Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 248



123 I 248

22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 26. September 1997 i.S. X. gegen Regierung des Kantons Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Legalitätsprinzip im Abgaberecht.

    Ungenügende Bestimmtheit einer gesetzlichen Grundlage für eine
Kostenauflage (E. 3).

Sachverhalt

    X. kollidierte am 17. Februar 1996 als Lenker eines Personenwagens
auf der Kantonsstrasse Y.-Z. mit einem Reh. Im Anschluss an diesen Unfall
rückte der Jagdaufseher aus und nahm ein Unfallprotokoll auf. Am 6. März
1996 stellte das Jagd- und Fischereiinspektorat des Kantons Graubünden
X. dafür Kosten von Fr. 124.-- in Rechnung. Nachdem diese Rechnung
unbezahlt geblieben war, erliess das Bau-, Verkehrs- und Forstdepartement
des Kantons Graubünden am 10. Juli 1996 eine Verfügung, wodurch X. der
Betrag von Fr. 124.-- zuzüglich Mahngebühr von Fr. 20.-- und Kosten von
Fr. 84.-- auferlegt wurde. X. erhob dagegen Beschwerde an die Regierung
des Kantons Graubünden, welche diese mit Entscheid vom 24. September
1996 abwies.

    X. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
der Regierung aufzuheben. Er rügt eine Verletzung von Art. 4 BV (formelle
Rechtsverweigerung; Fehlen einer gesetzlichen Grundlage im Abgaberecht).

    Die Regierung des Kantons Graubünden beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage im Abgaberecht
ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ein selbständiges
verfassungsmässiges Recht, dessen Verletzung unmittelbar gestützt auf
Art. 4 BV mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden kann
(BGE 120 Ia 265 E. 2a S. 266, mit Hinweisen). Öffentliche Abgaben bedürfen
grundsätzlich einer Grundlage in einem formellen Gesetz, welches zumindest
den Kreis der Abgabepflichtigen sowie Gegenstand und Bemessungsgrundlagen
der Abgabe selber festlegt. Diese Anforderungen dürfen für gewisse
Kausalabgaben, was die Vorgaben über die Abgabenbemessung (nicht aber die
Umschreibung des Kreises der Abgabepflichtigen und des Gegenstandes der
Abgabe) anbelangt, in bestimmten Fällen herabgesetzt werden, namentlich
dort, wo das Mass der Abgabe durch überprüfbare verfassungsrechtliche
Prinzipien (Kostendekkungs- und Äquivalenzprinzip) begrenzt wird und nicht
allein der Gesetzesvorbehalt diese Schutzfunktion erfüllt (BGE 122 I 61
E. 2a S. 63; 121 I 230 E. 3e S. 235, 273 E. 3a S. 274 f.; 120 Ia 1 E. 3c
S. 3, 171 E. 5 S. 178 f., 265 E. 2a S. 266; ULRICH HÄFELIN/GEORG MÜLLER,
Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2. Aufl., Zürich 1993,
S. 500 f.).

    Im übrigen müssen öffentliche Abgaben, wenn nicht notwendigerweise in
allen Teilen auf der Stufe des formellen Gesetzes, so doch in genügender
Bestimmtheit zumindest in rechtssatzmässiger Form festgelegt sein
(Erfordernis des Rechtssatzes; Urteil des Bundesgerichts vom 9. Juni
1995, ZBl 97/1996 S. 567, E. 5b/aa; HÄFELIN/MÜLLER, aaO, S. 499 f.,
Rz. 2095 und 2100). Die Voraussetzungen für die Erhebung der Abgabe
müssen in den einschlägigen Rechtssätzen so genau umschrieben sein, dass
der rechtsanwendenden Behörde kein übermässiger Spielraum verbleibt und
die möglichen Abgabepflichten für den Bürger hinreichend voraussehbar
sind. Welche Anforderungen dabei zu stellen sind, hängt von der Natur
der jeweiligen Materie ab.

Erwägung 3

    3.- a) Die Art. 36 und 40 des kantonalen Gesetzes vom 3.  Oktober 1982
über das Verfahren in Verwaltungs- und Verfassungssachen (VVG/GR), auf
welche der Kanton die streitige Abgabe stützt, lauten wie folgt:

    "Art. 36   Kostenpflicht

    1 Die Behörden können für ihre Amtshandlungen den Beteiligten Kosten
   auferlegen.

    2 Haben mehrere Beteiligte eine Amtshandlung gemeinsam verlangt oder
   veranlasst, haften sie für die Kosten solidarisch, soweit die Behörde
   nichts anderes entscheidet.

    3 Die Kosten gliedern sich in:

    a) die Staatsgebühr, welche für die Beanspruchung der Behörde erhoben
   wird;

    b) die Auslagen der Kanzlei für mit Amtshandlungen verbundene

    Ausfertigungen und Mitteilungen;

    c) die Barauslagen, die insbesondere Übersetzungskosten,
Expertenhonorare
   und andere durch das Verfahren verursachte Aufwendungen umfassen.

    Art. 40   Bemessung

    1 Der Rahmen für die Staatsgebühr beträgt Fr. 10.-- bis Fr. 20'000.--.

    Die

    Höhe der Gebühren für Ausfertigungen und Mitteilungen sowie den
Ersatz der

    Barauslagen regelt die Regierung durch Verordnung.

    2 Innerhalb des Gebührenrahmens ist die Staatsgebühr nach dem
Umfang und
   der Schwierigkeit der Sache sowie nach dem Interesse und der
   wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Gebührenpflichtigen zu
   bemessen."

    Das Gesetz umschreibt somit die Abgabepflichtigen (die "Beteiligten"),
den Gegenstand der Abgabe ("Amtshandlungen") und die Bemessung in den
Grundzügen, nämlich durch einen Gebührenrahmen und die Kriterien für
dessen Konkretisierung. Umstritten ist jedoch, ob diese Umschreibung
genügend bestimmt ist, um als gesetzliche Grundlage gelten zu können.

    b) Der Begriff der Amtshandlung ist ausserordentlich weit. Er umfasst -
in der Auslegung, die ihm die Regierung offenbar gibt und die jedenfalls
zum Wortlaut des Gesetzes nicht im Widerspruch steht - alle amtlichen
Verrichtungen des Staates, insbesondere auch Verrichtungen ausserhalb
eines förmlichen Verfügungsverfahrens. Das Gesetz geht damit weiter als
beispielsweise das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1974 über Massnahmen zur
Verbesserung des Bundeshaushalts (SR 611.010), dessen Art. 4 Gebühren für
"Verfügungen und Dienstleistungen der Bundesverwaltung" vorsieht und
der vom Bundesgericht als hinreichende gesetzliche Grundlage für eine
diese Gebührenpflicht näher spezifizierende bundesrätliche Verordnung
betrachtet wurde (nicht publiziertes Urteil vom 21. Oktober 1996 i.S. R.,
E. 4c). Der Begriff der Amtshandlung umfasst nicht nur Verfügungen und
vom Bürger in Anspruch genommene Dienstleistungen, sondern auch jedes
faktische Verwaltungshandeln, selbst dann, wenn es ohne oder gegen den
Willen eines Beteiligten erfolgt. Darunter können auch Tätigkeiten fallen
wie der Einsatz der Polizei für die Verkehrsregelung, die Personenrettung
oder die Aufklärung von Delikten, ferner die Durchführung von Kontrollen
und Inspektionen jeder Art. Unter den Begriff der Amtshandlung fallen
aber auch Tätigkeiten wie das Erteilen von Unterricht an kantonalen
Unterrichtsanstalten, die Betreuung von Fürsorgeempfängern, die
Berufsberatung oder die Vornahme von Steuerveranlagungen. Der Umfang der
abgabepflichtigen Tätigkeiten geht damit weit über die Ersatzvornahmen
zur Beseitigung polizeiwidriger Zustände hinaus, deren Kosten gestützt auf
Bestimmungen wie etwa Art. 59 des Umweltschutzgesetzes vom 7. Oktober 1983
(USG; SR 814.01) oder Art. 54 des Gewässerschutzgesetzes vom 24. Januar
1991 (GSchG; SR 814.20) dem Verursacher überbunden werden (vgl. BGE 122
II 26 E. 4a S. 30, mit Hinweisen).

    c) Ebenso vage ist die Umschreibung der Abgabepflichtigen: "beteiligt"
kann eine sehr unbestimmte Zahl von Personen sein, beispielsweise
alle Teilnehmer an einer Demonstration oder an einem sportlichen oder
kulturellen Anlass. "Beteiligt" sein können auch Personen, die ohne
eigenes Verschulden und sogar ohne jegliches Aktivwerden Anlass für eine
Amtshandlung wurden, wie zum Beispiel Opfer von Naturkatastrophen oder
Gewaltverbrechen. Der Begriff der "Beteiligten" geht damit ebenfalls weit
über den Begriff des "Verursachers" im Sinne von Art. 59 USG und ähnlichen
Bestimmungen hinaus. Dabei ist zu beachten, dass die allgemeine Festlegung
des Verursacherprinzips in Art. 2 USG nicht als genügend bestimmte,
unmittelbar anwendbare gesetzliche Grundlage für eine Kostenauflage
betrachtet wird, sondern nur als Prinzip, das der Konkretisierung durch die
nach Art. 48 USG zu erlassenden Gebührenregelungen bedarf (vgl. BGE 119 Ib
389 E. 4 S. 393 ff.; HERIBERT RAUSCH, Kommentar zum Umweltschutzgesetz,
N. 12 zu Art. 12; URSULA BRUNNER, ebenda, N. 22 zu Art. 48). Der Begriff
ist auch bedeutend unbestimmter als die Umschreibung "entreprises exerçant
des activités économiques et commerciales bénéficiant des retombées
directes ou indirectes du tourisme", welche in BGE 122 I 61 E. 2c S. 65
f., wenn auch mit Zögern, noch als genügend bestimmt betrachtet wurde.

    d) Die Bemessungsgrundlagen sind wohl betragsmässig mit einem oberen
und einem unteren Rahmen festgelegt. Der Rahmen ist indessen sehr weit
gefasst (Fr. 10.-- bis Fr. 20'000.--). Im Bereich von Gerichtsgebühren
hat freilich das Bundesgericht derart weitgefasste formellgesetzliche
Gebührenrahmen nicht beanstandet (BGE 106 Ia 249 E. 2/3 S. 251 ff.), weil
offene gesetzliche Regelungen in der Schweiz in diesem Bereich verbreitet
sind und ihre Anwendung (welche durch Verordnungen oder Richtlinien
immerhin regelmässig näher normiert ist) einer neutralen Gerichtsinstanz
obliegt, welche mit solchen Ermessensentscheiden vertraut ist, und
weil die Angemessenheit der im Einzelfall auferlegten Gebühren anhand
der verfassungsmässigen Grundsätze der Kostendeckung und der Äquivalenz
überprüfbar ist (vgl. BGE 120 Ia 171 E. 4 S. 175 ff.; 106 Ia 249 E. 3a
S. 252 f.). Vorliegend fehlt es jedoch an jeglicher rechtssatzmässigen
Konkretisierung auch auf unterer Stufe. Zudem ist der personelle und
sachliche Anwendungsbereich viel unbestimmter als bei Gerichtsgebühren.

    e) Hinzu kommt schliesslich, dass nach dem Wortlaut von Art. 36 Abs. 1
VVG/GR die Behörden die Kosten auferlegen "können". Es liegt somit im
Ermessen der Behörden, ob und für welche Amtshandlungen sie Kosten erheben
wollen. Vorliegend wurde denn auch während Jahren auf die Kostenauflage
für die Erfassung von Wildunfällen verzichtet, bis schliesslich das
zuständige Departement sich zu einer "Praxisänderung" entschloss.

    f) Gesamthaft belässt die vorliegend herangezogene gesetzliche
Grundlage den rechtsanwendenden Behörden einen übermässig weiten
Spielraum. Sie weist nicht die erforderliche Bestimmtheit auf, um auch
für Amtshandlungen ausserhalb des Bereiches von Verfügungsverfahren,
auf den sich das Gesetz vorab bezieht (vgl. Art. 1 VVG/GR), unmittelbar
Grundlage für Gebühren- oder Kostenersatzverfügungen bilden zu können. Dass
im Einzelfall sowohl das Kostendeckungs- als auch das Äquivalenzprinzip
zu beachten sind und diese Schranken vorliegend eingehalten sein dürften,
vermag diesen Mangel nicht zu beseitigen. Sämtliche spezialgesetzlichen
Gebührenregelungen würden obsolet, wenn die Verwaltung auch dort, wo
keine besondere Gebühr vorgesehen ist, subsidiär gestützt auf Art. 36
VVG/GR nach eigenem Gutdünken Kosten auferlegen könnte. Öffentliche
Abgaben müssen, wenn nicht generell bzw. in allen Teilen in einem
formellen Gesetz, so doch zumindest in einem Rechtssatz niederer
Stufe derart bestimmt vorgesehen sein, dass alle wesentlichen Elemente
rechtssatzmässig festgelegt sind. Das ist vorliegend, soweit gestützt
auf Art. 36 und 40 VVG/GR für Amtshandlungen beliebiger Art Gebühren
und Kosten auferlegt werden sollen, nach dem Gesagten nicht der Fall;
es sind weder die abgabepflichtigen Tatbestände und Personen noch
die Höhe der Abgaben in genügender Weise umschrieben. Die Art. 36
und 40 VVG/GR können damit keine hinreichende Rechtsgrundlage für
die streitige Abgabeverfügung darstellen. Die Kostenauflage an die
"Beteiligten" ist ein legitimer politischer Grundsatz, aber für sich
allein noch kein hinreichend bestimmter Rechtssatz. Ob eine hinreichende
gesetzliche Grundlage dadurch geschaffen werden könnte, dass die fehlenden
näheren Bestimmungen auf dem Verordnungsweg festgelegt werden, oder ob
notwendigerweise das Gesetz selber präzisiert werden müsste, richtet sich
innerhalb der bundesverfassungsrechtlichen Schranken zunächst nach dem
kantonalen Staatsrecht und ist hier nicht weiter zu prüfen. Vorliegend
fehlt es an einer derartigen, von einem zuständigen Organ ausgehenden
Verordnungsregelung, und die vorhandenen formellgesetzlichen Normen in
Art. 36 und 40 VVG/GR reichen mangels genügender Bestimmtheit - jedenfalls
für sich allein - als gesetzliche Grundlage für die Erhebung der streitigen
Gebühr nicht aus. Der angefochtene Entscheid verletzt daher Art. 4 BV
(Legalitätsprinzip im Abgaberecht).