Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 IV 78



123 IV 78

12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. März 1997
i.S. K. gegen T. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 1 Abs. 1 OHG, Art. 8 Abs. 1 lit. a und Art. 9 OHG; Zivilansprüche
des Opfers im Strafverfahren, unverhältnismässiger Aufwand der
vollständigen Beurteilung; Entscheid dem Grundsatz nach und Verweisung
des Opfers im übrigen an das Zivilgericht.

    Der Beizug von 3 Unterlagen, welche für die vollständige Beurteilung
der Zivilansprüche notwendig sind, stellt für das Strafgericht keinen
unverhältnismässigen Aufwand dar. Es darf deshalb nicht die Ansprüche nur
dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im übrigen an das Zivilgericht
verweisen. Möglichkeit, vorerst nur im Strafpunkt zu urteilen und die
Zivilansprüche später zu behandeln (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte am 12./13. Juni
1996 T. wegen mehrfachen Mordes und mehrfacher Sachbeschädigung zu einer
lebenslänglichen Zuchthausstrafe.

    In bezug auf die geltend gemachten Zivilforderungen erkannte es unter
anderem folgendes:

    5b. Hinsichtlich des von K. geltend gemachten Versorgerschadens wird
T. dem Grundsatz nach für haftbar erklärt. Zur Ausmittlung der Schadenshöhe
wird der Verletzte an den Zivilrichter verwiesen.

    B.- K. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
Ziffer 5b des Urteils des Obergerichtes aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz verurteilte den Beschwerdegegner unter
anderem wegen der Ermordung von M. am 24. Februar 1994, der Mutter
des Beschwerdeführers. Dieser wurde im Jahr 1991 geboren. Seine Eltern
M. und V. lebten damals noch als Konkubinatspaar zusammen. Im Jahr 1993
trennten sich die Eltern des Beschwerdeführers.

    Vorinstanzlich machte der Beschwerdeführer einen Versorgerschaden
von Fr. 232'277.75 nebst Zins zu 5% seit dem 24. Februar 1994 geltend. Die
Vorinstanz geht davon aus, es sei anzunehmen, dass V. gestützt auf einen
Unterhaltsvertrag monatliche Unterhaltsbeiträge für die finanziellen
Bedürfnisse seines Sohnes leistete, obwohl dies aus den Akten und
den eingereichten Beweismitteln nicht hervorgehe. Nach der Ermordung
von M. habe V. seinen Sohn zu sich genommen und für ihn gesorgt. Am
20. April 1994 sei ihm die elterliche Gewalt übertragen worden. Die
Vormundschaftsbehörde habe festgehalten, dass er in der Lage sei, für den
Sohn zu sorgen und ihn zu betreuen. Während V. seiner Arbeit nachgehe,
pflege und erziehe dessen Mutter das Kind.

    Die Vorinstanz legt dar, wenn der Beschwerdeführer ausschliesslich vom
Versorgungsaufwand und dem mutmasslichen Einkommen der getöteten Mutter
ausgehe, könne ihm nicht gefolgt werden. Denn der Beschwerdeführer lebe
inzwischen bei seinem Vater, welcher den Versorgungsaufwand erbringe. Der
Schaden des Beschwerdeführers bestehe somit aus den monatlichen
Unterhaltsbeiträgen, welche V. an M. vor deren Tod als Elternteil ohne
elterliche Gewalt erbracht habe. Zu berücksichtigen wäre zudem die Rente
der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sowie eine allfällige
Rente nach dem Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge (BVG), auf die der Beschwerdeführer als Halbwaise
Anspruch habe. Diesbezügliche Unterlagen habe der Beschwerdeführer jedoch
nicht eingereicht. Deshalb sei dem Grundsatz nach festzuhalten, dass er
Anspruch auf den Ersatz des Schadens habe, den er durch die Tötung seiner
Mutter erleide. Entsprechend sei der Beschwerdegegner dem Grundsatz
nach haftbar zu erklären. Zur Ausmittlung der Schadenshöhe sei der
Beschwerdeführer an den Zivilrichter zu verweisen, da die vollständige
Beurteilung des Anspruchs einen unverhältnismässigen Aufwand verursachen
würde.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, es wäre für die Vorinstanz
ein leichtes gewesen, die drei Unterlagen, die nach ihrer Auffassung zur
Beurteilung des Versorgerschadens notwendig waren, rechtzeitig von ihm
zu verlangen.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer
von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) soll mit diesem Gesetz
unter anderem die Rechtsstellung der Opfer verbessert werden. Dieser
Zweckartikel dient der Auslegung der Bestimmungen des Opferhilfegesetzes
(Botschaft zum OHG, BBl 1990 II, S. 977).

