Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 268



123 I 268

26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5.
November 1997 i.S. H. gegen das Präsidium der Beschwerdekammer in
Strafsachen des Obergerichtes des Kantons Aargau (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK, Art. 5 Ziff. 3 EMRK
(Untersuchungshaft, Fortsetzungsgefahr, Haftdauer).

    Anforderungen an den Nachweis von Wiederholungsgefahr bei schweren
Gewaltdelikten (E. 2, Präzisierung der Rechtsprechung). Grundsätze
für die verfassungsrechtliche Überprüfung der Verhältnismässigkeit der
Untersuchungshaft (E. 3).

Sachverhalt

    H. ist geständig, am 14. Juni 1996 seine Ehefrau sowie seinen
jüngeren Sohn P. im gemeinsamen Wohnhaus mit je zwei Kopfschüssen
getötet zu haben. Er befindet sich deswegen seit 16. Juni 1996 in
Untersuchungshaft. Am 17. Juli 1997 stellte H. beim Präsidenten der
Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichtes des Kantons Aargau ein
Haftentlassungsgesuch. Mit Eingabe vom 22. Juli 1997 erklärte er sich
mit der Sistierung seines Haftentlassungsgesuches bis zum Vorliegen
des psychiatrischen Gutachtens einverstanden. Da sich die Erstellung
der Expertise verzögerte, beantragte H. am 23. September 1997 die
Aufhebung der Sistierung, worauf das Präsidium der Beschwerdekammer das
Haftentlassungsgesuch mit Entscheid vom 25. September 1997 abwies. Gegen
diesen Entscheid gelangte H. mit staatsrechtlicher Beschwerde vom
21. Oktober 1997 an das Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung
der persönlichen Freiheit sowie von Art. 4 BV (rechtliches Gehör,
Willkürverbot) und Art. 5 EMRK, und er beantragt neben der Aufhebung des
angefochtenen Entscheides seine sofortige Haftentlassung. Das Bundesgericht
weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Im angefochtenen Entscheid wird die Fortdauer der
Untersuchungshaft auf den dringenden Tatverdacht gestützt, der
Beschwerdeführer habe seine Ehefrau sowie seinen 19 Jahre alten
Sohn P. umgebracht und seinen zwei Jahre älteren Sohn T. zu töten
versucht. Angesichts der bisher ermittelten Tatumstände und Tatmotive
könne ohne ausführliche psychiatrische Begutachtung die Gefahr, dass
der Beschwerdeführer in Freiheit weitere Gewalttaten verüben könnte,
nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden. "Ohne
nachvollziehbare psychiatrische Schlussfolgerung mit schlüssigem Befund
und ausführlicher Anamnese" bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer
"nach einer Haftentlassung erneut unter psychischen Druck geraten könnte,
etwa wenn seine Erwartungen mit Bezug auf Kontakte zu seinem Sohn T.,
weiteren Angehörigen oder ehemaligen Bekannten, oder aber mit Bezug auf die
strafrechtliche Würdigung des Tatgeschehens durch die Staatsanwaltschaft
und das Gericht enttäuscht würden, um doch noch zur Vollendung seines
einst gefassten Entschlusses zu schreiten".

    b) Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht,
er wendet sich jedoch gegen die Annahme von Fortsetzungsgefahr. Er macht im
wesentlichen geltend, er habe "beabsichtigt, seine ganze Familie sowie sich
selber umzubringen, um den drohenden finanziellen Ruin, die Schmach und das
von ihm befürchtete Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern". Er sei
"kein typischer Wiederholungstäter" und habe seine Ehefrau und seinen Sohn
P. "aus einer psychischen Extremsituation heraus" getötet. Die damalige
"Drucksituation" bestehe heute nicht mehr. Seinem überlebenden Sohn T.
gegenüber habe er "keine Ressentiments", und er sehe "heute keinen Grund
mehr", seinen ursprünglichen Tötungsentschluss zu verwirklichen. Aus einem
Schreiben der Psychiaterin Dr. R. gehe zudem hervor, dass in seinem Fall
weder Gemeingefährlichkeit noch Flucht- oder Rückfallsgefahr vorliege. Zwar
stehe die definitive psychiatrische Expertise noch aus, es sei jedoch
"eher illusorisch zu meinen, ein ausführliches, begründetes Gutachten
sei viel sicherer". Zudem sei dem Beschwerdeführer in Aussicht gestellt
worden, dass er sich nach seiner Haftentlassung in ein Kapuzinerkloster
begeben könne. Er werde dort "in einem geregelten Tagesablauf und in
einem geschützten Rahmen Aufenthalt finden". "Drucksituationen, wie
sie aufgrund der täglichen Probleme entstehen können", würden "dadurch
praktisch ausgeschlossen", zumal er sich auch noch in psychotherapeutische
Behandlung begeben werde.

    c) Nach aargauischem Strafprozessrecht kann aus
sicherheitspolizeilichen Gründen ein Haftbefehl erlassen werden, wenn
die Freiheit des Beschuldigten mit Gefahr für andere verbunden ist,
insbesondere, wenn eine Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit zu befürchten
ist (§ 67 Abs. 2 StPO/AG). Die Anordnung von Haft wegen Fortsetzungsgefahr
kann dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert
wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert
und in die Länge zieht (BGE 105 Ia 26 E. 3c S. 31). Auch die Wahrung
des Interesses an der Verhütung weiterer schwerer Delikte ist nicht
verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1
lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, den Angeschuldigten an der
Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern, somit Spezialprävention, als
Haftgrund an (vgl. nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes
vom 7. Oktober 1992 i.S. R. B., E. 4c = EuGRZ 1992 S. 553 ff., 556). Bei
der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder Vergehen
begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten.

    Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der
persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen
und verhältnismässig sein. Die Anordnung von Untersuchungshaft
wegen Fortsetzungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die
Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden
Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit
der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur
geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine
Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft -
wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur als ultima ratio angeordnet
oder aufrecht erhalten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen
(wie z.B. ärztliche Betreuung, regelmässige Meldung bei einer Amtsstelle,
Anordnung von anderen evtl. stationären Betreuungsmassnahmen etc.) ersetzt
werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen
und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen angeordnet werden (BGE
116 Ia 420 E. 2a-b S. 422 f., E. 3c-d S. 424 f.; 105 Ia 26 E. 3c-d S. 31;
Urteil vom 7. Oktober 1992, E. 4c = EuGRZ 1992 S. 553 ff., 556).

    d) Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung
eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht
im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung
des entsprechenden kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine
Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind,
greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen
der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35 mit
Hinweisen).

    e) Selbst wenn sich im vorliegenden Fall aus den Akten keine sehr
hohe Wahrscheinlichkeit dafür ableiten lässt, dass der Beschwerdeführer
nach seiner Freilassung erneut Menschen töten würde, lässt dies seine
Inhaftierung nicht als verfassungswidrig erscheinen. Bei Gewalttaten
von derartiger Schwere darf an die Annahme von Wiederholungsgefahr
kein allzu hoher Massstab gelegt werden. Anders zu entscheiden
hiesse, die potentiellen Opfer von neuerlichen Verzweiflungs- oder
Kurzschlussreaktionen des Beschwerdeführers einem nicht verantwortbaren
Risiko auszusetzen. Dies muss um so mehr gelten, als der Beschwerdeführer
selbst darlegt, er habe ursprünglich beabsichtigt, auch noch seinen
älteren Sohn T. zu töten; dies sei "zunächst daran" gescheitert, "dass
dieser nicht zuhause war". Später habe er "den Entschluss, seinen älteren
Sohn auch noch zu töten, fallengelassen". Gemäss seinen Aussagen in den
polizeilichen Befragungen ist der Beschwerdeführer am 16. Juni 1996 (um ca.
04.00 Uhr) bewaffnet und mit Tötungsabsicht in das Zimmer seines Sohnes T.
eingetreten. Das Vorhaben sei aber fehlgeschlagen, weil der Sohn aufwachte.

    aa) Die Unberechenbarkeit des Beschwerdeführers findet nicht zuletzt
in den Tötungshandlungen selbst ihren Ausdruck. Nach eigenen Angaben hat
er seine beiden Opfer je mit zwei Kopfschüssen umgebracht. Bei seinem
Sohn P. habe er dabei eine List angewendet, indem er diesen bat, ihm
in den Keller zu folgen, angeblich damit ihm dieser beim Herauftragen
einer schweren Schachtel helfe. Als ihm sein Sohn den Rücken zudrehte,
habe er ihn von hinten in den Kopf geschossen und ihm anschliessend
einen "Fangschuss" in die Schläfe versetzt. Gemäss dem polizeilichen
Schlussbericht vom 16. April 1997 waren die Tötungen minutiös geplant
worden. Ausserdem habe der Beschwerdeführer sorgfältig versucht,
die Spuren zu verwischen, worin eine erschreckende Zielstrebigkeit zum
Ausdruck kommt. Inwiefern die Tötungen seiner Ehefrau und seines Sohnes
P. als einmalige und isolierte Verzweiflungstaten bzw. als Affekthandlungen
qualifiziert werden können und inwieweit die Zurechnungsfähigkeit des
Beschwerdeführers beeinträchtigt war, wird vom erkennenden Strafgericht
zu beurteilen sein. Zusätzliche Aufschlüsse bezüglich Gefährdung von
Drittpersonen können auch vom ausstehenden psychiatrischen Gutachten
erwartet werden. Gewisse Anzeichen für seelische Störungen sind allerdings
schon den vorliegenden Akten zu entnehmen. Dies gilt namentlich für die
Ausführungen des Beschwerdeführers, er habe seine Ehefrau und seinen
Sohn P. unter anderem deshalb getötet, um "das von ihm befürchtete
Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern". Ähnliches gilt für seine
Aussage anlässlich der polizeilichen Befragungen, wonach er bei den
Tötungen auf "das Wohl" seiner Familie bedacht gewesen sei. Dass er in
seinen Tötungsabsichten im übrigen wankelmütig und inkonsequent ist,
manifestiert sich daran, dass er seinen (angeblichen) Suizidvorsatz nach
wenigen Tagen wieder aufgegeben hat.

    bb) Die schriftliche Erklärung der Psychiaterin Dr. R. vom
18. September 1997, wonach "aus psychiatrischer Sicht" beim
Beschwerdeführer "weder von einer Gemeingefährlichkeit, noch von
Fluchtgefahr oder Rückfallgefahr ausgegangen werden muss", wird nicht
näher begründet und ist insofern nicht nachvollziehbar. Den kantonalen
Behörden ist darin zuzustimmen, dass es rechtlich nicht verantwortbar
ist, den Beschwerdeführer ohne sorgfältige psychiatrische Begutachtung,
welche Rückschlüsse auf seinen geistigen und affektiven Zustand erlaubt,
auf freien Fuss zu setzen. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe
"aus einer psychischen Extremsituation heraus" gehandelt. Er beschreibt
diese Extremsituation als "Angstpsychose und Depression", "die genaue
psychiatrische Beurteilung" bleibe "jedoch dem Gutachten vorbehalten". Ohne
dieses Gutachten bzw. ohne sachlich überzeugende psychiatrische Befunde
sind keine begründeten Aussichten (geschweige denn eine Gewähr) dafür
vorhanden, dass der Beschwerdeführer in Freiheit nicht neuerlich in eine
psychische Extremsituation bzw. in einen Zustand der Angstpsychose und
Depression geraten und in der Folge das Leben von Menschen in Gefahr
bringen könnte.

    cc) Bei dieser Sachlage verletzt es weder das ungeschriebene
verfassungsmässige Individualrecht der persönlichen Freiheit noch Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK, wenn die kantonalen Instanzen beim gegenwärtigen
Stand des Verfahrens ausreichend konkrete Anzeichen für das Bestehen von
Fortsetzungsgefahr bejaht haben.

Erwägung 3

    3.- Schliesslich rügt der Beschwerdeführer auch noch eine überlange
Dauer der Untersuchungshaft.

    a) Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in Haft gehaltene Person
Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt oder
während des Verfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Dass eine an
sich gerechtfertigte Haft nicht übermässig lange dauern darf, ergibt sich
auch aus dem ungeschriebenen Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit
(BGE 105 Ia 26 E. 4b S. 32 mit Hinweisen). Eine übermässige Haft stellt
eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt
dann vor, wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer der zu erwartenden
Freiheitsstrafe übersteigt. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit
der Haftdauer ist der Schwere der untersuchten Straftaten Rechnung zu
tragen. Der Haftrichter darf die Haft nur solange erstrecken, als ihre
Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt. Im
weiteren kann eine Haft die zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn
die Strafuntersuchung nicht genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl
das Verhalten der Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten in
Betracht gezogen werden müssen (BGE 116 Ia 143 E. 5a S. 147; 107 Ia 256
E. 2b S. 258). Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichts
und der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Frage,
ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der
konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 107 Ia
256 E. 2b S. 258 mit Hinweisen auf Entscheide der Strassburger Organe;
nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 4. Februar
1994 i.S. Y. Ö. = Plädoyer 1994 Nr. 4, S. 61 ff.). In einem die Schweiz
betreffenden Urteil vom 26. Januar 1993 i.S. W. hat der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte denn auch die Auffassung der Kommission
abgelehnt, wonach Art. 5 Ziff. 3 EMRK eine abstrakte Höchstdauer der Haft
vorsehe (EGMR Série A, vol. 254, Ziff. 30 = EuGRZ 1993 S. 384 f.).

    b) Der Auffassung des Beschwerdeführers, die bisher erlittene
Untersuchungshaft sei unverhältnismässig lang, ist nicht zuzustimmen. Er
befindet sich seit 16. Juni 1996 in Haft. Für einfache vorsätzliche Tötung
sieht das Gesetz Zuchthaus nicht unter fünf Jahren vor (Art. 111 StGB).
Angesichts der mehrfachen Tötung droht ausserdem eine Strafschärfung
nach Art. 68 StGB. Was die Fragen der rechtlichen Qualifizierung der
Tötungshandlungen (vorsätzliche Tötung, Totschlag oder Mord), einer
etwaigen Verminderung der Zurechnungsfähigkeit oder anderer allfälliger
Strafmilderungsgründe betrifft, kann dem Strafurteil des erkennenden
Richters nicht vorgegriffen werden, zumal auch die psychiatrische
Begutachtung noch aussteht. In jedem Fall muss der Beschwerdeführer nach
dem gegenwärtigen Stand der Untersuchung ernsthaft mit einem mehrjährigen
Freiheitsentzug rechnen. Die bisher erstandene Untersuchungshaft von
weniger als siebzehn Monaten ist somit noch nicht in grosse Nähe der im
Falle einer Verurteilung zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion
gerückt. Da der Beschwerdeführer auch nicht darlegt, die kantonalen
Behörden hätten das Verfahren nicht ausreichend vorangetrieben, erweist
sich die Rüge der überlangen Haftdauer als ebenfalls unbegründet.