Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 189



125 IV 189

29. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. August 1999 i.S. X.
gegen Y. und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 117 StGB und Art. 125 StGB; Selbstgefährdung des Verletzten.

    Wer lediglich eine eigenverantwortlich gewollte Selbstgefährdung eines
anderen in untergeordneter Weise ermöglicht, veranlasst oder unterstützt,
macht sich grundsätzlich nicht wegen eines Körperverletzungs- oder
Tötungsdeliktes strafbar, wenn das mit der Gefährdung bewusst eingegangene
Risiko sich realisiert (E. 3a).

    Wer es zulässt, dass sich ein Radfahrer an sein Motorfahrrad anhängt,
und mit dem Motorfahrrad korrekt weiterfährt, ist für eine dabei
eingetretene Tötung oder Verletzung des Radfahrers in der Regel nicht
strafrechtlich verantwortlich (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Anna X. unternahm am Abend des 3. Juni 1997 auf einem Fahrrad
zusammen mit Peter Y., der mit einem Motorfahrrad unterwegs war, einen
Ausflug nach Bülach. Bei Neerach wechselten die beiden auf dem Parkplatz
vor einem Restaurant ihre Fahrzeuge. Peter Y. überliess seiner Begleiterin
sein Motorfahrrad, damit sie das Lenken desselben einmal "probieren"
könne. Er legte den bis dahin getragenen Schutzhelm ab und deponierte ihn
auf dem Fahrrad. In der Folge liess er sich bei einer Geschwindigkeit von
ca. 25 bis 30 km/h von Anna X. ziehen, indem er sich mit seiner linken Hand
an ihrem rechten Oberarm festhielt. Obwohl Anna X. immer geradeaus fuhr und
nie einen Schwenker machte, verlor Peter Y. nach einigen hundert Metern aus
nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehbaren Gründen die Herrschaft über
das Fahrrad. Er löste seine Hand von Anna X. und versuchte vergeblich,
sich aufzufangen. Beim Sturz erlitt er schwere Schädel-Hirn-Verletzungen,
die eine bleibende Behinderung nach sich zogen.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Dielsdorf büsste
Anna X. am 15. Juni 1998 wegen Verletzung verschiedener Verkehrsregeln
mit Fr. 100.--. Zur Anwendung gelangten unter anderem die Art. 71 Abs. 1
der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11)
(Schleppen eines Fahrrades mit einem Motorfahrrad) und Art. 43 Abs. 1 VRV
(verbotenes Nebeneinanderfahren). Vom Vorwurf der fahrlässigen schweren
Körperverletzung sprach das Gericht Anna X. frei.

    Gegen dieses Urteil erklärte Peter Y. die Berufung.

    Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, erkannte
am 2. Februar 1999, Anna X. sei schuldig der fahrlässigen schweren
Körperverletzung im Sinne von Art. 125 Abs. 2 StGB, des Nichttragens
des Schutzhelmes im Sinne von Art. 96 VRV i.V.m. Art. 3b Abs. 3 VRV
sowie des Lenkens eines Motorfahrrades ohne Führerausweis im Sinne
von Art. 145 Ziff. 1 Abs. 1 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über
die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR
741.51). Sie werde bestraft mit einer Busse von Fr. 500.--. Der Eintrag
der Verurteilung im Strafregister werde gelöscht, wenn Anna X. sich
während einer Probezeit von einem Jahr bewähre. Es werde festgestellt,
dass Anna X. gegenüber Peter Y. aus dem Ereignis vom 3. Juni 1997 dem
Grundsatze nach schadenersatzpflichtig sei.

