zwischen dem ungeschützten Sexualkontakt und dem Eintritt
des Todes im Falle einer Infizierung mit dem HI-Virus relativ lange
Zeit verstreichen könne, sei kein ausreichender Grund, die Anwendung von
Art. 111 StGB im Sinne der vorinstanzlichen Auffassung einzuschränken. Wohl
habe der Beschwerdegegner nicht aus Hass oder Rache auf ungeschützten
Sexualkontakten bestanden. Diese Umstände beträfen aber nur die Frage,
ob sein Verhalten als (versuchte) vorsätzliche Tötung oder aber als
(versuchter) Mord zu qualifizieren sei, und sie seien allenfalls bei der
Strafzumessung relevant. Im Zusammenhang mit dem Tötungsvorsatz spielten
sie jedoch keine Rolle. Unerheblich sei sodann, dass der Beschwerdegegner
mehr als ein Jahr nach Kenntnisnahme seiner eigenen HIV-Infektion
noch keine Symptome aufgewiesen habe. Dem Beschwerdegegner sei bekannt
gewesen, dass eine Infizierung, allenfalls auch erst nach längerer Zeit,
mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch von AIDS und danach zum Tode
führe. Ausserdem habe er seine Sorgfaltspflichten als HIV-Infizierter in
schwerer Weise verletzt. Das Risiko der Tatbestandsverwirklichung sei nun
aber so gross und die Verletzung der Sorgfaltspflicht so eklatant gewesen,
dass daraus zwingend geschlossen werden müsse, der Beschwerdegegner habe
den Tod der beiden Sexualpartnerinnen in Kauf genommen. Zwar stünden seit
einigen Jahren Medikamente zur Verfügung, die bei einer HIV-Infizierung
eine Überlebenschance erhoffen liessen. Diese Fortschritte der Forschung
seien in den Jahren 1991 bis 1993 aber weder vorhanden noch voraussehbar
gewesen. Das Todesrisiko dürfe daher nicht unter dem Gesichtswinkel
der heutigen Erkenntnisse und medizinischen Möglichkeiten beurteilt
werden. Relevant sei einzig, dass zur Tatzeit das Todesrisiko sehr gross
und diese Tatsache dem Beschwerdegegner bekannt gewesen sei. Mit der
Verneinung des Tötungsvorsatzes habe die Vorinstanz daher Art. 18 Abs. 2
und Art. 111 StGB verletzt.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdegegner hat in Kenntnis seiner HIV-Infektion
und der Übertragungsmöglichkeiten eine Infizierung von Y. und Z. durch
ungeschützten Geschlechtsverkehr in Kauf genommen. Dem Beschwerdegegner
war bekannt, dass eine Infizierung mit hoher Wahrscheinlichkeit nach
ungewisser, unter Umständen langer Zeit zum Ausbruch von AIDS und danach
zum Tod führt. In tatsächlicher Hinsicht ist dabei davon auszugehen,
dass der Beschwerdegegner weder die Infizierung noch den Tod seiner beiden
Sexualpartnerinnen, etwa aus Hass oder aus Rache, gewollt bzw. angestrebt
und dass er seine Partnerinnen auch nicht, etwa durch Gewalt, zum
ungeschützten Geschlechtsverkehr genötigt hat.

    b) Die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion infolge eines
ungeschützten Sexualkontakts ist statistisch gesehen gering und liegt
im Promille-Bereich. Die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs von AIDS und
des daran anschliessenden Todes im Falle einer HIV-Infektion ist dagegen
gross. Wenn dem HIV-Infizierten, der in Kenntnis seiner Infektion sowie
der Übertragungsmöglichkeiten und der sich aus einer Infektion ergebenden
Gefahren ungeschützt mit einem nicht informierten Partner sexuell
verkehrt, Eventualvorsatz in Bezug auf eine allfällige - als schwere
Körperverletzung zu qualifizierende - HIV-Infektion vorgeworfen werden
kann, so liegt es an sich nahe, ihm auch hinsichtlich der (ihm bekannten)
wahrscheinlichen Todesfolge Eventualvorsatz vorzuwerfen, zumal esein
und dasselbe Verhalten ist, nämlich der ungeschützte Geschlechtsverkehr,
welcher das Risiko der Infizierung in sich birgt und damit eine Todesgefahr
begründet. In der deutschen Lehre wird denn auch von verschiedenen Autoren
die Auffassung vertreten, dass in solchen Konstellationen nicht einerseits
der Körperverletzungsvorsatz bejaht und andererseits der Tötungsvorsatz
verneint werden könne (so insbes. WILFRIED BOTTKE, Strafrechtliche Probleme
von AIDS und AIDS-Bekämpfung, in: Bernd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.),
Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 171 ff., 201 ff.).