    Grundsätzlich untersteht die Regelung des Strafverfahrens der
kantonalen Verfahrenshoheit. In Art. 8 OHG werden jedoch einzelne
Mindestgarantien verankert. Nach Art. 8 Abs. 1 OHG kann sich das Opfer
am Strafverfahren beteiligen. Es kann insbesondere seine Zivilansprüche
geltend machen (lit. a). Damit wird das Recht des Opfers gewährleistet,
Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche, die auf die Straftat zurückgehen,
im Strafverfahren geltend zu machen. Das Opfer soll in einem einfachen
und möglichst raschen Verfahren ohne grosses Kostenrisiko zu seinem
Recht kommen und nicht neben dem oft belastenden Strafprozess noch in
einem zweiten Prozess mit den Folgen der Straftat konfrontiert werden
(Botschaft, aaO, S. 986).

    Als Hauptmangel der kantonalen Strafverfahrensrechte wurde aus der
Sicht des Opfers die Tatsache angesehen, dass die Verweisung seiner
Schadenersatz- und Genugtuungsforderung auf den Zivilweg nach nahezu
allen Verfahrensordnungen ohne besonders strenge Voraussetzungen möglich
war. Meist genügte es, dass die Forderung nicht ausgewiesen war oder ihre
Beurteilung Schwierigkeiten bereitet hätte. Unter diesen Umständen ist es
verständlich, dass die Adhäsionsklage von vielen Gerichten ohne sachliche
Notwendigkeit auf den Zivilweg verwiesen wurde, sobald ihre Beurteilung das
Strafverfahren kompliziert hätte. Faktisch lief dies in zahlreichen Fällen
auf die Abweisung der Zivilforderung hinaus, da das Opfer angesichts der
oft zweifelhaften Einbringlichkeit solcher Forderungen, der erheblichen
Kostenrisiken eines Zivilprozesses und eventuell auch der Furcht vor
einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem Täter auf eine Zivilklage
verzichtete. Mit dem Opferhilfegesetz sollte dies soweit als möglich
verhindert werden (Botschaft, aaO, S. 987 f.).

    Art. 9 OHG bestimmt folgendes: Solange der Täter nicht freigesprochen
oder das Verfahren nicht eingestellt ist, entscheidet das Strafgericht auch
über die Zivilansprüche des Opfers (Abs. 1). Das Gericht kann vorerst
nur im Strafpunkt urteilen und die Zivilansprüche später behandeln
(Abs. 2). Würde die vollständige Beurteilung der Zivilansprüche einen
unverhältnismässigen Aufwand erfordern, so kann das Strafgericht die
Ansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im übrigen
an das Zivilgericht verweisen. Ansprüche von geringer Höhe beurteilt es
jedoch nach Möglichkeit vollständig (Abs. 3).

    Art. 9 OHG geht vom Grundsatz aus, dass das Strafgericht auch
über die Zivilansprüche des Opfers entscheidet, solange der Täter
nicht freigesprochen oder das Verfahren nicht eingestellt ist. Um eine
ungebührliche Komplikation und Verzögerung des Verfahrens im Strafpunkt
zu vermeiden, werden jedoch verschiedene Milderungen dieses Grundsatzes
vorgesehen. Art. 9 Abs. 2 OHG gibt dem Gericht die Möglichkeit, über
den Zivilpunkt erst nach dem Entscheid über den Strafpunkt in einem
gesonderten Verfahrensschritt, jedoch noch im gleichen (Straf-)Verfahren zu
entscheiden. Diese Lösung trägt dem Interesse des Opfers an einem Entscheid
im Zivilpunkt ohne Anstrengung eines zweiten Prozesses Rechnung, ohne
jedoch gleichzeitig den Entscheid im Strafpunkt zu verzögern. Überdies
entspricht sie dem Gebot der Verfahrensökonomie, da der Entscheid im
Zivilpunkt vom gleichen Richter bzw. dem gleichen Spruchkörper gefällt
wird, der mit der Sache schon im ersten Verfahrensschritt befasst war
(Botschaft, aaO, S. 988).

    Eine andere Einschränkung des in Art. 9 Abs. 1 OHG erwähnten
Grundsatzes ergibt sich aus Art. 9 Abs. 3 OHG. In komplizierten Fällen
muss es dem Strafgericht möglich sein, die Zivilklage dem Grundsatz nach
gutzuheissen, d.h. ohne den Betrag der Forderung zu bestimmen, und das
Opfer im übrigen an das Zivilgericht zu verweisen. Das Strafgericht
kann sich so gegebenenfalls lange und schwierige Untersuchungen über
Fragen ersparen, die keinen Einfluss auf den Entscheid im Strafpunkt
haben (z.B. die genaue Berechnung einer Invalidenrente; vgl. dazu die
französische Fassung der Botschaft zum OHG, Feuille fédérale 1990 II,
S. 936/7; in der deutschen Fassung fehlt dieser Abschnitt zu Art. 9
Abs. 3 OHG).

    b) Im Schrifttum wird ausgeführt, die Verweisung an das Zivilgericht
nach Art. 9 Abs. 3 OHG sei für Fälle bestimmt, in denen die Ermittlung
der Schadenshöhe schwierig sei und besondere Beweismassnahmen erforderte
(BERNARD CORBOZ, Les droits procéduraux découlant de la LAVI, Semaine
judiciaire 1996, S. 87; vgl. auch BGE 122 IV 37 E. 2c).

