Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 572



123 II 572

59. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Januar 1997
i.S. R. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG und Art. 17 Abs. 1 lit. b SVG, Art.
33 Abs. 2 VZV; Entzug des Führerausweises; Massnahmeempfindlichkeit
infolge beruflicher Angewiesenheit.

    Bei der Beurteilung der beruflichen Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug
zu führen, ist dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen
und deshalb zu berücksichtigen, in welchem Masse der Fahrzeugführer
infolge beruflicher Notwendigkeit stärker als der normale Fahrer vom
Entzug betroffen ist. Im übrigen ist die Frage, ob die berufliche
Notwendigkeit eine Herabsetzung der "Einsatzmassnahme" rechtfertigt,
bei der Gesamtbeurteilung aller für die Dauer des Entzuges wesentlichen
Merkmale zu prüfen (E. 2c).

Sachverhalt

    Am 30. April 1995 um 02.55 Uhr lenkte R. seinen Geschäftswagen in
W. mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,57 Gewichtspromille. Überdies
fehlte am linken hinteren Rad der Reifen, der linke Aussenspiegel war
abgeschlagen, und die vordere Stossstange, an der Gräser und Stauden
hingen, war beschädigt.

    Deswegen verurteilte ihn das Bezirksamt W. mit Strafverfügung vom
17. Januar 1996 wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand, Widerhandlung
gegen die Vorschriften über die Betriebssicherheit von Motorfahrzeugen
sowie weiterer Delikte zu drei Wochen Gefängnis bedingt und zu einer
Busse von Fr. 800.--. Der Entscheid erwuchs in Rechtskraft.

    Mit Verfügung vom 13. Juli 1995 entzog das Strassenverkehrs- und
Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen R. den Führerausweis gestützt auf
Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG (SR 741.01) sowie Art. 29 i.V.m. Art. 16 Abs. 2
SVG für die Dauer von sieben Monaten.

    Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen wies einen
dagegen erhobenen Rekurs am 20. August 1996 ab.

    Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
der Verwaltungsrekurskommission aufzuheben und die Dauer des
Führerausweisentzuges angemessen, höchstens aber auf vier Monate,
herabzusetzen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe bei der
Festsetzung der Führerausweisentzugsdauer zu Unrecht seine erhöhte
Massnahmeempfindlichkeit nicht berücksichtigt. Im übrigen würden
keine besonders erschwerenden Umstände vorliegen, die den Entzug des
Führerausweises für die Dauer von sieben Monaten rechtfertigen würden.

    Die Vorinstanz führt aus, der Beschwerdeführer sei mit einer
Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,57 Gewichtspromille und damit
in erheblich angetrunkenem Zustand gefahren. Er habe einen Personenwagen
mit nur drei Reifen und ohne linken Aussenspiegel gelenkt. Dadurch habe
er die anderen Verkehrsteilnehmer erheblich gefährdet und grob schuldhaft
und verantwortungslos gehandelt. Erschwerend sei zu berücksichtigen,
dass er sich einen mittelschweren Rausch angetrunken habe, obschon
er gewusst habe, dass er sich später wieder an das Steuer seines
Fahrzeuges setzen werde. Massnahmeerhöhend sei ferner der erheblich
getrübte automobilistische Leumund des Beschwerdeführers zu werten.
Eine berufliche Notwendigkeit zur Führung eines Motorfahrzeuges sei nicht
substantiiert geltend gemacht worden und deshalb zu verneinen. Dagegen sei
der Besuch eines Kurses für erstmals alkoholauffällige Motorfahrzeuglenker
massnahmemindernd zu berücksichtigen. Da nach der st. gallischen Praxis
eine Blutalkoholkonzentration von 1,57 Gewichtspromille den Entzug des
Führerausweises für die Dauer von sechs Monaten nach sich ziehe, sei
aufgrund der erschwerenden Umstände ein Führerausweisentzug von sieben
Monaten angemessen.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV (SR 741.51) richtet sich die Dauer
des Entzugs vor allem nach der Schwere des Verschuldens, dem Leumund
als Motorfahrzeugführer sowie nach der beruflichen Notwendigkeit, ein
Motorfahrzeug zu führen.

    b) Die Vorinstanz hat sowohl die geschaffene Verkehrsgefahr als
auch das Verschulden des Beschwerdeführers als erheblich eingestuft; auf
ihre insofern zutreffenden Ausführungen kann verwiesen werden (Art. 36
lit. a OG). Aufgrund der im angefochtenen Entscheid angeführten Umstände
liegt die ausgesprochene Massnahmedauer im Rahmen des vorinstanzlichen
Ermessens, sofern die Verwaltungsrekurskommission zu Recht eine berufliche
Angewiesenheit des Beschwerdeführers auf den Führerausweis verneinen
durfte.

    c) Aus der Stellungnahme des Beschwerdeführers an das
Strassenverkehrsamt geht hervor, dass er zu 100% im Aussendienst einer
Spielwaren-Handelsfirma arbeite und eine interne Beschäftigung nicht
möglich sei. Sein Einsatzgebiet umfasse die ganze Ostschweiz im weitesten
Sinne (Engadin bis Aargau). Aufgrund des sofortigen Ausweisentzuges sei er
gezwungen gewesen, einen Chauffeur für seine Fahrdienste zu verpflichten,
was ihn finanziell in kaum tragbarer Weise belaste. Ferner geht aus dem
ebenfalls dem Strassenverkehrsamt eingereichten Arbeitszeugnis hervor,
dass ihn sein Arbeitgeber im Falle eines längeren Führerausweisentzuges
entlassen werde.

    Auch bei der Beurteilung der beruflichen Angewiesenheit
eines Fahrzeuglenkers auf den Führerausweis ist dem Grundsatz
der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen. Im unveröffentlichten
Entscheid vom 3. April 1995 i.S. W. hielt das Bundesgericht fest, dass
berufsmässig auf ein Motorfahrzeug angewiesene Fahrzeugführer wegen der
grösseren Massnahmeempfindlichkeit in der Regel schon durch eine kürzere
Entzugsdauer wirksam gewarnt und von weiteren Widerhandlungen abgehalten
werden. Einem solchen Lenker soll der Führerausweis deshalb weniger lang
entzogen werden als einem, der sein Fahrzeug beruflich nicht benötigt,
selbst wenn beide Fahrzeugführer das gleiche Verschulden trifft. Die
Reduzierung bemisst sich danach, in welchem Masse der Fahrzeugführer
infolge beruflicher Notwendigkeit stärker als der normale Fahrer von der
Massnahme betroffen ist (E. 3b am Ende).

    Theoretisch bejaht die Verwaltungsrekurskommission die berufliche
Notwendigkeit, ein Fahrzeug zu führen nur, "wenn die Ausübung des
Berufes durch den Führerausweisentzug materiell verboten wird, wie dies
z.B. bei einem Berufschauffeur der Fall ist, der für die Fahrdienste
entschädigt wird", oder "wenn die Unmöglichkeit, ein Fahrzeug zu führen,
einen solchen Einkommensverlust oder so beachtliche Kosten verursachen
würde, dass diese Massnahme offensichtlich als unverhältnismässig
erscheint". Bei der Beurteilung des konkreten Falles erschöpft sich
dann aber die Prüfung auf die Frage, ob dem Rekurrenten durch den
Ausweisentzug die Berufsausübung materiell verboten werde. Wenn dies
nicht der Fall sei, komme eine Herabsetzung der Entzugsdauer nicht in
Frage. Bei einer solchen Beurteilung wird das pflichtgemässe Ermessen
nur unvollständig ausgeübt. Zum einen gibt es nicht bloss Fahrzeuglenker,
die beruflich entweder überhaupt nicht oder dann wie Berufsfahrer auf den
Ausweis angewiesen sind; vielmehr ist der Übergang fliessend, d.h. es
gibt auch Betroffene, bei denen eine leicht oder mittelgradig erhöhte
Massnahmeempfindlichkeit gegeben ist. Zum andern ist nicht bereits bei der
Beurteilung des Grades der Massnahmeempfindlichkeit endgültig festzulegen,
ob dieses Element für sich allein zu einer Herabsetzung der Entzugsdauer
führt. Erst bei der Gesamtbeurteilung aller wesentlichen Elemente ist
zu prüfen, ob die berufliche Angewiesenheit auf den Führerausweis für
sich allein oder allenfalls zusammen mit andern Beurteilungsmerkmalen
(z.B. einem günstigen automobilistischen Leumund) eine Herabsetzung der
"Einsatzmassnahme" rechtfertigt. Nur ein solches Vorgehen garantiert
eine pflichtgemässe Ermessensausübung und vermag auch dem Grundsatz
der Verhältnismässigkeit zu genügen (vgl. SCHAFFHAUSER, Grundriss
des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band III, N. 2441 ff.,
insbes. N. 2447).

    Im hier zu beurteilenden Fall verneinte die Vorinstanz die berufliche
Angewiesenheit des Beschwerdeführers auf den Führerausweis mit dem Hinweis,
der Beschwerdeführer habe sie nicht substantiiert dargetan. Davon kann
jedoch keine Rede sein. Der Beschwerdeführer hat in seiner Stellungnahme an
das Strassenverkehrsamt begründet, weshalb er als Aussendienstmitarbeiter
beruflich auf ein Fahrzeug angewiesen sei. Er hat dies mit einem
Arbeitszeugnis seines Arbeitgebers belegt. Die Vorinstanz hätte deshalb
auf seinen Einwand materiell eingehen und die Verneinung der beruflichen
Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen, begründen müssen. Indem sie
dies unterliess, hat sie Bundesrecht verletzt. Bei der Neubeurteilung wird
die Vorinstanz unter anderem Gelegenheit haben zu bestimmen, in welchem
Grade der Beschwerdeführer beruflich auf den Führerausweis angewiesen ist,
um dann dieses Element bei der Gesamtbeurteilung im Sinne der genannten
Grundsätze in ihre Überlegungen einfliessen lassen zu können.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen)