Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 353



125 III 353

61. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. September 1999 i.S.
W. AG gegen M.D. (Berufung) Regeste

    Drohung. Art. 29/30 OR.

    Voraussetzungen, unter denen die Drohung mit einer Strafanzeige einen
unter ihrem Eindruck geschlossenen Vertrag einseitig unverbindlich werden
lässt (E. 2). Auf blosse Teilunverbindlichkeit kann sich nur die bedrohte
Partei berufen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- M. D. war während mehrerer Jahre in leitender Stellung für die
Firma W. AG tätig, deren Verwaltungsratspräsident und Hauptaktionär
F. war. Am 26. Juni 1989 kündigte er das Arbeitsverhältnis auf Ende
August 1989. Im Rahmen einer Verwaltungsratssitzung vom 4. Juli 1989 wurde
ihm seitens der Arbeitgeberin unter dem Vorwurf von Vertragsverletzungen
und strafbaren Handlungen fristlos gekündigt, wobei M. D. eine Erklärung
unterzeichnete, in welcher er die Gründe für seine fristlose Entlassung
als sachlich und rechtlich richtig anerkannte und sich mit der Zahlung
des Salärs Mai 1989 als per Saldo aller Ansprüche befriedigt erklärte. Am
Abend des 4. Juli 1989 unterschrieb er ein weiteres ihm vorgelegtes,
von F. handschriftlich aufgesetztes Schriftstück, worin er Fehler
eingestand und sich bereit erklärte, für den Ersatz der entstandenen
Schäden aufzukommen. Tags darauf leisteten M. D. und - nach einem
Telefonat von F. - auch sein Vater F. D. Zahlungen von insgesamt
Fr. 70'000.--. Am 13. und am 14. Juli 1989 unterschrieb M. D. nochmals
zwei Erklärungen, mit denen er wiederum mehrfache Verfehlungen zugestand
und eine Schuldanerkennung in der Höhe von wenigstens Fr. 420'000.-- abgab.

    Am 25. Januar 1990 erstattete die Firma W. AG Strafanzeige gegen M. D.
Daraufhin erklärte dieser mit Schreiben vom 27. und vom 28. März 1990
seine am 4., am 13. und am 14. Juli 1989 abgegebenen Erklärungen als
unverbindlich, mit der Begründung, er sei dazu gezwungen worden. Am 6.
November 1991 erhob er überdies seinerseits Strafklage gegen F. wegen
Nötigung, Erpressung, Urkundenfälschung und falscher Anschuldigung. Das
Strafverfahren gegen M. D. wurde mit Verfügung vom 23. Dezember
1992 eingestellt, jenes gegen F. endete nach einer erstinstanzlichen
Verurteilung wegen Nötigung und Erpressung durch freisprechende Urteile der
Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 3. Oktober 1995 und vom 4.
Juli 1997.

    B.- Mit Klage vom 27. August 1990 forderte die Firma W. AG von
M. D. die Bezahlung von Fr. 317'400.-- nebst Zins, wobei sie ihre Forderung
namentlich auf die in den Erklärungen vom 13. und vom 14. Juli 1989
enthaltene Schuldanerkennung über wenigstens Fr. 420'000.-- stützte. Das
Bezirksgericht Werdenberg wies die Klage am 15. September 1994 ab. Auf
Berufung der Klägerin bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen dieses
Urteil am 19. Juni 1998.

    C.- Das Bundesgericht weist die von der Klägerin eingelegte
eidgenössische Berufung ab, soweit es darauf eintritt, und bestätigt das
kantonsgerichtliche Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach den verbindlichen Feststellungen des Kantonsgerichts
hat der Beklagte die Erklärungen vom 4. Juli 1989 unter dem Eindruck
der Ankündigung unterschrieben, andernfalls der Polizei ausgeliefert
zu werden. Entsprechendes gilt für die Erklärungen vom 13. und vom
14. Juli 1989. Diese hat der Beklagte in Zürich im Büro von Dr. L.,
der Mitglied des Verwaltungsrats der Klägerin war, unterzeichnet. Am
13. Juli 1989 hat sich Dr. L. gegenüber dem Beklagten dahin geäussert,
die Gefängnisse seien voll von Leuten seines Schlages. F. hat damals dem
Beklagten gesagt, wenn er die ihm vorgelegte Erklärung unterschreibe,
sei er ein «freier Mann». Am 14. Juli 1989 hat Dr. L. dem Beklagten für
den Fall der Unterschrift in Aussicht gestellt, es werde dann «von der
Einreichung einer Strafklage abgesehen».

