Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 II 554



125 II 554

56. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 6.
Dezember 1999 i.S. A.H. und B.H. gegen Kantonales Sozialamt Graubünden und
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 12 Abs. 2 OHG; Bemessung der Genugtuung; Berücksichtigung der
tieferen Lebenshaltungskosten bei ausländischem Wohnsitz des Opfers.

    Zur Bemessung der Genugtuung nach Art. 12 Abs. 2 OHG sind die
zivilrechtlichen Grundsätze sinngemäss heranzuziehen (E. 2a).

    Von der Regel, wonach die Genugtuung unabhängig von den
Lebenshaltungskosten am Wohnsitz des Berechtigten festzusetzen ist,
darf nur in besonderen Fällen abgewichen werden (E. 2b).

    Die Genugtuung für ein in der Vojvodina lebendes Opfer darf angesichts
der dortigen markant tieferen Lebenshaltungskosten gekürzt werden
(E. 3). Die Reduktion darf aber nicht schematisch im gleichen Verhältnis
erfolgen, in dem Lebenshaltungskosten am Wohnsitz des Ansprechers tiefer
sind als in der Schweiz (E. 4a). Reduktion der Genugtuung um die Hälfte
unter den gegebenen Umständen (E. 4b).

Sachverhalt

    C.H. wurde am 16. Oktober 1994 von der Polizei in ihrer Wohnung
tot aufgefunden. Die Untersuchungsbehörden gehen davon aus, dass ein
Bekannter sie erdrosselt hat. Das Tötungsdelikt ist jedoch bis heute
unaufgeklärt, da der Tatverdächtige nicht gefunden werden konnte. Die
Verstorbene hinterliess die beiden Töchter A.H., geboren 1985, und B.H.,
geboren 1987. E.H., der Ehemann von C.H. und Vater der beiden Töchter,
verlor 1992 seine Arbeitsstelle in der Schweiz und lebt seither bei seinen
Eltern in Jermenovci in der Vojvodina. Nach dem Tod ihrer Mutter zogen
A.H. und B.H. zu ihrem Vater und dessen Eltern.

    A.H. und B.H. machten wegen des Todesfalls gestützt auf das
Bundesgesetz über die Opferhilfe vom 4. Oktober 1991 (OHG; SR 312.5)
beim Kantonalen Sozialamt Graubünden Genugtuungsansprüche geltend. Die
beiden Töchter verlangten je Fr. 50'000.--. Das Sozialamt sprach
ihnen am 29. Juli 1998 eine Genugtuung von je Fr. 2'500.-- zu. Einen
gegen diesen Entscheid erhobenen Rekurs der Gesuchstellerinnen wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 3. Dezember 1998 ab. A.H. und
B.H. haben das Urteil des Verwaltungsgerichts beim Bundesgericht
angefochten. Es heisst ihre Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über die
Bemessung der Genugtuung gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG. Diese Leistungen
unterscheiden sich zwar in ihrer Rechtsnatur von den zivilrechtlichen
Ansprüchen gemäss Art. 47 OR (vgl. BGE 125 II 169 E. 2b S. 173). Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts sind jedoch im Bereich der Opferhilfe die
von den Zivilgerichten entwickelten Grundsätze zur Bemessung der Genugtuung
sinngemäss heranzuziehen (BGE 123 II 210 E. b/dd S. 216). Dabei ist
allerdings zu beachten, dass es sich bei der opferrechtlichen Genugtuung
um eine staatliche Leistung handelt (BGE 125 II 169 E. 2b S. 173; 121
II 369 E. 3c/aa S. 373). Das Entschädigungs- und Genugtuungssystem des
Opferhilfegesetzes entspringt dem Gedanken der Hilfeleistung, nicht der
Staatshaftung (BGE 123 II 425 E. 4c S. 431).

    b) Nach der Rechtsprechung sind bei der zivilrechtlichen Bemessung
der Genugtuung die Lebenshaltungskosten des Berechtigten an seinem
ausländischen Wohnsitz grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Das
Bundesgericht hielt in einem neueren Entscheid fest, die Genugtuung
stelle im Unterschied zur Schadenersatzleistung nicht einen Ausgleich
für eine Vermögensminderung dar. Sie solle vielmehr den Schmerz durch
eine Geldsumme aufwiegen. Diese Geldsumme sei nach dem am Gerichtsstand
geltenden Recht zu bemessen ohne Rücksicht darauf, wo der Kläger lebe
und was er mit dem Geld machen werde (BGE 121 III 252 E. 2b S. 255 f.).

    Von der Regel, wonach die Genugtuung nach dem am Gerichtsstand
geltenden Recht festzusetzen ist, kann allerdings in besonderen Fällen
abgewichen werden. So hat das Bundesgericht erklärt, die Unterschiede in
den Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und dem ausländischen Wohnort
des Berechtigten könnten so gross sein, dass ihnen bei der Bemessung
der Genugtuung Rechnung getragen werden müsse. Wo die wirtschaftlichen
und sozialen Gegebenheiten von den hiesigen Verhältnissen markant
abwichen, könne die Zusprechung einer Genugtuungssumme in der Höhe,
wie sie grundsätzlich nach schweizerischem Recht zu bemessen wäre, zu
einer krassen Besserstellung des Ansprechers und somit zu einem Ergebnis
führen, das nach Abwägung aller Interessen mit sachlichen Gründen nicht zu
rechtfertigen und daher unbillig wäre (BGE 123 III 10 E. 4c/bb S. 14 f.).

Erwägung 3

    3.- Das Verwaltungsgericht gelangte zum Schluss, dass im Lichte der
angeführten Rechtsprechung die sehr viel tieferen Lebenshaltungskosten
in der Vojvodina im vorliegenden Fall bei der Bemessung der Genugtuung
berücksichtigt werden müssten. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten
dies. Sie werfen dem Verwaltungsgericht vor, die Lebenshaltungskosten
in der Vojvodina offensichtlich unrichtig und unvollständig ermittelt
zu haben. Ausserdem halten sie eine Kürzung der Genugtuung auch im Blick
auf ihre besondere Beziehung zur Schweiz für unzulässig.

    a) Nach dem angefochtenen Entscheid ist die Kaufkraft in Jermenovci
rund 18-mal grösser als in der Schweiz. Diese Feststellung gründet
einerseits auf einer Auskunft der Schweizer Botschaft in Belgrad, wonach
der Lohn einer unqualifizierten Arbeitskraft umgerechnet Fr. 120.--
bis Fr. 150.--, maximal Fr. 200.- betrage. Andererseits stützt sie
sich auf ein Schreiben von F.X. und G.I.X. an den Rechtsvertreter der
Beschwerdeführerinnen. Darin wird ausgeführt, der Durchschnittslohn
in Jugoslawien liege bei DM 200.- bis DM 300.-. Das Verwaltungsgericht
stellte auf diese beiden voneinander unabhängigen Auskünfte ab, zumal
sie im Wesentlichen übereinstimmten, und gelangte unter Annahme eines
durchschnittlichen Monatslohns in der Schweiz von Fr. 3'500.-- zur
genannten rund 18-mal grösseren Kaufkraft in der Vojvodina.

    Bei dieser Berechnung handelt es sich offensichtlich nicht um eine
exakte Ermittlung der Kaufkraftunterschiede zwischen der Schweiz und der
Vojvodina. Das Verwaltungsgericht nahm sie vor, um aufzuzeigen, dass die
Lebenshaltungskosten in der Vojvodina jedenfalls so erheblich von jenen
in der Schweiz abweichen, dass nach der angeführten Rechtsprechung eine
Reduktion der zuzusprechenden Genugtuungen geboten erscheint. Unter
diesen Umständen, und weil eine schematische Berücksichtigung des
Kaufkraftunterschiedes ohnehin nicht zulässig ist (E. 4 unten), kommt
den Einwänden, welche die Beschwerdeführerinnen gegen die Bestimmung des
Monatslohnes in der Vojvodina erheben, keine ausschlaggebende Bedeutung
zu. Auch wenn mit Blick auf die landwirtschaftliche Selbstversorgung
und die Schwarzarbeit die Einkommensverhältnisse in Jermenovci
etwas anders aussehen sollten, als es im angefochtenen Entscheid
dargelegt wird, vermöchte dies den markanten Kaufkraftunterschied
nicht in Frage zu stellen. Der Verweis auf den Entscheid des Zürcher
Sozialversicherungsgerichts vom 28. Mai 1996 (ZR 95/1996 Nr. 65)
geht schon deshalb fehl, weil in ihm erhebliche Kaufkraftdifferenzen,
die eine Reduktion der Genugtuungssummen rechtfertigen, gerade bejaht
werden. Im Übrigen bezieht sich der Entscheid auf die Verhältnisse im
Kosovo, die nicht ohne weiteres mit jenen in der Vojvodina zu vergleichen
sind. Ausserdem enthält der Entscheid keinerlei Hinweise, dass auf Grund
der tatsächlichen Verhältnisse ein Schwarzmarktzuschlag von 40% vorgenommen
werden müsste. Das Gericht begnügte sich im genannten Fall lediglich mit
einer hypothetischen Berechnung, bei der es dem entsprechenden Antrag
des damaligen Beschwerdeführers folgte. Schliesslich bestätigt auch die
Liste der Zulagenansätze für Kinder im Ausland des Kantons St. Gallen,
welche die Beschwerdeführerinnen eingereicht haben, die erheblichen
Kaufkraftunterschiede zwischen der Schweiz und Jugoslawien. Danach erhalten
Kinder aus Jugoslawien lediglich einen Viertel der Zulage, die in der
Schweiz geschuldet ist. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen
kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Lebenshaltungskosten
in Jugoslawien lediglich um das 4-fache geringer seien als in der Schweiz,
da die Ausrichtung noch tieferer Zulagen gar nicht vorgesehen ist.

    Bei dieser Sachlage erscheint die Feststellung des
Verwaltungsgerichts, zwischen Jermenovci und der Schweiz bestünden
markante Kaufkraftunterschiede, ohne weiters vertretbar und jedenfalls
nicht offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG. Nach der
angeführten Rechtsprechung lagen damit besondere Umstände vor, welche
grundsätzlich eine Reduktion der Genugtuung rechtfertigten.

    b) Die Beschwerdeführerinnen machen jedoch geltend, einer Kürzung
ihrer Genugtuung stehe vorliegend die Tatsache entgegen, dass sie
eine besondere Beziehung zur Schweiz hätten. Nach der Rechtsprechung
scheidet eine Reduktion der Genugtuung aus, wenn der Ansprecher mit der
Schweiz in besonderer Weise verbunden ist, etwa wenn er hier arbeitet
oder als Angehöriger des Opfers hier Wohnsitz nehmen kann (BGE 123 III
10 E. 4c/bb S. 14). Die Beschwerdeführerinnen sind zwar bis zu ihrem
siebten bzw. neunten Lebensjahr in der Schweiz aufgewachsen, leben aber
seither beim Vater in Jugoslawien. Sie machen nicht geltend und es ist
nicht ersichtlich, dass sie seit ihrem Wegzug immer noch enge Kontakte
zur Schweiz pflegen, auch wenn ihre Grossmutter in Chur lebt. Die blosse
Möglichkeit, dass sie sich später einmal um eine Ausbildung in der Schweiz
bemühen könnten, stellt noch keinen Grund dar, der einer Kürzung der
Genugtuung entgegensteht. Dem ist aber bei der Bemessung dieser Kürzung
Rechnung zu tragen (E. 4 unten).

    c) Der angefochtene Entscheid verletzt demnach kein Bundesrecht, soweit
darin die Voraussetzungen für eine Reduktion der den Beschwerdeführerinnen
zuzusprechenden Genugtuungssummen bejaht wurden.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführerinnen kritisieren auch den Umfang, in dem
die kantonalen Behörden die Genugtuung im Blick auf die geringeren
Lebenshaltungskosten in Jermenovci kürzten. Mit ihrem Eventualantrag
verlangen sie die Zusprechung einer um höchstens zwei Drittel reduzierten
Genugtuungssumme. In der Beschwerdebegründung dagegen machen sie geltend,
ihre Genugtuungen dürften höchstens um die Hälfte gekürzt werden.

    a) Nach der erwähnten Rechtsprechung sind bei der Festsetzung
der Genugtuung die Lebenshaltungskosten am Ort des Berechtigten nur
ausnahmsweise - bei besonders grossen Unterschieden zu den hiesigen
Verhältnissen - zu berücksichtigen. Die Genugtuung ist in einem solchen
Fall so zu bemessen, dass sie nicht zu einer krassen Besserstellung des
im Ausland lebenden Ansprechers führt. Die Höhe der Genugtuung soll nach
Abwägung aller Interessen den besonderen Umständen entsprechen und nicht
unbillig erscheinen (BGE 123 III 10 E. 4b/cc S. 15). Dies bedeutet, dass
dort, wo tieferen Lebenshaltungskosten bei der Bemessung der Genugtuung
ausnahmsweise Rechnung zu tragen ist, dies nicht schematisch im gleichen
oder annähernd gleichen Verhältnis, wie die Lebenshaltungskosten am
Wohnsitze des Ansprechers tiefer als in der Schweiz sind, erfolgen
darf. Andernfalls würde die Ausnahme zur Regel, was nicht der Sinn
der in BGE 123 III 10 weiter entwickelten Rechtsprechung ist. Dort
wurde ausdrücklich am Grundsatz der Zusprechung der Genugtuung ohne
Rücksicht darauf, wo der Ansprecher lebt und was er mit dem Geld machen
wird, festgehalten. Es wurde bei der Beurteilung des konkreten Falles
insbesondere auch berücksichtigt, dass die Eltern des Opfers seit jeher in
China lebten und dort auch in Zukunft leben würden. Auch der Ansprecher,
der in einem Land mit sehr viel niedrigeren Lebenshaltungskosten als
in der Schweiz lebt, soll nicht daran gehindert werden, wieder in der
Schweiz oder einem Land mit ähnlich hohen Lebenshaltungskosten zu leben
(vgl. BGE 121 III 252 E. 2 S. 256).

    Im vorliegenden Fall haben sich die kantonalen Behörden bei der
Reduktion der Genugtuungssumme fast ausschliesslich vom festgestellten
Kaufkraftunterschied leiten lassen. Die den Beschwerdeführerinnen
zugesprochenen Genugtuungssummen sind 14-mal tiefer als jene, die einem
Berechtigten in der Schweiz zustünden, während der vom Verwaltungsgericht
festgestellte Kaufkraftunterschied rund das 18-fache beträgt. Diese
schematische Kürzung der Genugtuungssummen ist nach dem Gesagten
unzulässig. Die Vorinstanz wich damit von den in der Rechtsprechung
entwickelten Bemessungsgrundsätzen ab und verletzte daher Bundesrecht. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist aus diesem Grunde gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben. Da die Angelegenheit spruchreif ist,
kann das Bundesgericht selbst in der Sache entscheiden und ist diese nicht
an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG).

    b) Die unbestrittenermassen viel tieferen Löhne in Jugoslawien lassen
eine Genugtuungssumme von je Fr. 35'000.--, wie sie ordentlicherweise
als angemessen betrachtet wurde, als eine krasse Besserstellung der
Beschwerdeführerinnen erscheinen, die unbillig wäre. Sie könnten sich
damit etwas leisten, wofür ihr Vater die Löhne von mehr als 10 Jahren
aufwenden müsste. Deshalb ist eine Herabsetzung gerechtfertigt. Bei
der Bemessung der Kürzung ist indessen zu berücksichtigen, dass die
Beschwerdeführerinnen noch in einem jugendlichen Alter stehen und sie sich
eher erst in einem späteren Zeitpunkt etwas leisten werden, das die mit
dem Verlust der Mutter erlittenen Beeinträchtigungen wettmachen kann, wie
dies dem Sinn der Genugtuung entspricht. Ferner fällt in Betracht, dass ihr
Heimat- und gegenwärtiges Wohnsitzland in Europa liegt und es daher nicht
unwahrscheinlich ist, dass sie später einmal in der Schweiz oder in einem
anderen europäischen Land mit ähnlich hohen Lebenshaltungskosten leben oder
sich, wie sie geltend machen, zu Ausbildungszwecken oder um zu arbeiten,
aufhalten könnten. Dafür spricht der Umstand, dass sie einen Grossteil
ihrer Kindheit in der Schweiz verbrachten und ihre Grossmutter in Chur
lebt. Deshalb rechtfertigt sich nur eine Reduktion der Genugtuungssumme
um die Hälfte.

    Die den beiden Beschwerdeführerinnen im Rahmen der Opferhilfe
geschuldete Genugtuung ist danach auf je Fr. 17'500.-- festzusetzen.