Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 237



125 IV 237

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. November 1999 i.S. P.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 100bis StGB; Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt;
Voraussetzungen.

    Eine Einweisung ist auch nach schweren Anlasstaten möglich. In
dem Masse aber, in dem der junge Erwachsene in Person und Tat
dem Erwachsenenstrafrecht zugeordnet werden muss, erhöhen sich die
Anforderungen für eine Einweisung. Gefährliche Gewalttäter gehören nicht
in diese Anstalt (E. 6b; Konkretisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    Das Obergericht des Kantons Zürich fand am 27. November 1998
P. schuldig des Mordes, des mehrfachen Raubes gemäss Art. 140 Ziff. 1 Abs.
1 StGB, des versuchten Raubes gemäss Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2
StGB und des versuchten Raubes gemäss Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB,
der mehrfachen Nötigung usw. Es bestrafte ihn mit 16 Jahren Zuchthaus.

    Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies am 30. August 1999 eine
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde von P. ab, soweit es darauf eintrat.

    P. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

    6.- a) Der Gutachter diagnostizierte beim Beschwerdeführer
eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung (unreife Persönlichkeit,
krisenhafte Adoleszenzentwicklung). Er sei aber weder psychisch krank noch
suchtkrank; er sei körperlich gesund. Auch die Begleitumstände der Tat
und das Verhalten nach der Tat wiesen nicht auf eine Beeinträchtigung der
psychischen Gesundheit oder des Bewusstseins hin. Die Tat stehe letztlich
in einem Zusammenhang mit der Störung seiner charakterlichen Entwicklung,
wodurch er in eine Lebenssituation geraten sei, in der man ihn mit den
Worten des Gesetzes als "verwahrlost" und "arbeitsscheu" bezeichnen
könne. Der Gutachter hielt in der Fragebeantwortung eine Einweisung in
eine Arbeitserziehungsanstalt für zweckmässig, denn der Beschwerdeführer
sei in seiner charakterlichen Entwicklung erheblich gestört und weiterhin
gefährdet. Seine Tat stehe damit im Zusammenhang. Es lasse sich durch
pädagogische Massnahmen eine Nachreifung erreichen und dadurch zweifelsfrei
die Gefahr künftiger Delikte vermindern.

    Die Vorinstanz führt - das Gutachten zusammenfassend - aus, der
Beschwerdeführer habe als Kleinkind die Trennung seiner Eltern erlebt,
sei aber bei seinen Grosseltern in stabilen Verhältnissen aufgewachsen
und habe sich dort wohl gefühlt. Der Vater habe in der Schweiz gearbeitet
und durch jährliche Besuche den Kontakt aufrechterhalten. Die Mutter habe
ihn regelmässig besucht. Er sei mit 13 Jahren in die Schweiz gekommen,
habe aber eine herbe Enttäuschung erlebt, weil sich die Möglichkeit eines
freien und kulturell weniger gebundenen Lebens nicht erfüllte. Der Vater
habe sich als streng erwiesen und ihn zurück in die Türkei geschickt. Er
sei aber bald wieder in die Schweiz gekommen, habe sich vom Vater getrennt,
in einem Lehrlingswohnheim gelebt, verschiedene Jobs gefunden und die
ersehnten Freiheiten geniessen können. Heute distanziere er sich von
seiner "wilden" Jugend mit dem "Zukunftsentwurf": Arbeit, Heirat, Kinder,
werde dazu aber noch anstrengende Jahre brauchen. Er habe jedoch eine gute
Intelligenz und gute soziale Fähigkeiten, sei nicht grundsätzlich emotional
oder erzieherisch verwahrlost und in seiner Persönlichkeitsstruktur nicht
chaotisch oder dissozial. Es sei durchaus ein gutes Fundament vorhanden.
Die Vorinstanz kommt zum Ergebnis, aufgrund dieser Beurteilung des
Gutachters - der durchaus gefolgt werden könne - liessen sich die
Voraussetzungen einer Einweisung nicht dartun. Wenn auch mit dem Gutachter
von einer Störung der charakterlichen Entwicklung gesprochen werden müsse,
könne diese nicht als erheblich im Sinne von Art. 100bis StGB angesehen
werden.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, die Einweisung sei selbst bei
einer Mordtat möglich. Nach dem Gutachten seien die Voraussetzungen
erfüllt. Die Massnahme müsse angeordnet werden, wenn die Straftat mit
der charakterlichen Störung zusammenhänge und anzunehmen sei, dadurch
lasse sich die Gefahr künftiger Verbrechen oder Vergehen verhüten. Er
hebt gestützt auf das Gutachten hervor, er habe zuwenig feste Normen
für die Gestaltung seines Lebens und seiner Beziehungen verinnerlichen
können; sein Bewusstsein für eine gesellschaftliche Verankerung seines
Verhaltens bleibe unzureichend; die Ausbildung seines Gewissens sei
unzureichend geblieben; auf diese Weise sei er rasch bereit gewesen,
ohne Gewissensbisse schnell auf illegale Weise Geld zu besorgen; in einer
emotionsgeladenen Stresssituation reagiere er impulsiv. Die Vorinstanz
habe diese wichtigen Aussagen des Gutachtens in ihrer zusammenfassenden
Darstellung unberücksichtigt gelassen. Sie gebe damit einen verfälschenden
Eindruck. Entgegen ihrer unzutreffenden Annahme stelle das Gutachten klar
fest, dass die vom Gesetz geforderten charakterlichen Defizite vorlägen
und dass er zugleich über eine unreife Persönlichkeit verfüge. Damit
sei er in hohem Masse der Therapieform zugänglich, wie sie in einer
modernen Arbeitserziehungsanstalt praktiziert werde. Der Bericht des
Jugendsekretärs, auf den sich die Vorinstanz berufe, lege nur wegen seiner
beschönigenden Darstellung keine ausreichend schweren charakterlichen
Defizite dar.

    b) Das Strafgesetz enthält eine nach Alterskategorien abgestufte
Annäherung an das Sanktionensystem des Erwachsenenstrafrechts. Für
junge Erwachsene (achtzehn- bis fünfundzwanzigjährige Täter) gilt
das ordentliche Sanktionensystem des Erwachsenenstrafrechts, es
sei denn, sie erfüllen die Voraussetzungen für eine Einweisung in
eine Arbeitserziehungsanstalt (Art. 100 Abs. 1 StGB; BGE 121 IV 155
E. 2a). Deshalb wird im Strafpunkt immer geprüft, ob diese Massnahme in
Betracht kommt (BGE 117 IV 251 E. 2b). Voraussetzungen und Zielsetzung
(Art. 100bis Ziff. 1 und 3 StGB) lassen die Einweisung als eine Massnahme
erscheinen, mit der eine erheblich gestörte oder gefährdete Entwicklung mit
erzieherischen Mitteln noch behoben werden soll. Darauf weisen auch die
(gleichsam vormundschaftsrechtlichen) Merkmale "verwahrlost, liederlich
oder arbeitsscheu" hin. So kommt die Massnahme etwa in Betracht, wenn
sich der Betroffene infolge einer protrahierten Entwicklungskrise auch
entwicklungsmässig noch in einem Übergangsalter befindet (BGE 123 IV
113 E. 4c/bb).

    Es sollen junge Erwachsene eingewiesen werden, deren Entwicklung sich
noch wesentlich beeinflussen lässt und die dieser Erziehung zugänglich
erscheinen (BGE 123 IV 113 E. 4c; 118 IV 351 E. 2b und d). Die Einweisung
wird daher um so weniger in Betracht kommen, je weniger der Betroffene
beeinflussbar erscheint. Damit zusammenhängend sind um so höhere
Anforderungen zu stellen, je länger die Strafe gegen einen jungen
Erwachsenen zu bemessen wäre (BGE 118 IV 351 E. 2d). Dies widerspricht
nicht der Tatsache, dass sich die Frage der schuldangemessenen Strafe
grundsätzlich nicht stellt (BGE 118 IV 351 E. 2d und e). Diese Tatsache
besagt nur, dass die Einweisung - die an Stelle einer Strafe angeordnet
wird (Art. 100bis Ziff. 1 StGB) - mangels gesetzlicher Einschränkung im
Einzelfall selbst bei schwersten Anlasstaten wie dem Mord möglich bleibt.
Das Strafmass ist angesichts dieser monistischen Ausgestaltung der
Massnahme in aller Regel offen zu lassen und bleibt bloss hypothetisch
(BGE 118 IV 351 E. 2e). Das erweist sich angesichts des Gleichheitssatzes
solange als unbedenklich, als aufgrund des Alters unterschiedliche
Sanktionssysteme Anwendung finden (BGE 121 IV 155 E. 2c) und eben auch
vergleichbare Verhältnisse vorliegen. Eine Einweisung darf in keinem
Fall vier Jahre überschreiten (Art. 100ter Ziff. 1 StGB). Je mehr der
junge Erwachsene in Person und Tat im konkreten Fall auf der Skala der
erwähnten Annäherung an das Erwachsenenstrafrecht diesem zugeordnet werden
muss, um so mehr weichen die noch aus dem Jugendstrafrecht hereinwirkenden
Gesichtspunkte (BGE 118 IV 351 E. 2e; 121 IV 155 E. 2a) zurück und kommt
der Gleichheitssatz zum Tragen.

    Das Gesetz ermöglicht die Einweisung nur für noch beeinfluss-bare
(erziehbare) junge Erwachsene. Es trennt die Arbeitserziehungsanstalt
von den übrigen Anstalten (Art. 100bis Ziff. 2 StGB). Diese gesetzliche
Zielsetzung ist zu beachten. Arbeitserziehungsanstalten haben einen
erzieherischen Auftrag. Sie dürfen nicht durch eine zu wenig differenzierte
Einweisungspraxis mit Schwierigkeiten und Sicherheitsproblemen belastet
werden, die sie nicht bewältigen können und die ihren Auftrag und damit
den Sinn und Zweck der Anstalten in Frage stellen. Sicherungsaspekte
müssen in den Hintergrund treten. Neben der Persönlichkeitsstruktur
müssen daher Deliktskategorie und Begehungsweise der Tat berücksichtigt
werden. Erweist sich in dieser Prüfung ein Täter als gefährlich, wird
diese Tatsache zum einen eher gegen eine Erziehbarkeit im Sinne von Art.
100bis StGB sprechen, zum andern aber sowohl wegen der Gefährdung der
Anstaltssicherheit als auch wegen der Gefahr einer Beeinflussung der
bereits Eingewiesenen einen Hinderungsgrund bilden. Eine Gefährlichkeit
wird jedenfalls bei Gewaltdelikten mit zunehmender Höhe der Strafe
indiziert sein. Entscheidend ist indessen die Gefährlichkeit des Täters,
nicht der Tat. Gefährliche Täter gehören nicht in diese Anstalt.

    Zusammenfassend ist zu berücksichtigen, dass die Massnahme
mit ihren aus dem Jugendstrafrecht hereinwirkenden Gesichtspunkten
nach ihrer Zielsetzung auf Täter zugeschnitten ist, die sich nach
Persönlichkeitsstruktur und Begehungsweise noch in den weiteren Umkreis
der Adoleszenzdelinquenz einordnen lassen. Die straftatrelevanten
Entwicklungsdefizite müssen erzieherisch behebbar sein, jedenfalls
insoweit, dass angenommen werden kann, dadurch lasse sich künftige
Delinquenz verhüten. Schliesslich muss sich ebenfalls prognostisch
eine Gefährlichkeit des Einzuweisenden verneinen lassen. Wesentliche
Beurteilungskriterien für eine Einweisung bilden demnach Fehlentwicklung,
Erziehbarkeit, Delinquenzverhütung und Ungefährlichkeit. Sind die
Voraussetzungen von Art. 100 und 100bis StGB erfüllt, muss das Gericht
die Massnahme anordnen (BGE 118 IV 351 E. 2d).

    c) Die Vorinstanz kann den gutachterlichen Ausführungen durchaus
folgen. Sie übersieht die charakterlichen Defizite und die Unreife nicht,
verneint indessen deren Erheblichkeit für eine Einweisung. An dieser
Beurteilung können die als unberücksichtigt behaupteten Vorbringen nichts
ändern. Die Vorinstanz beurteilt zu Recht selber, ob der Beschwerdeführer
als "verwahrlost" und "arbeitsscheu" im Sinne des Straftatbestands zu
gelten habe. Sie weist sodann darauf hin, dass der Beschwerdeführer
nachgereift sei, wie sich anlässlich der Hauptverhandlung bestätigt
habe. Es sei keineswegs abnorm, dass seine Persönlichkeitsentwicklung
altersbedingt (Geburtsjahr 1975) noch nicht abgeschlossen sei. Eine
als nötig erachtete pädagogisch geprägte Einflussnahme könne im
Strafvollzug erfolgen. Dort bestehe namentlich die Möglichkeit, mit
einer Berufsausbildung eine solidere Basis für die Zukunft zu schaffen.

    Dagegen verkürzt der Beschwerdeführer in seinem Ausgangspunkt
die rechtlichen Voraussetzungen. Erzieherische Hilfen haben einen
günstigen Einfluss auf künftiges Verhalten, doch bildet eine nur
altersbedingt unabgeschlossene Entwicklung keinen Einweisungsgrund.
Eine Berufsausbildung ist dem Beschwerdeführer auch im Vollzug möglich
und damit verbunden eine gewisse sozialpädagogische Einflussnahme
(vgl. auch Art. 46 Ziff. 2 StGB). Klar ist ohnehin, dass die Massnahme
nicht dazu dienen darf, dem Vollzug einer Freiheitsstrafe zu entgehen. Für
den Beschwerdeführer erhöhen sich aus den oben dargestellten Gründen die
Anforderungen für eine Einweisung; insbesondere weckt seine offenkundige
Gefährlichkeit sehr ernsthafte Bedenken. Kaum aus seiner Untersuchungshaft
wegen Raubdelikten entlassen, schoss der Beschwerdeführer aus nichtigem
Anlass völlig überraschend einem ahnungslosen Taxifahrer aus kürzester
Distanz eine Kugel ins Herz, und dies anschliessend an den Abbruch des mit
einem Kollegen durchgeführten bewaffneten Raubversuchs und der Abwehr des
nachfolgenden Raubversuchs durch diesen Taxifahrer. Von diesen Vorwarnungen
unbeeindruckt, ging der Beschwerdeführer hartnäckig und absolut
rücksichtslos seinen Weg. Dieser Tätertypus gehört grundsätzlich nicht in
eine Arbeitserziehungsanstalt. Überwiegende Gründe, den Beschwerdeführer
trotzdem einzuweisen, sind nicht erkennbar. Die Vorinstanz beurteilt zu
Recht die Voraussetzungen von Art. 100bis StGB als nicht erfüllt.