    Das Kantonsgericht hat die erwähnten Äusserungen der Organpersonen
der Klägerin mit Recht als Drohungen im Sinne der Art. 29 und 30 OR
qualifiziert. Beizupflichten ist der Vorinstanz auch darin, dass die
Androhung strafrechtlichen Vorgehens im vorliegenden Fall grundsätzlich als
zulässig gelten muss, weshalb die dadurch veranlasste Schuldanerkennung
des Beklagten nur dann als unverbindlich anzusehen ist, wenn sich die
Klägerin mit ihr übermässige Vorteile hat einräumen lassen (vgl. Art. 30
Abs. 2 OR). Widerrechtlich ist die Drohung mit einer Strafanzeige dann,
wenn ein innerer Zusammenhang zum angestrebten Zweck fehlt, beispielsweise
wenn mit einer Anzeige wegen Steuerhinterziehung gedroht wird, um den
Bedrohten zum Abschluss eines Kaufvertrags zu bewegen. Betrifft die
angedrohte Anzeige jedoch Delikte, durch die der Drohende oder eine ihm
nahestehende Person geschädigt worden ist, so ist die Drohung erlaubt,
solange der Drohende nicht mehr erlangen will, als ihm als Schadenersatz
zusteht (SCHWENZER, Basler Kommentar, 2. Aufl. 1996, N. 9 zu Art. 30 OR;
VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts,
Bd. I, S. 327 f.; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht,
Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 291 Rz. 1252 f.; im gleichen Sinne bereits
BGE 15, 854 E. 4 S. 860 sowie 76 II 346 E. 4b S. 268 f.; anders BUCHER,
Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1988,
S. 226). Vorliegend diente die Androhung strafrechtlichen Vorgehens
der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen, welche die Klägerin aus
denjenigen Handlungen des Beklagten ableitete, die sie als strafbar
erachtete. Der innere Zusammenhang zum angestrebten Zweck ist somit
gegeben. Die Zulässigkeit der ausgesprochenen Drohungen hängt folglich
davon ab, ob die erzwungenen Schuldanerkennungen sich in ihrem Betrag im
Rahmen der Ersatzansprüche halten, die der Klägerin tatsächlich zustehen.

    Das ist jedoch, wie das Kantonsgericht - für das Bundesgericht
wiederum verbindlich (Art. 63 Abs. 2 OG) - feststellt, nicht der
Fall. Im angefochtenen Urteil geht die Vorinstanz in diesem Zusammenhang
zwar zunächst grundsätzlich davon aus, dass der Klägerin tatsächlich
Schadenersatzforderungen gegen den Beklagten zustehen; dies aus der
Überlegung heraus, dass es der Lebenserfahrung widersprechen würde,
wenn ein urteils- und handlungsfähiger Entlassener Erklärungen, wie sie
dem Beklagten vorgelegt worden waren, unterschreiben würde, ohne seiner
Arbeitgeberin unter dem Titel Schadenersatz irgend etwas schuldig zu sein.
In Bezug auf die Höhe der klägerischen Schadenersatzansprüche hält die
Vorinstanz indessen fest, dass jedenfalls die Fr. 100.'000.--, die der
Beklagte in den von ihm unterschriebenen Erklärungen unter dem Titel
«Schädigung des geschäftlichen Rufes und Entgang zukünftigen Gewinns durch
Vereitelung einer seriösen Geschäftspolitik» anerkannt hatte, das Mass
des noch Nachvollziehbaren übersteigen; ob und wieweit auch die übrigen
in den Erklärungen aufgeführten Forderungen von insgesamt Fr. 320'000.--
übersetzt sind, wird im angefochtenen Urteil offen gelassen.

    Gestützt auf diese Feststellungen gelangt das Kantonsgericht zum
Ergebnis, dass die Klägerin dem Beklagten mit den auf Fr. 420'000.--
lautenden Schuldanerkennungen einen übermässigen Vorteil abgenötigt
hatte, weshalb der Beklagte befugt war, sich auf die Unverbindlichkeit
der Erklärungen vom 13. und vom 14. Juli 1989 zu berufen. Dass er den
Willensmangel mit Schreiben vom 27. und vom 28. März 1990 rechtzeitig
geltend gemacht hat (vgl. Art. 31 OR), ist unbestritten.

Erwägung 3

    3.- Die Klägerin wendet allerdings unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 2 OR
ein, die Schuldanerkennung des Beklagten könne nur insoweit ungültig sein,
als die versprochene Leistung übermässig sei, was nach den Feststellungen
der Vorinstanz nur im Umfang von Fr. 100'000.-- zutreffe. Daraus will die
Klägerin ableiten, dass die Schuldanerkennung jedenfalls im Umfang von Fr.
320'000.- ihre Gültigkeit behalten müsse.

    Art. 20 Abs. 2 OR sieht für den Fall, dass nur einzelne Teile eines
Vertrages an einem Nichtigkeitsgrund leiden, die blosse Teilnichtigkeit
vor. Die Vorschrift ist nach herrschender Auffassung auf Verträge, die mit
Willensmängeln behaftet sind, sinngemäss anwendbar (BGE 96 II 101 E. 3a S.
106 f., mit Hinweisen, bestätigt in 99 II 308 E. 4c S. 309; 107 II 144 E. 3
S. 148, 419 E. 3 S. 423 ff.). Bei Verträgen, die aufgrund einer Drohung
geschlossen worden sind, steht die Geltendmachung der Teilunverbindlichkeit
jedoch grundsätzlich nur dem Bedrohten zu. Die Gegenpartei, die gedroht
hat, verdient keinen Schutz, hat sie die einseitige Unverbindlichkeit
des Vertrages doch durch ihr eigenes Verhalten verursacht. Es bleibt
ihr deshalb grundsätzlich verwehrt, den Einwand bloss teilweiser
Unverbindlichkeit zu erheben; sie muss vielmehr die vollständige
Unverbindlichkeit des Vertrages akzeptieren, falls der Bedrohte sich
darauf beruft (HÜRLIMANN, Teilnichtigkeit von Schuldverträgen nach Art. 20
Abs. 2 OR, Diss. Freiburg 1984, S. 100 Rz. 328; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY,
Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 1998, Rz. 869
und 884; a.M. SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 34 zu Art. 29/30 OR). Das
gilt auch, wenn sich die Widerrechtlichkeit der ausgesprochenen Drohung
- wie im vorliegenden Fall - erst daraus ergibt, dass sich der Drohende
übermässige Vorteile hat einräumen lassen (Art. 30 Abs. 2 OR). Wer die
Angst des Bedrohten dazu ausnützt, ihm die Einräumung übermässiger Vorteile
abzunötigen, verdient den Schutz der Teilnichtigkeitsregeln nicht (so für
den verwandten Tatbestand der Übervorteilung HÜRLIMANN, aaO, S. 101 f.
Rz. 332; KRAMER, Berner Kommentar, N. 51 zu Art. 21 OR; vgl. auch BGE 84
II 107 E. 4 S. 112 f. sowie 92 II 168 E. 6c S. 179; a.M. BUCHER, aaO, S.
237; PIOTET, Note sur les conséquences de la lésion, JdT 106/1958,
S. 539). Das Kantonsgericht hat demnach eine Anwendung von Art. 20 Abs. 2
OR zu Recht nicht in Betracht gezogen. Die Klägerin ist nicht befugt,
blosse Teilunverbindlichkeit des Schuldanerkennungs-Vertrages geltend
zu machen, der unter dem Einfluss ihrer Drohungen zustande gekommen ist
und durch den sie sich einen übermässigen Vorteil verschafft hat (zum
Vertragscharakter der Schuldanerkennung: SCHMIDLIN, aaO, N. 35 zu Art.
17 OR; SCHWENZER, aaO, N. 3 zu Art. 17 OR). Das angefochtene Urteil
erweist sich auch in dieser Hinsicht als bundesrechtskonform.

    Es bleibt somit dabei, dass die Klägerin aufgrund der Schuldanerkennung
über Fr. 420'000.--, die in den Erklärungen vom 13. und vom 14. Juli
1989 enthalten ist, nichts vom Beklagten fordern kann. Sie hätte ihre
Schadenersatzforderungen direkt auf das dem Beklagten vorgeworfene
Fehlverhalten stützen und im Einzelnen nachweisen müssen, aus welchen
Verfehlungen des Beklagten ihr welcher Schaden entstanden ist.
Diesbezüglich hat sie jedoch im kantonalen Verfahren offenbar eine
hinreichende Substanzierung ihrer Klage unterlassen.