    c) Es widerstrebt indessen dem Rechtsgefühl, jeden ungeschützten
Sexualkontakt eines Infizierten in Fällen der vorliegenden Art als
vollendeten Tötungsversuch im Sinne von Art. 22 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 111 StGB zu qualifizieren, wofür das Gesetz, wie sich aus
Art. 65 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 111 StGB ergibt, Zuchthaus von
einem Jahr bis zu zwanzig Jahren androht. Im Falle einer Infizierung
mit dem HI-Virus ist der Tod zwar wahrscheinlich, doch tritt er, wie
auch der Beschwerdegegner wusste, in der Regel erst viele Jahre nach
dem infizierenden Sexualakt ein. In Anbetracht dieses langen Zeitraums
zwischen dem Verhalten des Täters und dem allfälligen Tötungserfolg wird
von einem Teil der Lehre - jedenfalls für Fälle der vorliegenden Art -
Tötungsversuch, mit unterschiedlichen Begründungen, verneint. So wird etwa
ausgeführt, da die fatale Folge mit einer halben Generation Verspätung
eintrete, könne nicht mehr von einer "Tötungshandlung" gesprochen werden
(TRECHSEL, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, Art. 231 StGB N. 7). Der als
Spätfolge des Handelns zu befürchtende wahrscheinliche Tod sei - im
Unterschied zur Infektion, die gleichsam an der Handlung klebe - nur
noch lose mit dem Täterverhalten verknüpft. Die Fernwirkung des Todes
sei daher in Fällen der vorliegenden Art dem Täter schon objektiv nicht
zurechenbar. Der Tod erscheine als unglückliches Geschehen, das in seiner
schicksalhaften Unabwendbarkeit aus der strafrechtlichen Zurechnung
herausfalle und vom Schutzbereich der Norm nicht mehr erfasst werde. In
den Fällen eventualvorsätzlicher Ansteckung scheide daher Tötungsvorsatz
aus (KARL-LUDWIG KUNZ, AIDS und Strafrecht: Die Strafbarkeit der
HIV-Infektion nach schweizerischem Recht, ZStrR 107/1990 S. 39 ff.,
64 ff.). Diese Auffassung überzeugt. Jedenfalls in Konstellationen der
vorliegenden Art ist der im Falle einer HIV-Infektion zwar wahrscheinliche,
aber erst nach ungewisser, in der Regel langer Zeit von vielen Jahren
eintretende Tod dem Täter schon objektiv nicht zurechenbar und fällt aus
diesem Grunde eine Verurteilung wegen vollendeten Tötungsversuchs ausser
Betracht. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren dank verbesserter
Therapiemöglichkeiten (kombinierter Einsatz mehrerer Medikamente etc.) die
Sterblichkeitsrate, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum, erheblich
gesunken beziehungsweise, mit andern Worten, die Lebenserwartung eines
HIV-Infizierten grösser geworden ist. Dies ist zumindest für die Frage
der objektiven Zurechenbarkeit einer allfälligen Todesfolge relevant. Der
Verlauf der Krankheit und der allfällige Tod sind damit noch vermehrt
ein schicksalhaftes Geschehen, das von zahlreichen Umständen abhängt.

    Offen bleiben kann hier, wie etwa die Fälle zu entscheiden sind,
in denen der Täter die Infizierung bzw. den Tod seines Sexualpartners
gewollt resp. angestrebt oder den ungeschützten Sexualkontakt gewaltsam
erzwungen hat. Keine dieser Voraussetzungen ist vorliegend erfüllt.

    d) Die Vorinstanz hat demnach Tötungsversuch mit Recht verneint. Die
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird daher abgewiesen.