    C.- Anna X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt,
sie sei vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung
freizusprechen. Es sei festzustellen, dass sie aus dem Ereignis
nicht schadenersatzpflichtig sei. Das Urteil des Obergerichts sei - in
Gutheissung der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde - bezüglich der
Verurteilung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung, der Bestrafung
mit einer Busse, dem Eintrag ins Strafregister sowie der Feststellung
der Schadenersatzpflicht aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut, soweit es
darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Hält das Bundesgericht eine eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
im Strafpunkt für begründet, so hebt es den angefochtenen Entscheid
auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück
(Art. 277ter Abs. 1 BStP; SR 312.0). Soweit die Beschwerdeführerin mehr
und insbesondere einen Entscheid in der Sache verlangt, kann darauf nicht
eingetreten werden.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin strebt einen Freispruch vom Vorwurf der
fahrlässigen schweren Körperverletzung an.

    a) Der Einzelrichter am Bezirksgericht Dielsdorf sprach sie in
diesem Punkt frei. Er ging zunächst davon aus, sie habe den Erfolg
jedenfalls nicht durch ihr Fahrverhalten bewirkt, weshalb allenfalls nur
eine strafbare Unterlassung vorliegen könne. Da sie jedoch weder eine
Garantenstellung aus Ingerenz, noch eine solche aus freiwillig begründeter
Gefahren- oder Lebensgemeinschaft innegehabt habe, sei sie vom Vorwurf
der fahrlässigen schweren Körperverletzung freizusprechen.

    b) Die Vorinstanz führt demgegenüber aus, der natürliche
Kausalzusammenhang sei zu bejahen, da eine natürliche Ursache des
Unfalls "in der gemeinsamen Ausfahrt der (Beschwerdeführerin) mit dem
(Beschwerdegegner) auf dem Motorfahrrad bzw. Fahrrad, dem Tausch dieser
Vehikel und dem Nebeneinanderfahren sowie dem sich Ziehenlassen des
(Beschwerdegegners) auf dem Fahrrad durch die (Beschwerdeführerin)
auf dieser Fahrt" liege. Auch die adäquate Kausalität sei gegeben,
denn dass das Nebeneinanderfahren und das Ziehen des Beschwerdegegners
auf dem Fahrrad durch die Beschwerdeführerin mit dem Motorfahrrad zu
einem Sturz mit Verletzungen führen könne - und gerade deshalb durch
das Strassenverkehrsgesetz verboten sei - liege auf der Hand. Wegen
des Selbstverschuldens des Beschwerdegegners sei der adäquate
Kausalzusammenhang nicht durchbrochen worden; denn der Schwenker eines
Fahrradlenkers, der sich von einem Motorfahrrad ziehen lasse, und ein daran
anschliessender Sturz mit Verletzungen stellten nichts Aussergewöhnliches
dar. Pflichtwidrig habe sich die Beschwerdeführerin aus drei Gründen
verhalten, indem sie (1) in Missachtung von Art. 145 Ziff. 1 Abs. 1 VZV ein
Motorfahrrad geführt habe, ohne im Besitze eines Führerausweises zu sein;
(2) in Verletzung von Art. 43 Abs. 1 VRV auf dem Motorfahrrad neben dem
Beschwerdegegner hergefahren sei und (3) in Uebertretung von Art. 71 Abs. 1
VRV diesen gezogen habe. Sie habe die Folge ihres Verhaltens schliesslich
zumindest in groben Zügen auch voraussehen können.

    c) Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Vorinstanz habe nicht
berücksichtigt, dass der Beschwerdegegner in ihr Verhalten eingewilligt
habe; beide hätten sich gemeinsam in die nicht ungefährliche Situation
begeben; es liege eine Einwilligung in ein erhöhtes Risiko vor, welches
mit dem "Mannschafts-Wettkampf-Sport" vergleichbar sei. Zudem reiche dem
Beschwerdegegner zum Verschulden, dass er der Beschwerdeführerin, die
über keinen Ausweis verfügte, sein Motorfahrrad zur Verfügung gestellt,
sich ziehen lassen und die Kontrolle über das Fahrrad verloren habe;
dieses erhebliche Verschulden des Beschwerdegegners schliesse eine
fahrlässige Körperverletzung durch die Beschwerdeführerin aus.

    d) Dazu bemerkt der Beschwerdegegner, dem schweizerischen
Strafrecht sei eine Verschuldenskompensation fremd. Auch eine
rechtfertigende Einwilligung des Verletzten sei zu verneinen; denn die
Gefahr einer schweren Körperschädigung habe derart nahegelegen, dass der
Rechtfertigungsgrund nicht in Betracht kommen könne; die Beschwerdeführerin
könne "nicht im Ernst für sich beanspruchen, dass sie der Annahme war,
dass der (Beschwerdegegner) in jede Gefährdung einwilligen würde."

Erwägung 3

    3.- a) Das Bundesgericht hat die Frage, ob bei Fahrlässigkeitsdelikten
eine Einwilligung des Verletzten begrifflich überhaupt möglich ist,
bisher nicht ausdrücklich beantwortet.

    Es hat nur für den Fall gemeinsamer gefährlicher Unternehmungen, in
denen alle Beteiligten die gleiche Verantwortung tragen, in Bezug auf das
eingegangene Risiko die gleiche Kenntnis haben und sich im Bewusstsein
dieses Risikos der Gefährdung aussetzen, erwogen, die Teilnahme an einer
solchen Unternehmung rechtfertige nicht jede damit im Zusammenhang stehende
Körperverletzung; grobes oder vorsätzliches Fehlverhalten werde durch die
stillschweigende Einwilligung der Teilnehmer in das Risiko nicht gedeckt
(BGE 109 IV 102 für Sport- und Spielveranstaltungen). Es wird heute denn
auch überwiegend anerkannt, dass die Beteiligten einer solchen Unternehmung
sich nicht wegen fahrlässiger Körperverletzung oder gegebenenfalls wegen
fahrlässiger Tötung strafbar machen, wenn der eingetretene Schaden die
Folge des eingegangenen Risikos und nicht das Ergebnis hinzukommender
anderer Fehler ist (vgl. dazu HARALD NIEDERMAIR, Körperverletzung mit
Einwilligung und die guten Sitten, München 1999, S. 121 f. mit Hinweisen).

    Im übrigen ist zu unterscheiden zwischen den Fällen, in denen sich
jemand im Bewusstsein des Risikos durch einen anderen gefährden lässt, und
denjenigen, in denen sich der Geschädigte bewusst selber gefährdet und der
andere diese Selbstgefährdung nur ermöglicht, veranlasst oder unterstützt.

    Prinzipiell soll eine rechtfertigende Einwilligung immer dann möglich
sein, wenn sich jemand im Bewusstsein des Risikos durch einen anderen
gefährden lässt (z.B. durch eine gefährliche Operation), wobei allerdings
die Frage gestellt wird, wie weit der rechtfertigenden Einwilligung
Schranken gesetzt sind. Als Kriterien werden die Grösse der Gefahr, also
die grössere oder kleinere Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts, sowie
der mit der Einwilligung verfolgte Zweck genannt (SCHUBARTH, Kommentar
zum schweizerischen Strafrecht, 1. Band, 1982, Systematische Einleitung,
N. 167 mit Hinweisen). Diese Frage muss heute nicht weiter geprüft werden.

    Von einer solchen Gefährdung durch einen Dritten ist - wie gesagt
- der Fall zu unterscheiden, in welchem das Opfer bewusst selbst die
unmittelbare Ursache für den Erfolg gesetzt, bis zuletzt die Herrschaft
über das den Erfolg herbeiführende Geschehen gehabt und sich damit selbst
gefährdet hat. Eine solche eigenverantwortliche Selbstgefährdung ist stets
straflos, und ein dabei mitwirkender Dritter ist folglich - jedenfalls in
Bezug auf den eingetretenen Erfolg - grundsätzlich ebenfalls straflos, wenn
sein Tatbeitrag derart untergeordnet ist, dass der eingetretene Erfolg als
ausschliesslich durch den Geschädigten selber herbeigeführt erscheint. Die
strafrechtliche Verantwortlichkeit des die Selbstgefährdung fördernden
Täters für den eingetretenen Erfolg beginnt erst, wenn das Opfer, etwa
aufgrund seiner Unerfahrenheit oder Jugendlichkeit, die Gefahr nicht
erkennt, wenn der Täter aufgrund überlegenen Sachwissens das Risiko besser
erfasst als der sich selber Gefährdende oder wenn er eine Garantenstellung
zugunsten des Opfers hat (vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, Strafgesetzbuch,
25. Aufl. 1997, Vorbem. §§ 32 ff. N. 107; ROXIN, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, Band I, 3. Aufl. 1997, § 11 N. 92 ff.; JESCHECK/WEIGEND, Lehrbuch des
Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 574; je mit Hinweisen).

    Das Oberlandesgericht Bayern hat in diesem Sinne einen Kraftradfahrer,
der es einem Skateboardfahrer ermöglichte, sich anzuhängen, für eine
dabei eingetretene Tötung oder Verletzung des Skateboardfahrers als
strafrechtlich nicht verantwortlich bezeichnet, weil ein Fall von
eigenverantwortlicher und damit strafloser Selbstgefährdung vorliege
(Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 1989 Nr. 17 S. 80).

    b) Im vorliegenden Fall hat sich der Beschwerdegegner durch sein
Verhalten zur Hauptsache selber gefährdet. Zunächst überliess er der
Beschwerdeführerin, die - wie er wusste - über keinen entsprechenden
Ausweis verfügte, sein Motorfahrrad, damit sie dieses einmal "probeweise"
lenken könne. Er setzte sich auf ihr Fahrrad und legte seinen Schutzhelm
ab. Obwohl schon durch dieses Fehlverhalten für ihn eine erhöhte Gefahr
entstand, bei einem Unfall am Kopf verletzt zu werden, hielt er sich mit
der linken Hand am rechten Unterarm der Beschwerdeführerin fest und liess
sich von ihr ziehen. Dass der Beschwerdegegner stürzte, war nicht auf
ein falsches Fahrverhalten der Beschwerdeführerin zurückzuführen, denn
sie fuhr nach den verbindlichen Feststellungen der kantonalen Richter
"immer geradeaus", machte keinen Schwenker und hielt eine zulässige
Geschwindigkeit ein. Es ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass
der Beschwerdegegner die Herrschaft über das Fahrrad verlor. Er hatte es
folglich von Anfang an und bis unmittelbar vor dem Sturz ganz allein in
der Hand, ob es zu einem derartigen Unfall kommen könnte oder nicht. Das
Fehlverhalten der Beschwerdeführerin erschöpfte sich demgegenüber darin,
dass sie nicht anhielt, als sich der Beschwerdegegner an ihr festhielt.
Dieser Tatbeitrag ist jedoch nur untergeordnet, und selbst die Vorinstanz
kommt bei der Strafzumessung zum Schluss, "die von (der Beschwerdeführerin)
begangenen Verkehrsregelübertretungen, die zum Unfall beitrugen,
(seien) eher im Bagatellbereich anzusiedeln." Zur Hauptsache war es der
Beschwerdegegner, der sich durch sein in mehrfacher Hinsicht fehlerhaftes
Verhalten selber gefährdete und für den eingetretenen Erfolg nun auch
die Verantwortung zu tragen hat. Für ihren geringfügigen Tatbeitrag an
der selbstverantwortlichen Selbstgefährdung des Beschwerdegegners kann
die Beschwerdeführerin nicht wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung
verurteilt werden, weil insoweit der Beschwerdegegner in seine Gefährdung
rechtfertigend eingewilligt hat.

    Der angefochtene Entscheid verletzt deshalb Bundesrecht und ist
aufzuheben. Die Sache ist zum Freispruch der Beschwerdeführerin vom
Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Diese wird auch neu im Zivilpunkt zu entscheiden haben
(Art. 277quater Abs. 1 zweite Alternative BStP).