    Bei komplizierten Schadenersatzforderungen sei eine Beurteilung
lediglich dem Grundsatz nach nicht nur zulässig, sondern im Interesse
des Opfers geradezu geboten. Letzteres sei in der Regel dann der Fall,
wenn komplizierte Forderungen des Opfers über zu kapitalisierende
Erwerbsausfälle oder Versorgerschäden unter Berücksichtigung
allfälliger Regressforderungen Dritter zur Beurteilung stünden. Das
Gericht dürfe jedoch nicht leichthin lediglich dem Grundsatz nach
entscheiden. Unverhältnismässig sei dabei auch nicht jeder zusätzliche
Aufwand, der dem Gericht bei der Beurteilung der Berechtigung der Höhe
der Zivilforderung entstünde. Massstab zur Beurteilung der Frage, ob
der Aufwand unverhältnismässig sei oder nicht, bilde das Kriterium, ob
zur Beurteilung der Forderung ein derart umfangreiches Beweisverfahren
notwendig wäre, dass sich die richterliche Urteilsfindung ungebührlich
lange verzögern würde (GOMM/STEIN/ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz,
Bern 1995, Art. 9 N. 9).

    Da mit Art. 9 Abs. 3 OHG das Opfer in Abweichung einer
wesentlichen Stossrichtung des Opferhilfegesetzes, wonach das Opfer
seine Zivilansprüche auf dem im Vergleich zum Zivilprozess einfachen
Weg des Strafverfahrens adhäsionsweise geltend machen können soll,
auf den Zivilweg verwiesen wird, sei von dieser Verweisung restriktiv
Gebrauch zu machen. Das entscheidende Kriterium zur Beurteilung der
Verhältnismässigkeit des Aufwandes gemäss Art. 9 Abs. 3 OHG bilde die
Komplexität und die erforderliche Zeit zur Abklärung der geltend gemachten
Zivilforderungen. Je komplexer diese Forderungen seien und je mehr Zeit
die betragsmässige Festsetzung der Zivilforderungen beanspruche, desto
unverhältnismässiger sei der entsprechende Aufwand. Fehlten allein noch
wesentliche Grundlagen zur betragsmässigen Bestimmung der Zivilansprüche
wie beispielsweise Arztzeugnisse oder Gutachten über den Grad der Schwere
einer Körperverletzung, so sei gestützt auf die Regelung von Art. 9
OHG, welche einen vom Opfer angestrengten Zivilprozess zur Durchsetzung
seiner Zivilforderungen so weit als möglich verhindern wolle, gemäss
Art. 9 Abs. 2 OHG und nicht gemäss Art. 9 Abs. 3 OHG vorzugehen (BANTLI/
KELLER/WEDER/MEIER, Anwendungsprobleme des Opferhilfegesetzes, Plädoyer
5/1995, S. 37 f.).

    c) Die Rechtsauffassung der Vorinstanz in bezug auf die  Berechnung
des Versorgerschadens steht hier ausser Streit. Danach besteht der Schaden
des Beschwerdeführers aus den monatlichen Unterhaltsbeiträgen, welche
V. vor dem Tod von M. erbrachte. Zu berücksichtigen sind im weiteren
die Hinterlassenenrente der AHV sowie eine allfällige Rente nach BVG,
auf die der Beschwerdeführer als Halbwaise Anspruch hat.

    Zur Beurteilung der Höhe des Versorgerschadens fehlten der Vorinstanz
somit lediglich drei Unterlagen. Der Beizug dieser Unterlagen stellte für
die Vorinstanz keinen unverhältnismässigen Aufwand dar. Sie durfte deshalb
den Beschwerdegegner nicht nach Art. 9 Abs. 3 OHG nur dem Grundsatz nach
haftbar erklären und den Beschwerdeführer im übrigen an das Zivilgericht
verweisen. Soweit der Beizug der fehlenden Unterlagen nicht ohne
Verzug möglich war, wäre die Vorinstanz mit Blick auf die Zielsetzung
des Opferhilfegesetzes, die Rechtsstellung des Opfers zu verbessern und
insbesondere die Durchsetzung seiner Zivilansprüche im Strafverfahren so
weit als möglich zu erleichtern, vielmehr gehalten gewesen, zunächst nach
Art. 9 Abs. 2 OHG vorzugehen, d.h. vorerst nur im Strafpunkt zu urteilen
und die Zivilansprüche später zu behandeln. Falls sich dann nach Eingang
der drei Unterlagen bei der Beurteilung der Zivilansprüche im zweiten
Verfahrensschritt gezeigt hätte, dass die vollständige Beurteilung
einen unverhältnismässigen Aufwand erfordert, hätte die Vorinstanz
immer noch über die Ansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und den
Beschwerdeführer im übrigen an das Zivilgericht verweisen können.

    Die Beschwerde wird deshalb gutgeheissen und Ziffer 5b Satz 2 des
angefochtenen Urteils aufgehoben.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen).