Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 86



125 III 86

16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Dezember 1998 i.S.
O.S. gegen B. (Berufung) Regeste

    Haftung des Verwaltungsrates einer Aktiengesellschaft für unmittelbaren
Gläubigerschaden (Art. 754 aOR).

    Abgrenzung von mittelbarem und unmittelbarem Gläubigerschaden (E. 3a).

    Die blosse Unterzeichnung eines Anlagevertrages durch das Organ der mit
der Kapitalanlage betrauten, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits
überschuldeten Aktiengesellschaft, begründet noch keinen unmittelbaren
Gläubigerschaden. Ein solcher liegt nur vor, wenn aktienrechtliche
Bestimmungen zum ausschliesslichen Gläubigerschutz verletzt werden,
oder ein Tatbestand der culpa in contrahendo vorliegt (E. 3b/3c).

Sachverhalt

    Im September 1984 wurde die Y. AG mit einem Aktienkapital von Fr.
50'000.-- gegründet. Zweck der Gesellschaft bildete die Durchführung
von Finanzierungen und Beteiligungen an Finanzgeschäften jeglicher Art.
Einziger Verwaltungsrat der Gesellschaft war Rechtsanwalt B. (Beklagter),
an dessen Büroadresse die Y. AG Domizil hatte. Am 2. März 1990 bewilligte
das Amtsgericht München die Eintragung einer Zweigniederlassung der Y. in
das deutsche Handelsregister, für deren Geschäftsbetrieb C. und D. mit
Einzelprokura verantwortlich zeichneten. Die Genannten waren daneben noch
Geschäftsführer und Gesellschafter der Z. GmbH, einer Gesellschaft für
Vermittlung von Kapitalanlagen mit Sitz in München.

    Am 1. November 1989 schlossen die Eheleute O.S. (Kläger) und B.S. mit
der Y. AG einen Anlagevertrag über $ 50'000.--. Darin wurde dem Anleger
garantiert, dass die Kapitaleinlage ('«Einschuss'«) nicht angegriffen
werde und mit 3,75% pro Quartal rentiere. Eine erste Zahlung von DM
46'775.- hatten die Eheleute S. bereits am 1. August 1989 zu Handen der
Z. GmbH überwiesen; die restlichen DM 46'000.-- zahlten sie am 2. November
1989 ein. In der Folge erhielten sie lediglich zweimal Zinsen in Höhe
von insgesamt $ 3'125 ausbezahlt, weshalb sie in der Folge gegen C. und
D. Strafanzeige einreichten. Der Beklagte erklärte mit Schreiben vom
10. Dezember 1990 seinen sofortigen Rücktritt als Verwaltungsrat der Y. AG.

    Nach Abtretung der Ansprüche seiner Ehefrau belangte der Kläger den
Beklagten am 1. Juni 1994 auf Zahlung von Fr. 74'000.-- nebst Zins. Mit
Urteil vom 2. Mai bzw. 5. September 1997 wies das Obergericht des Kantons
Glarus die Klage in zweiter Instanz ab. Während des Appellationsverfahrens
wurde über die Y. AG der Konkurs eröffnet, welcher dann mangels Aktiven
wieder eingestellt wurde.

    Das Bundesgericht weist die Berufung des Klägers ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Kläger begründet sein Rechtsbegehren mit unmittelbarem
Gläubigerschaden, welchen er erlitten haben will. Das Obergericht verneinte
eine Ersatzpflicht des Beklagten, weil aus dessen Pflichtverletzungen
nur mittelbarer und kein unmittelbarer Gläubigerschaden resultiere. Diese
Auffassung rügt der Kläger in seiner Berufung als bundesrechtswidrig.

    a) Massgebliches Kriterium für die Abgrenzung von unmittelbarem
und mittelbarem Gläubigerschaden bildet nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Rechtsgrundlage der jeweiligen Schadenersatzpflicht,
mithin die Art der Pflichtverletzung, die dem ins Recht gefassten
Organ vorgeworfen wird, und die Interessen, deren Schutz die missachtete
Vorschrift dient (BGE 122 III 176 f.). Ein unmittelbarer Gläubigerschaden
liegt danach vor, wenn das Verhalten eines Gesellschaftsorgans
gegen aktienrechtliche Bestimmungen verstösst, die ausschliesslich
dem Gläubigerschutz dienen, oder die Schadenersatzpflicht auf einem
anderen widerrechtlichen Verhalten des Organs i.S. von Art. 41 OR oder
einem Tatbestand der culpa in contrahendo gründet. Werden Bestimmungen
verletzt, welche sowohl den Interessen der Gesellschaft wie auch dem
Schutz der Gläubiger dienen, liegt ein mittelbarer Schaden vor, welcher
ausserhalb des Konkurses durch die Gesellschaft, nach Konkurseröffnung
jedoch durch die Gläubigergesamtheit, allenfalls durch den an ihrer
Stelle klagenden Gläubiger im Sinne von Art. 756 Abs. 2 aOR geltend zu
machen ist (BGE 122 III 176 E. 7 S. 189 f.; kritisch: PETER V. KUNZ, in:
AJP/PJA 11/98 S. 1267 f., 1273 und 1274; ROLF WATTER in: AJP/PJA 12/96
S. 1573 ff. und 1581 f.). An dieser Abgrenzung zwischen unmittelbarem
und mittelbarem Gläubigerschaden ist festzuhalten, auch wenn sie in der
Literatur teilweise auf Kritik gestossen ist.

    b) Der Kläger qualifiziert den zum Ersatz verstellten Schaden als
unmittelbar, da die Gesellschaft nach den Feststellungen des Obergerichts
bereits Ende 1987 überschuldet gewesen und es somit bei pflichtgemässem
Verhalten des Beklagten nicht mehr zum Abschluss des Anlagevertrages am 1.
November 1989 gekommen wäre.

    Die Ersatzpflicht eines fehlbaren Organs für einen unmittelbaren
Gläubigerschaden setzt die Widerrechtlichkeit der Schadenszufügung voraus.
Der Geschädigte muss die Verletzung einer Schutznorm nachweisen, welche
nach ihrem Zweck vor (reinen) Vermögensschäden schützen soll (BGE 119 II
127 E. 3). Das Bundesgericht hat in BGE 122 III 176 E. 7c hervorgehoben,
dass die Verletzung von aktienrechtlichen Bestimmungen, welche - wie Art.
725 Abs. 3 aOR - nicht nur im Interesse der Gesellschaftsgläubiger, sondern
auch in demjenigen der Gesellschaft selbst aufgestellt worden sind, zur
Begründung der Widerrechtlichkeit nicht ausreicht. Vielmehr muss sich
der geschädigte Gläubiger im Verhältnis zum fehlbaren Organ etwa auf die
Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten berufen können oder einen
anderen Tatbestand der culpa in contrahendo nachweisen. Das Obergericht
hat deshalb zutreffend festgehalten, dass der Kläger aus der Verletzung
von Art. 725 aOR, einer Bestimmung mit doppelter Schutzfunktion, keinen
unmittelbaren Schadenersatzanspruch gegenüber dem Beklagten ableiten kann.

    c) Der Kläger macht geltend, der Beklagte habe als Organ der
Gesellschaft am 1. November 1989 im Wissen um ihre Überschuldung mit
ihm kontrahiert. Das Verheimlichen des schlechten Vermögensstandes der
Gesellschaft begründe eine unmittelbare Haftung des Beklagten.

    Der Grundsatz von Treu und Glauben verpflichtet die Parteien bei
Aufnahme von Vertragsverhandlungen zur gegenseitigen richtigen Aufklärung
mit Bezug auf erhebliche Tatsachen, welche die Gegenpartei nicht kennt
und nicht zu kennen verpflichtet ist, die aber ihren Entscheid über
den Vertragsabschluss oder dessen Bedingungen beeinflussen können (BGE
121 III 350 E. 6c; 108 II 305 E. 2d; 105 II 75 E. 2a; 102 II 81 E. 2;
BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., N. 45 zu Art. 41 OR). Insbesondere
bei vorbestehendem oder vom Vertrag vorausgesetztem Vertrauensverhältnis
kann eine - unaufgeforderte - Aufklärung über Tatsachen, welche für
den Vertragsabschluss bedeutsam erscheinen, zumutbar sein. Unzumutbar
ist demgegenüber in aller Regel die spontane Aufklärung über die eigene
Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit (GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, Schweiz.
Obligationenrecht, Allg. Teil, 7. Aufl., Zürich 1998, Rz. 863 mit
Hinweisen; VON TUHR/PETER, Schweiz. Obligationenrecht, Band I, Zürich
1979, S. 322; ANDRÉ WAHRENBERGER, Vorvertragliche Aufklärungspflichten
im Schuldrecht, Diss. Zürich 1992, S. 81 f.). Deutsche Lehre und
Rechtsprechung bejahen grundsätzlich eine Offenbarungspflicht des
Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft hinsichtlich des Bestehens
einer Überschuldung (SOERGEL/HUBER, Kommentar BGB, 12. Aufl., Anh. I §
433, Rz. 136).

    Voraussetzung einer Haftpflicht des ins Recht gefassten Organs bildet
- auch nach den vom Kläger zitierten Entscheiden - dessen persönliches
Handeln gegenüber dem betroffenen Gläubiger. Beim Anlagevertrag vom 1.
November 1989 bestand das eigene Handeln des Beklagten jedoch einzig
in dessen Unterzeichnung. Nach den verbindlichen Feststellungen des
Obergerichts wurden ihm die Anlageverträge jeweils aus München zugesandt,
worauf er diese prüfte und unterzeichnet retournierte. Im Rahmen der
Vertragsausfertigung und -abwicklung kam es indes zu keinen Kontakten
zwischen den Prozessparteien. Die Verhandlungen zum Abschluss des
Anlagevertrages führte der Kläger einzig mit den Herren C. oder D.,
welche am 29. September 1989 zu Prokuristen für den Geschäftsbetrieb
der Zweigniederlassung in München bestellt worden waren. Weiter ist auch
erstellt, dass der Kläger eine erste (Teil-)Zahlung von DM 46'775.- am 1.
August 1989, drei Monate vor Vertragsunterzeichnung, der Z. GmbH - welcher
die beiden Prokuristen als Geschäftsführer vorstanden - überwies und in
der Folge auch gegen die beiden Prokuristen Strafanzeige erstattete. Deren
Verhalten kann dem Beklagten jedoch nicht persönlich angerechnet werden. Im
Übrigen finden sich im angefochtenen Urteil keine Feststellungen,
wonach sich der Kläger nach der finanziellen Situation der Gesellschaft
erkundigt hätte oder ihm deren Vertreter darüber falsche Angaben gemacht
hätten. Die blosse Unterzeichnung eines Vertrages durch das Organ einer
überschuldeten Gesellschaft ohne vorangehenden persönlichen Kontakt in
den Vertragsverhandlungen vermag dessen Haftpflicht für Gläubigerschäden
noch nicht zu begründen. Weder sind damit aktienrechtliche Bestimmungen zum
ausschliesslichen Gläubigerschutz verletzt, noch liegt darin ein Tatbestand
der culpa in contrahendo. Das Obergericht hat deshalb bundesrechtskonform
eine persönliche Haftung des Beklagten für den in Streit gesetzten
Schadenersatzanspruch verneint.