Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 225



125 IV 225

35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. November 1999 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen T. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB, Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB;
ambulante Behandlung bei Trunk- und Rauschgiftsüchtigen, Geltungsbereich
der Verweisung auf die Bestimmung für Massnahmen an geistig Abnormen.

    Die Verweisung in Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 3 StGB gilt nicht nur
für die Anordnung von ambulanten Massnahmen (Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB),
sondern auch für deren Beendigung (Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB;
E. 2a).

    Hat die Vollzugsbehörde die Erfolglosigkeit beziehungsweise
Unzweckmässigkeit der ambulanten Behandlung festgestellt, so muss der
Richter entscheiden, ob an Stelle der erfolglosen ambulanten Massnahme
entweder eine gleichartige oder eine andere ambulante Massnahme oder
eine stationäre Massnahme oder eine Verwahrung oder allenfalls keine neue
Massnahme anzuordnen ist (E. 2b).

Sachverhalt

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte T. am 28.  November 1996
wegen Mordes und Widerhandlung gegen die Verordnung über den Erwerb und
das Tragen von Schusswaffen durch jugoslawische Staatsangehörige zu einer
Zuchthausstrafe von 18 Jahren. Gleichzeitig ordnete es eine ambulante
Massnahme gemäss Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB während des Strafvollzugs
an und verwies den Verurteilten für 15 Jahre des Landes.

    Nachdem die zweijährige Höchstdauer der Massnahme Ende 1998 abgelaufen
war, stellte das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Zürich
(ASMV) den Vollzug der ambulanten Massnahme am 21. Januar 1999 ein und
beantragte dem Obergericht, es solle die ambulante Massnahme aufheben
und, sofern das Gericht die Voraussetzungen für die Anordnung einer
andern sichernden Massnahme als nicht gegeben beurteile, von der erneuten
Anordnung einer Massnahme absehen. Auf diesen Antrag trat das Obergericht
mit Beschluss vom 17. Mai 1999 nicht ein.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache
zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid im Wesentlichen damit,
dass nur in Fällen, in welchen zwecks ambulanter Behandlung der Vollzug
von Freiheitsstrafen aufgeschoben worden sei (Art. 44 Ziff. 1 Abs.
1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB), der Richter
nach Aufhebung der Behandlung in analoger Anwendung von Art. 43 Ziff. 3
Abs. 2 und 3 StGB (BGE 117 IV 398 ff.) darüber zu entscheiden habe, ob und
inwieweit aufgeschobene Strafen noch vollzogen werden sollen oder ob an
Stelle des Strafvollzugs eine andere sichernde Massnahme anzuordnen sei.
Sei aber nicht über den Vollzug aufgeschobener Strafen beziehungsweise über
die Anordnung einer andern sichernden Massnahme unter erneutem Aufschub
des Strafvollzugs zu befinden, so fehle einem richterlichen Handeln
die gesetzliche Grundlage. Im vorliegenden Fall gehe es darum, ob eine
nach Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB während des Strafvollzugs durchgeführte
ambulante Massnahme aufzuheben beziehungsweise ob allenfalls eine andere
Massnahme anzuordnen sei. Es stelle sich somit auch hier nicht die
Frage, ob eine Strafe vollzogen werden soll oder ob eine andere sichernde
Massnahme unter Aufschiebung des Strafvollzugs anzuordnen sei.

    b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz begründe
ihr Nichteintreten zunächst damit, es sei nicht "sinnvoll", den Richter
zu bemühen, wenn die Vollzugsbehörde von sich aus die Möglichkeit habe,
die Frage der Zweckmässigkeit einer Massnahme zu prüfen und über eine
allfällige Weiterführung formell zu entscheiden. Dabei verkenne sie, dass
das ASMV gar nicht die Weiterführung der Massnahme bezwecke; diese sei
vom ASMV nach Ablauf der gesetzlich festgelegten Höchstdauer von zwei
Jahren am 21. Januar 1999 rechtskräftig eingestellt worden. Das ASMV
wolle mit seinem Antrag die Aufhebung der Massnahme, weil die Anordnung
derselben oder einer anderen Massnahme nicht geeignet gewesen sei, die
Gefahr künftiger Verbrechen oder Vergehen zu verhüten. Mit der Begründung,
Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB könnten vorliegend nicht zur Anwendung
gelangen, da sie nur die erfolglose Behandlung in der Heilanstalt regelten
und sich nicht die Frage stelle, ob eine Strafe zu vollziehen oder ob eine
allenfalls andere Massnahme unter Aufschub des Strafvollzugs anzuordnen
sei, übersehe die Vorinstanz, dass die Vollzugsbehörde die Massnahme
ausdrücklich und nur dann aufheben könne, wenn der Grund weggefallen sei
(Art. 43 Ziff. 4 beziehungsweise Art. 44 Ziff. 4 StGB), d.h. dass die
Vollzugsbehörde die Aufhebung nur dann selbst verfügen könne, wenn die
in Art. 43 beziehungsweise 44 StGB zur Anordnung vorausgesetzte "geistige
Abnormität" (vorliegend Alkoholproblematik), welche zur Anordnung geführt
habe, nicht mehr bestehe.

    Nach der Rechtsprechung sei der Entscheid, ob sich die Behandlung nach
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB als unzweckmässig erweise, nicht vom Richter,
sondern von der zuständigen Vollzugsbehörde zu treffen. Das ASMV habe die
ambulante Massnahme im Sinne von Art. 44 Ziff. 3 StGB im vorliegenden Fall
als erfolglos eingestellt. Im Gegensatz zu Ziff. 3 von Art. 43 StGB habe
die Vollzugsbehörde diesen Entscheid nach erfolglosem Massnahmevollzug
von zwei Jahren fällen müssen, weil die Voraussetzungen der bedingten
Entlassung noch nicht gegeben waren beziehungsweise weil der Vollzug nicht
zum Erfolg geführt hatte. Diesen Entscheid habe das ASMV gefällt, und nun
sei es am Richter, den Folgeentscheid zu fällen. Dies habe die Vorinstanz
unterlassen. Wenn die Vollzugsbehörde die Massnahme gestützt auf Art. 44
Ziff. 3 StGB einstelle (Unzweckmässigkeit, Undurchführbarkeit), dann habe
das Gericht in der Folge darüber zu entscheiden, ob die eingestellte
Massnahme erneut anzuordnen und von der Vollzugsbehörde durchzuführen
sei. Das Gericht habe aber auch die Möglichkeit, eine andere Massnahme
anzuordnen. Dies könne sogar dazu führen, dass das Gericht eine ambulante
Massnahme in eine Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB umwandle.

    Im jetzigen Zeitpunkt sei die Massnahme lediglich eingestellt
und nicht aufgehoben. Das ASMV habe die Einstellung der Massnahme
rechtskräftig erledigt. Das ASMV könne jedoch die Massnahme nicht
weiterführen und der Verurteilte habe Anrecht darauf, dass über die
Neuanordnung oder Fortführung oder Aufhebung dieser Massnahme definitiv
entschieden werde. Indem die Vorinstanz darauf nicht eingetreten sei,
habe sie dem Verurteilten ein ihm zustehendes Recht verweigert. Zudem sei
der Entscheid in sich widersprüchlich: Einerseits verlange die Vorinstanz
von der Vollzugsbehörde eine formelle Einstellungsverfügung bezüglich
Aufhebung der Massnahme, verweigere dann aber, wenn diese vorliege,
die Ausfällung der damit verbundenen Folgeentscheide.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob es mit dem
Entscheid der Vollzugsbehörde über die Einstellung des Vollzugs der
ambulanten Massnahme wegen Erfolglosigkeit und Unzweckmässigkeit sowie
mit einem allfälligen dazugehörigen Rechtsmittelverfahren sein Bewenden
hat (E. 1a) oder ob der Richter im Anschluss an den Einstellungsentscheid
der Vollzugsbehörde von Gesetzes wegen einen Folgeentscheid zu fällen hat
(E. 1b).

    a) Art. 44 StGB regelt die Behandlung von Trunk- und
Rauschgiftsüchtigen, Art. 43 StGB die möglichen Massnahmen an geistig
Abnormen. Beide Bestimmungen sehen die Möglichkeit einer ambulanten
Behandlung vor, wobei in Art. 44 Ziff. 1 auf Art. 43 Ziff. 2 StGB verwiesen
wird. Während letztere Bestimmung in Ziff. 3 den Richter anweist, wie er
bei Erfolglosigkeit oder Unzweckmässigkeit der Behandlung vorzugehen hat,
fehlt in Art. 44 StGB eine derartige Regelung.

    Unter Hinweis auf die herrschende Lehre kam das Bundesgericht in BGE
117 IV 398 zum Schluss, die Verweisung in Art. 44 Ziff. 1 StGB bezüglich
Anordnung der ambulanten Massnahme genüge, um damit grundsätzlich auch
die Bestimmungen für deren Beendigung und die damit zusammenhängende
Regelung in Art. 43 Ziff. 3 StGB zur Anwendung zu bringen (E. 2b/bb
mit Hinweisen). Offen gelassen wurde in jenem Urteil, ob durch die
sinngemässe Anwendung von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB auf Trunk-
und Rauschgiftsüchtige auch eine genügende gesetzliche Grundlage dafür
gegeben sei, beim Scheitern einer ambulanten Behandlung eines Trunk-
oder Rauschgiftsüchtigen die nachträgliche Einweisung in eine Anstalt
oder eine andere sichernde Massnahme anzuordnen (E. 2b/cc).

    Diese Frage ist zu bejahen. Zunächst kann auf die Begründung
in BGE 117 IV 398 E. 2b/bb verwiesen werden. Hinzu kommt, dass der
Gesetzgeber mit der Revision des Massnahmenrechts ausdrücklich die
Möglichkeit vorsah, im Interesse des Täters und/oder der öffentlichen
Sicherheit auch sichernde Massnahmen allenfalls über den Zeitraum der
schuldangemessenen Strafe hinaus anzuordnen (Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und
3 StGB). Dass eine angeordnete Mass- nahme unter bestimmten Umständen
(z.B. bei Erfolglosigkeit oder Unzweckmässigkeit) wieder muss beendet
werden können, versteht sich von selbst. Spricht der Gesetzgeber in Art. 44
Ziff. 1 Abs. 1 von entsprechender Anwendung des Art. 43 Ziff. 2 StGB,
kann das nur heissen, dass dem Begriff des Geisteszustandes in Art. 43 die
Trunk- beziehungsweise Rauschgiftsucht in Art. 44 StGB entspricht. Nachdem
Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 2 StGB bloss von der möglichen Anordnung einer
ambulanten Massnahme, nicht jedoch von deren Beendigung spricht, erklärt
sich auch, weshalb Satz 3 lediglich auf die Ziff. 2 des Art. 43 verweist,
welche mögliche Folgen der Anordnung einer ambulanten Massnahme regelt,
nicht jedoch auf die Ziff. 3, welche mögliche Folgen bei der Beendigung
der ambulanten Massnahme zum Gegenstand hat.

    Einerseits hat der Gesetzgeber im sachlich nahe liegenden Art. 43 StGB
bewusst Massnahmen vorgesehen, die zeitlich über das schuldangemessene
Strafmass hinausgehen können; anderseits würde das Anordnen von
Massnahmen ohne die Möglichkeit, sie beenden zu können, zu absurden
und vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnissen führen. Deshalb kann die
Verweisung in Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 3 StGB nur so verstanden werden,
dass der Gesetzgeber sowohl die Anordnung als auch die Beendigung von
ambulanten Massnahmen an geistig Abnormen entsprechend auf Trunk- und
Rauschgiftsüchtige angewandt haben wollte. Kann aber nur diese Lösung
vom Gesetzgeber gewollt sein, genügt Art. 44 StGB trotz der fehlenden
Verweisung auf Ziff. 3 des Art. 43 StGB dem Bestimmtheitsgebot und damit
dem Legalitätsprinzip (a.M. STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht,
Allgemeiner Teil II, S. 436 f. N. 49). In diesem Zusammenhang ist daran
zu erinnern, dass zum Schutz der Betroffenen sichernde Massnahmen nur
bei Vorliegen der gesetzlichen Bedingungen angeordnet werden dürfen;
auch insoweit relativieren sich die geäusserten Bedenken hinsichtlich
des Legalitätsprinzips.

    b) Wie bereits angeführt (E. 1a), begründet die Vorinstanz ihren
Entscheid im Wesentlichen damit, dass nur in Fällen, in welchen zwecks
ambulanter Behandlung der Vollzug von Freiheitsstrafen aufgeschoben
worden sei (Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 43
Ziff. 2 Abs. 2 StGB), der Richter nach Aufhebung der Behandlung in
analoger Anwendung von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB (BGE 117 IV
398 ff.) darüber zu entscheiden habe, ob und inwieweit aufgeschobene
Strafen noch vollzogen werden sollen oder ob an Stelle des Strafvollzugs
eine andere sichernde Massnahme anzuordnen sei. Sei aber nicht über den
Vollzug aufgeschobener Strafen beziehungsweise über die Anordnung einer
andern sichernden Massnahme unter erneutem Aufschub des Strafvollzugs
zu befinden, so fehle einem richterlichen Handeln die gesetzliche
Grundlage. Im vorliegenden Fall gehe es darum, ob eine nach Art. 44
Ziff. 1 Abs. 1 StGB während des Strafvollzugs durchgeführte ambulante
Massnahme aufzuheben beziehungsweise ob allenfalls eine andere Massnahme
anzuordnen sei. Es stelle sich somit auch hier nicht die Frage, ob eine
Strafe vollzogen werden soll oder ob eine andere sichernde Massnahme
unter Aufschiebung des Strafvollzugs anzuordnen sei.

    Dem Umstand, dass vorliegend nicht über einen erneuten Aufschub des
Strafvollzugs zu befinden ist, kommt keine Bedeutung zu. Entscheidend ist
vielmehr, dass die entsprechende Anwendung der Ziff. 2 und 3 des Art. 43
auf die ambulante Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen - nachdem
die Vollzugsbehörde die Erfolglosigkeit beziehungsweise Unzweckmässigkeit
der Massnahme festgestellt hat - dem Richter die Aufgabe überträgt zu
entscheiden, ob an Stelle der erfolglosen ambulanten Massnahme entweder
eine gleichartige oder eine andere ambulante Massnahme oder eine stationäre
Massnahme oder eine Verwahrung oder allenfalls keine neue Massnahme
anzuordnen ist (BGE 123 IV 100 E. 3b). Indem die Vorinstanz diesen
Entscheid durch ihren Nichteintretensbeschluss verweigert hat, verletzte
sie Bundesrecht, weshalb der angefochtene Entscheid aufgehoben wird.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen)